Die Soziologin Cornelia Koppetsch hat mit »Die Gesellschaft des Zorns« ein brillantes, theoriegesättigtes Buch vorgelegt, das aufzeigt, wie unser politisches, gesellschaftliches, wirtschaftliches System in seinen Institutionen, Hierarchien und Ritualen dem Ende entgegengeht.
Mit enthusiastischem Lob wurde Cornelia Koppetsch für ihr neuestes Buch zur »Gesellschaft des Zorns« überhäuft. Von Edith Kresta wurde sie als eine Soziologin, „die ihr Handwerk kann“, bezeichnet. Philipp Manow, von dem erst kürzlich eine exzellente Studie über »Die politische Ökonomie des Populismus« erschien, schwärmt von diesem Buch als »großen Wurf« und schreibt, dass Cornelia Koppetsch die Veränderungen in der Tiefenstruktur von Gesellschaften und damit den Rechtspopulismus überzeugend erklärt. Oder, um abschließend Adam Soboczynski in einer Besprechung in der ZEIT zu zitieren: »Kaum jemand erklärt die Umbrüche unserer Zeit so glänzend wie die Soziologin Cornelia Koppetsch«.
Der Untertitel ihres Buches zeigt die zwei Leitmotive ihrer Studie auf: Es geht um den Rechtspopulismus im Globalen Zeitalter. Beides – Rechtspopulismus und das globale Zeitalter – sind bekannte Motive, deren grundsätzlich neue Dimensionen die Autorin beschreibt. Globales Zeitalter verweist darauf, dass der nationalstaatliche Rahmen zu kurz oder in Gänze nicht mehr greift. Wir leben in einer grundsätzlich neuen Qualität von Globalisierung, in einer Verstrickung und Interdependenz von Migrationsströmen von Kapital, Arbeit, Kultur, Natur und Menschen, die gesetzte Grenzen ignorieren, überwinden, umgehen, überrennen oder von ihnen nur kurzzeitig aufgehalten werden. In diesem globalen Zeitalter ist auch der Rechtspopulismus ein grundsätzlich Neuer. Die Vergleiche der neuen Rechten mit den kurzfristigen Erfolgen wie der NPD, den Republikanern oder der Schill-Partei tragen nicht. Auch die Erfolgsrezepte, die damals gegen sie angewandt wurden, würden nicht mehr wirken, so Koppetsch. Zum Teil vollzieht sich in Deutschland eine nachholende Modernisierung im Vergleich zu anderen Ländern wie Frankreich, den Niederlanden oder den skandinavischen Ländern, in denen der Rechtspopulismus seit ein, zwei Jahrzehnten als politische Größe sichtbar ist. Die Erklärung, warum sich diese nachholende Modernisierung im Moment vollzieht, zählt zu den intellektuellen Meisterleistungen von Cornelia Koppetsch.
Die deutsche Soziologin ist doppelt dazu geeignet. Sie legte in vielen ihrer soziologischen Arbeiten ein Maß der Renitenz gegenüber gängigen Erklärungen an den Tag, die ihr erfrischend neues und befruchtend anderes Denken belegen. Schon 1999 verwies sie in »Die Illusion der Emanzipation« darauf, wie die latenten Geschlechtsnormen wirksam blieben, gerade auch in den gendermäßig so aufgeklärten Milieus. Der Stolz der Männer, sich aktiver in die Haushaltsführung und Kinderbetreuung einzubringen als ihre eigenen Väter, korreliert nur in geringem Maße mit einem tatsächlich ausgeglichenen, gleichberechtigten Niveau an Unterstützung im Haushalt und für die Familie. Das Eingeständnis, dass der Prinz, Mann und Gatte nur in geringerem Umfange weniger Machogleich wie die Vorgängergeneration agiert, gestehen nur die wenigsten Frauen öffentlich ein. Gleichberechtigter soll es schon sein, wenigstens nach außen. Und so gehen Schätzungen immer noch davon aus, nach denen im Durchschnitt 80 Prozent der Frauen täglich Hausarbeit verrichten und nur ein Drittel aller Männer. Lebenslügen zu entlarven kann sie, die Darmstädter Soziologin. Ebenso geht sie mit einem komplexen und breit ausgefächerten Theorieangebot an ihre Studien. Sie erweist sich als ebenso exzellente Schülerin von Pierre Bourdieu wie gekonnte Anwenderin von dessen Theorieangeboten. Wie sie mit dem »Prozess der Zivilisation« von Norbert Elias die wachsende Kluft von Lebensstil und -weisen, von Normen und Werten von Systembegünstigten und -verlierern beschreibt, gehört zu den intellektuellen Highlights von »Die Gesellschaft des Zorns«.
