Erzählungen, Literatur

Wo das Leben schließt, kann Literatur öffnen

© Thomas Hummitzsch

Für den Gastland-Auftritt auf der Frankfurter Buchmesse hat Norwegens Kronprinzessin Mette-Marit gemeinsam mit Knausgård-Entdecker Geir Gulliksen einen lesenswerten Band mit zwölf literarischen Stimmen aus ihrem »Heimatland« zusammengestellt, der tief in die norwegische Seele blicken lässt.

Was ist typisch für Norwegen? Worin besteht die norwegische Identität? Und was macht die Literatur aus dem Land von Ibsen, Hamsun und Knausgård so interessant? Es sind Fragen wie diese, die den Ausgangspunkt dieser Anthologie mit zeitgenössischen Stimmen aus Norwegen bilden. Versammelt sind darin die Texte von ein Dutzend »existenziellen Desperados« – so zumindest bezeichnet Norwegens Kronprinzessin Mette-Marit die hier versammelten Autorinnen und Autoren im einleitenden Herausgebergespräch mit Geir Gulliksen – die stilistisch, motivisch und dramaturgisch auf vielfältige Weise das Norwegische ausloten.

Die Frage nach der eigenen Identität treibt in Zeiten der Globalisierung nicht nur die Norweger um. Umso überraschender ist es, dass nur der Text des erst 1983 geborenen Demian Vitanza einen konkreten politischen Bezug hat. Dafür blickt er ins Oslo des Jahres 2032 und lässt Kronprinz Hakon – den Gatten von Herausgeberin Mette-Marit – sein Leid angesichts der Entfremdung von seinem eigenen Volk klagen. Denn dieses Norwegen ist nach rechts gedriftet, Nationalisten bestimmen den Kurs und die norwegischen Werte wie Natur, Nachbarschaftshilfe, Gemeinschaft und Vertrauen gehen den Bach runter. Aber so ganz will Vitanza auf Optimismus nicht verzichten, etwas Weltläufiges klingt an, wenn der Kronprinz darauf hinweist, dass Norwegens Schicksal mit dem Meer verbunden ist. »Und das Meer verbindet die Welt.«

I.K.H. Kronprinzessin Mette-Marit, Geir Gulliksen: Heimatland … und andere Geschichten aus Norwegen. Aus dem Norwegischen von Paul Berf, Ulrich Sonnenberg, Ina Kronenberger, Uli Aumüller, Gabriele Haefs, Elke Ranzinger, Hinrich Schmidt-Henkel. Luchterhand Verlag 2019. 328 Seiten. 20,- Euro. Hier bestellen

In die Welt hinaus hat es die Familie der US-amerikanischen Schriftstellerin Siri Hustvedt getrieben, die Frau von Paul Auster lebt in New York. Mit der Perspektive des von Außen auf ihr Heimatland blickenden Insiders schreibt sie über die zwei Norwegen, die ihr Leben prägen, nämlich das erinnerte der nach Amerika ausgewanderten Norweger und das von ihr erinnerte Kindheitsnorwegen. Viel miteinander zu tun haben sie nicht, gemein ist ihnen nur das depressive Schweigen, das sich ihrer Ansicht nach durch die Erfahrungswelten der Norweger zieht.

Angesichts dieser Aussichten ist der autobiografische Rückzug, den nicht wenige norwegische Autoren so fabelhaft beherrschen, ein naheliegendes Mittel, das sich auch hier wiederfindet. Tomas Espedal erkundet in der gebundenen Form eines Langgedichts sein Aufwachsen als »Distelkind«, das von niemandem geliebt wurde und in schwierigen Verhältnissen dennoch unaufhörlich wuchs. Die Erfahrung, das ungeliebte Kind zu sein, prägt ihn bis heute und lässt ihn die Falschheit seiner Gegenwart umso stärker spüren.

