Literatur, Roman

Die Last der Biografie

© Thomas Hummitzsch

Woher kommen wir? Was prägt uns? Was hinterlassen wir? Große Fragen wie diese bilden das Leitmotiv des vielstimmigen Familienromans »Antonio« der brasilianischen Autorin Beatriz Bracher, für den sie den wichtigsten Literaturpreis ihres Landes erhalten hat.

Es gibt bestimmte Momente im Leben, in denen man näher an die Wahrheit der eigenen Familiengeschichte heranrücken und die sprichwörtlichen Leichen aus dem familieneigenen Keller holen will. Benjamin befindet sich in mehrfacher Hinsicht in einer solchen Situation. Zum einen liegt seine Großmutter im Sterben und zum anderen wird er gerade Vater. Und er spürt, das etwas Grundlegendes in seiner Familie nicht stimmt. Anders sind die Kälte und das jahrelange Schweigen, die schweren Traumata und menschlichen Verluste nicht zu erklären, die von Generation zu Generation weitergereicht werden. Um die Geister, die seine Familie umtreiben, zu verstehen, muss er tief eintauchen in die verworrene Geschichte seiner Ahnen.

Von seinen Urgroßeltern weiß er, dass sie zwei ehrgeizige und gut situierte deutschstämmige Brasilianer waren, denen Leistung und standesgemäße Repräsentation wichtig waren. Ihr Sohn Xavier verstieß gegen die Standesregeln, als er sich in die blutjunge Lili verliebt, die er in der Anwaltskanzlei kennenlernte, in der sie gemeinsam arbeiteten. Ihre Wege trennen sich, als ihr Sohn Benjamin dos Santos Kremz nur wenige Tage nach der Geburt stirbt. Ihre Liebe kann die Last des Verlustes nicht tragen. Jahre später wird Xavier mit seiner zweiten Frau Isabel vier Kinder bekommen: Flora, Henrique, Leonor und Teodoro. Sein Leben lang wird Xavier die Aussage vor sich hertragen: »Ich habe fünf Kinder, aber eines ist gestorben.« Der jüngste Sohn Xaviers, Teodoro, erinnerte sich mit Befremden an diesen Satz des Vaters, weil er die Bedeutung des verstorbenen großen Bruders deutlich machte. »Im Herzen meines Vaters scheint er [Benjamin] mehr Raum einzunehmen als wir alle zusammen.« Die stille Abwesenheit des verstorbenen Familienmitglieds belastet Xavier, seine Ehe und die Beziehung zu seinen Kindern.

Bei Teodoro führt das dazu, dass er ausbricht und von einer Reise mit einigen Freunden nicht wieder nach Hause zurückkehrt. Er bricht die Kontakte zu seiner Familie ab, sucht einen Neuanfang fern der familiären Schatten und findet ihn in der einige Jahre älteren, Wärme ausstrahlenden Leninha. Doch das Glück währt nicht lang. Sie stirbt bei der Geburt des gemeinsamen Sohnes Benjamin dos Santos Kremz. Dies ist der Benjamin, der sich für die Leichen im Keller seiner Familie interessiert, von denen bis jetzt erst zwei genannt sind und bis zum Ende des Romans noch weitere hinzukommen. Dazu gehören auch Benjamins Großvater Xavier und sein Vater Teodoro, deren Beziehung wie keine zweite belastet scheint.

Der Tod von Xaviers erstem Sohn Benjamin und der Tod von Teodoros Frau Leninha bilden die zwei großen Katastrophen in dieser Familiengeschichte. Beide sind zu Beginn von Beatriz Brachers faszinierendem Roman Antonio schon lange Vergangenheit, wie überhaupt alle Dramen, die sich in diesem Buch abspielen. Bereits auf den ersten Seiten erfährt der Leser davon. Man schmeißt jedoch keinen Stein ohne Wellen und schon gar nicht solche schweren Brocken. Die beiden Katastrophen bilden um sich herum ein Wellenmeer von Verletzungen und Enttäuschungen, die sich wie konzentrische Kreise ausdehnen und nach und nach jedes Familienmitglied ereilen. Natürlich begegnen und kreuzen sich die Wellenlinien irgendwann, legen sich übereinander und bilden neue Katastrophenzentren aus.

Beatriz Bracher: Antonio. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Maria Hummitzsch. Verlag Assoziation A. 188 Seiten. 18,- Euro. Hier bestellen
Beatriz Bracher: Antonio. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Maria Hummitzsch. Verlag Assoziation A. 188 Seiten. 18,- Euro. Hier bestellen

Beatriz Bracher hat bereits zahlreiche Erzählungen und Drehbücher geschrieben und ist Mitbegründerin der Literaturzeitschrift 34 Letras. Ihrer dichten und intensiven Literatur verdankt sie den Ruf, eine der bedeutendsten Gegenwartsautorinnen Brasiliens zu sein. Antonio ist der dritte ihrer vier Romane und zugleich der erfolgreichste. 2007 hat sie für dieses klug komponierte Familiendrama den wichtigsten brasilianischen Literaturpreis, den Prêmio Jabuti, erhalten. Im Jahr darauf wurde Antonio als einer der drei besten Romane im portugiesischen Sprachraum ausgezeichnet.