Cornelia Koppetsch hat ein brillantes Buch vorgelegt, ein theoriegesättigtes Buch, eins mit großer Lust an der Komplexität der Welt, eine Welterklärungsstudie, bei der der Untertitel beinahe in die Irre führt. Es geht nicht nur um Rechtspopulismus, es geht um ein politisches, gesellschaftliches, wirtschaftliches System, das nicht mehr funktioniert, weder in seine Institutionen noch in seinen Hierarchien noch Ritualen. Alle wissen, etwas geht zu Ende, und keiner weiß, was kommt. Diese grundsätzliche Offenbarung, diese Analyse ist Koppetsch gelungen.
Vier Dinge habe ich wesentlich neu gelernt, bzw. mir ist in der Anordnung von »Die Gesellschaft des Zorns« aufgegangen, wie grundlegend anders sich die Welt von 2019 zu meinen Bezügen von 1989, 1998, 2001 und 2008 darstellt.
Erstens: Der Wandel, den wir erfahren, ist grundlegend und er schafft grundlegend Neues! Er betrifft die Dimensionen Gesellschaft, Wirtschaft, Politik. Er wirkt bereits, so dass es kein Zurück mehr ins Gestern geben wird! Die konservativen oder besser gesagt reaktionären Hoffnungen auf nationalstaatlich homogene Gesellschaften, politische Institutionen wie Volksparteien oder vom Weltmarkt abgekoppelte und erfolgreiche Ökonomien sind intellektuelle Totgeburten.
Zweitens: Der Wandel ist deshalb so grundlegend, weil die Veränderungen vor Jahrzehnten angelegt wurden. Koppetsch verweist auf die Jahre 1968, als sich neue soziale Bewegungen formierten; auf 1979, als Maggie Thatcher sich von den Prinzipien des Neoliberalismus leiten ließ und begann, Großbritannien umzubauen; zufällig im gleichen Jahr, als die Islamische Revolution im Iran startete; auf das Jahr 1989, das für den Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs und damit für das Ende der bipolaren Weltordnung steht; und schließlich auf 11. September 2001, der erste Kulminationspunkt gerade genannter Entwicklungen. Die Reaktion seitens der USA und ihrer damaligen Verbündeten auf diesen Terrorangriff in den Folgejahren löste die Krise nicht, sondern offenbarte stattdessen das Versagen des Westens der Weltöffentlichkeit. 2001 ist daher auch der Startpunkt für ein Rennen um eine neue, eine multipolare Ordnung – ein Rennen, das noch nicht entschieden ist, aber das den europäischen Westen nicht als Sieger sehen wird.
Die genannten Jahreszahlen repräsentieren für Koppetsch zwei große Trends: «Einerseits stehen 1968 (die Neuen sozialen Bewegungen), 1979 (die Deregulierung der Märkte) und 1989 (der Fall der Mauer) für die schrittweise Erosion der Politik der organisierten, nationalstaatlich verankerten Moderne und den Aufstieg des globalen Liberalismus westlicher Prägung. Betrachtet man andererseits 1979 (die Islamische Revolution), 1989 (das Erstarken antiliberalistischer Systemantagonismen) und 2001 (der Anschlag auf die Twin Towers) zusammen, so symbolisieren sie den Aufstieg der rechtsnationalen und rechtspopulistischen Gegenbewegungen, die sich gegen den globalen Liberalismus positionieren und sich auf die Nation als partikulare kulturelle Gemeinschaften berufen.«
Eine Jahreszahl habe ich bei dieser Aufzählung vermisst: den 6. August 1991. An diesem Tag stellte Tim Berners-Lee in einem Beitrag zur Newsgroup alt.hypertext das Projekt World Wide Web als Hypertext-Dienst im Internet vor und löste damit den Beginn der weltweiten Digitalisierung aus. Digitalisierung ist nicht nur relevanter Bestandteil aller von Koppetsch genannten Entwicklungen, sie verwebt diese Trends miteinander, sie beschleunigt sie und schafft damit etwas grundlegend Neues. Digitalisierung ist Katalysator und Ausdruck des von ihr genannten Kulturwandels. In etlichen Dimensionen auch Grundlage. Eine Überarbeitung der Studie sollte diesen Aspekt integrieren und die Interdependenzen mit den von Koppetsch genannten Entwicklungen aufzeigen.