Karl Ove Knausgård nutzt die eigene Biografie, um der dunklen Vergangenheit Norwegens auf die Spur zu kommen. In seinem titelgebenden Text geht er der eigenen Begeisterung für Norwegens beliebtesten Autor Knut Hamsun nach, der sich lange nach seiner Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis im Jahr 1920 als glühender Verehrer Adolf Hitlers geoutet hat. Kann man Hamsuns Bücher noch vorbehaltlos lesen? Knausgårds Antwort fällt diplomatisch aus: »Wo das Leben geschlossen ist oder das Leben schließt, kann die Literatur offen sein oder öffnen.«

Vor diesem Hintergrund bilden die Texte von Ole Robert Sunde über Stolpersteine in Oslo, die für ihn das chaotisch gewordene Echo »nach einem ungeheuren Verbrechen, das einfach nicht zu begreifen ist« darstellen, und Dag Solstad über den Austausch der norwegischen Geschichte mit einem geschichtsvergessenen Volk, das sich nur für das Hier und Jetzt interessiert, eine Art literarisches Gegengewicht. Während Sunde die Geschichtsvergessenheit der Norweger anklagt und ihr die Geschichten der aus Norwegen deportierten Juden entgegensetzt, geht Solstad sogar soweit, seinen Landsleuten zu attestieren, dass sie von der Gegenwart besessen seien, »dem ewigen Jetzt, ohne jegliche Vergangenheit.«

Die Anthologie nimmt Norwegens Kronprinzessin Mette-Marit zum Anlass, als Botschafterin ihrer Heimat aktiv zu werden. Die begeisterte Leserin – »Ich empfinde es so, dass mein Leben wahrer ist, wenn ich viel lese« – reist mit dem Buch und seinen Autoren im Literaturzug zur Frankfurter Buchmesse. Diese Art Bildungsangebot praktiziert sie schon seit Jahren in Norwegen. Kinder und Jugendliche lädt sie dort ein und liest ihnen vor, während der Zug durch Norwegen rauscht. So holt man die Welt zu den Lesern und bringt die Leser in die Welt.

Andere Texte dieses Bandes erzählen Liebes- und Familiengeschichten, nehmen die Gesellschaft als Ganzes oder Mikrokosmos wie die Familie in den Blick. Wenke Mühleisens Erzählerin, eine ältere Professorin, verliert sich etwa im Anblick eines Studenten und erinnert sich an ihre unschuldige Verliebtheit in ihren Literaturlehrer. Helga Flatland erzählt die Geschichte einer Familie, in der alle Männer als Schneeräumer arbeiten und die Traumata der harten Winter von Generation zu Generation weitergeben. Agnes Ravatn sortiert anspielungsreich die Bruchstücke dessen, was einmal das Vertrauen zweier Menschen war, und dringt mit ihrem Text tief in die Psyche ihrer Leser ein. Und Maria Navarro Skaranger sucht in der »Zeit nach dem Vater« Antworten auf die Frage, wie es zum Zerbrechen der Familie kommen konnte. In diesen Texten lernt man mindestens so viel über die Norweger wie über sich selbst. Verbunden sind diese Geschichten über die unheilvolle Atmosphäre, als würde sich aus der Mitte dieser Erzählungen ein Schatten ausbreiten. »Wir müssen keine Angst vor dem Leben haben«, sagt Mette-Marit im Herausgebergespräch zu Geir Gulliksen, der als Verleger, Lektor und Schriftsteller eine der wichtigsten literarischen Figuren des Landes ist. »Denn wenn das, was wir am meisten fürchten, tatsächlich eintrifft, gibt es nichts mehr, wovor wir uns wirklich fürchten müssen.«

Von der Ehrlichkeit, die dies ermöglicht, handeln die hier versammelten Geschichten. Von der Wahrhaftigkeit der Autoren gegenüber sich selbst, der Verletzbarkeit ihre Figuren und der Vielschichtigkeit der norwegischen Literatur.