Die eingangs beschriebene Familiengeschichte ist Teil des Gewesenen, das es zu verstehen gilt, um in eine neue Zukunft gehen zu können. Die Toten auf dem Rücksitz dieser Familiengeschichte geben dem vielstimmigen und mehrdimensionalen Roman seine Form vor. Erst haben sie sich selbst in den Wahnsinn geflüchtet, dann ihre Familien in jenen getrieben und schließlich ihren Konflikt mit ins Grab genommen. So müssen andere von den Katastrophen erzählen. Diese anderen sind Benjamins Großmutter Isabel, Teodoros bester Freund Raul sowie Xaviers langjähriger Freund Haroldo. Aus den Perspektiven ihrer Erinnerungen werden die verschiedenen Bruchlinien, die sich durch die Familie ziehen, nachgezeichnet. Wie in einem Kaleidoskop fügen sich die ständig wechselnden, sinnsuchenden Rückblicke der drei Erzähler wie Kristalle zu einem Bild, in dem die Grenzen zwischen den einzelnen Teilen weiterhin zu sehen sind.

Benjamin will diese Familiengeschichte verstehen, um seinen Sohn Antonio vor den zahlreichen Verstrickungen zu bewahren. Dieser Lösungsprozess ist zugleich auch eine Suche nach der eigenen Identität. Dass sowohl er als auch sein Sohn Antonio in diesem Roman vollkommen abwesend sind, mag dafür sprechen, dass beider Identität vollkommen von der Familiengeschichte überlagert wird. Es ist zugleich aber auch das sichtbare Zeichen dafür, dass sie nicht mehr Teil dieses endlosen Dramas sein sollen.

Souverän hantiert Beatriz Bracher mit den unterschiedlichen Perspektiven und erzählt eindringlich von den Zerwürfnissen einer Familie. Sprachlich wechseln Brachers Erzähler ständig zwischen Poesie und Sachlichkeit, Ironie und Traurigkeit, Witz und Verbitterung. Geschickt wirft sie schon auf den ersten Seiten ihr dichtes erzählerisches Netz aus, dem sich der Leser nicht mehr entziehen kann: »Demnach war deine Mutter, Elenir, mit deinem Großvater verheiratet und hatte mit ihm einen Sohn, der gestorben ist, der erste Benjamin. Ein Irrsinn, von dem auch ich erst jetzt erfahren habe, als Leonor mir vor ihrer Abreise davon erzählte. Eine wirklich verrückte Geschichte. Für deinen Großvater war Elenir Lili, für deinen Vater Leninha.« In der versetzten Liebe ein und derselben Frau ist zwar die Mutter des Konflikts zwischen Vater und Sohn benannt, aber die thematische Komplexität des Romans ist damit aber noch nicht erfasst. Es geht hier auch um Standesdünkel, gesellschaftspolitische Fragen und Zeitgeschichte, um enttäuschte Erwartungen, bröckelnde Loyalitäten und persönliche Haltungen. Diese Geschichte »ist weitaus komplizierter als eine Liebesgeschichte«.

Aus den erinnerten Wahrnehmungen des Familienlebens von innen (Isabel) und außen (Raul und Haroldo) sowie von einer Generation (Isabel und Haroldo) zur nächsten (Raul) kristallisieren sich die einzelnen Fragmente der zahlreichen Konflikte heraus, die alle auf ihre Weise von der »Erschaffung und Auflösung der Illusion einer Familie, die anders war,« erzählen. Im dichten Geflecht der deutenden und sinnsuchenden Rückblicke werden die Lesenden in die psychologischen Tiefen dieser Familiengeschichte hinabgezogen, wie man es aus den Romanen der israelischen Autorin Zeruya Shalev kennt.

Bracher betreibt dabei ein ebenso reizvolles wie verwirrendes Spiel mit Personen und Perspektiven. Von der ersten Seite an dreht sich das Personen-, Generationen- und Perspektivenkarussell auf höchstem Niveau, so dass ein leichtes Schwindelgefühl zu den Leseerfahrungen auf den ersten Seiten dieses vielstimmigen und multidimensionalen Romans gehört. Der ständige Wechsel führt zu dem trügerischen Eindruck, dem Roman fehle eine inhärente Ordnung. Der Plot baut sich nicht strukturiert auf, sondern er entsteht Stück für Stück an verschiedenen Stellen – wie ein Bild in einem Kaleidoskop. Das Spiel mit den Perspektiven eröffnet darüberhinaus das Nachdenken über Wahrheit und Lüge in der Erzählung, denn jeder Ausflug in die von den Erzählern gedeutete Psyche der einzelnen Figuren stellt natürlich nur eine Möglichkeit von vielen dar.

Eine neutrale Erzählperspektive gibt es in Brachers Roman, abgesehen von den letzten Seiten, nicht. Die drei Erzähler sind Teil des familiären Dramas und berichten aus ihrer jeweiligen Betroffenheit und Interessenlage heraus davon. Dabei agieren sie derart raumgreifend, dass die irrwitzige Kunstfertigkeit dieses Romans davon fast überdeckt wird. Seine Größe und Eindringlichkeit erhält Antonio in seiner Realitätsnähe, die in jeder einzelnen Figur angelegt ist: «es ergibt alles einen Sinn, wenn auch einen erbärmlichen, wir sind keine Literatur, mein Kind.«

Das Resultat dieser wahrhaftigen Literatur ist das sensible Psychogramm einer Familie, die sich seit Generationen im freien Fall befindet. Der unweigerliche Aufschlag bildet hier nicht eine weitere Katastrophe, sondern die Möglichkeit, sich aus dem Geflecht der Verstrickungen zu befreien.

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