Drittens: Die Darmstädter Soziologin verweist zurecht permanent auf permanent gegenläufige Entwicklungen. Die globale Öffnung seit 1989 führte zu einer Hypermodernisierung sozialer Institutionen einerseits, andererseits beförderte sie die Rückkehr hin zu archaischen Formen der Vergemeinschaftung. Öffnung und Schließung, das Globale und das Nationale als widerstreitende, gegenläufige Prozesse, die Koppetsch als eine spezifische Form der Re-Figuration von Räumen, Grenzen und Zugehörigkeiten verstanden wissen möchte. Anhand dieser Achsen – Öffnung vs. Schließung, global vs. National – vollziehen sich die politischen Neuordnungen, die die Erklärungsachse des 19. und 20. Jahrhunderts – rechts vs. links – obsolet machen.
Viertens: Bei diesen Entwicklungen gibt es keine Guten und keine Bösen. Die Autorin des Buches, der Verfasser dieser Besprechung und vermutlich die Leserinnen und Leser dieser Rezension sind heillos und unheilvoll in diese Neufigurationen verwickelt. Es sind wir, die diese Entwicklungen antreiben, beschleunigen und uns wie anderen schön reden. Wir haben alle den Strukturwandel der Moderne, den Andreas Reckwitz in »Gesellschaft der Singularitäten« beschrieben hat, verinnerlicht und internalisiert. Unser Glaube, einzigartig zu sein, besonders kreativ und einfallsreich, innovativ und ideenreich, ist kein singulärer Ausdruck, sondern Überzeugung einer mobilen, vom Wandel profitierende Klasse. Abgehängt wird zugleich ein Dienstleistungsproletariat, die unsere Schnäppchen auf Amazon oder Zalando, unsere Lunches und Dinners bei Lieferando oder Deliveroo nach Hause liefern. Mit vollen Mägen und gut gefüllten Kleiderschränken singt es sich leicht die Internationale. Diejenige, die in Reaktion darauf das Nationale anrufen, sind auch diejenigen, die durch solche Prozesse unter die Räder geraten oder fürchten, dass ihnen das bevorsteht. Es ist die besondere Leistung von Cornelia Koppetsch, diese Widersprüchlichkeiten aufzuzeigen, es weit komplexer aber zu erklären als auf diesen wenigen simplifizierenden Zeilen.
Was heißt das alles Politisch? Darauf hat Cornelia Koppetsch erst einmal keine Antwort. Und das ist wohl aktuell die beste, die sie finden konnte. Wir befinden uns in Prozessen der Re-Figurationen, es ist ein epochaler Umbruch, eine »Konterrevolution gegen Globalisierungs- und Transnationalisierungsprozesse«. Diesen fundamentalen gesellschaftlichen Veränderungen – und dies wissen wir von der ersten Industriellen Revolution, von den politischen Umbruchszeiten im 19. und 20. Jahrhundert – müssen wir politisch begegnen.
Dass das System nicht mehr funktioniert, wissen wir nun. Wie wir unsere Institutionen wie Parteien und Parlamente, Verbände und andere intermediäre Institutionen umbauen, denen wir unsere politische Kultur verdanken, wie wir neue, funktionierende Hierarchien und Rituale etablieren, wird im Zentrum politischer Differenzen und Auseinandersetzungen stehen. Angenehme Jahre kommen nicht auf uns zu. Wir werden die Existenz von rechtspopulistischen Parteien in Deutschland, Europa und in anderen Teilen der Welt akzeptieren lernen. Wir müssen zugleich lernen, ihnen klüger als bisher zu begegnen: Intellektuell wie emotional. »Wenn die Zeichen nicht trügen, dann stehen uns konfliktreiche Zeiten bevor. Das muss nicht zwangsläufig eine schlechte Nachricht sein.«