J. J. Abrams und Dough Dorst präsentieren mit »S. – Das Schiff des Theseus« klassische Odyssee, Detektivgeschichte und literarische Verschwörungstheorie in einem. Ihr haptisches Werk ist das Meta-Buch des Jahres, das wie kein anderes vorführt, wo die Grenzen des eBooks liegen.
Der Schriftsteller V. M. Straka ist ein Mysterium, es gibt kaum gesicherte Erkenntnisse über die Identität des Verfassers von Werken wie Das Wunder von Braxenholm, Die Flügelschuhe des Emydio Alves oder Coriolis. Über fünfzig Jahre nach seinem Verschwinden werden gut ein Dutzend Personen hinter dem Pseudonym V. M. Straka vermutet. Thomas Pynchon ist ein Witz dagegen. Der Schlussstein seines 19 Romane umfassenden Oeuvres trägt den mythologischen Titel Das Schiff des Theseus und ist die Hauptfigur in S. – Das Schiff des Theseus von Drehbuch-Autor J. J. Abrams und Co-Autor Dough Dorst.
Wer sich fragt, wie ein Buch die Hauptfigur eines Romans sein kann, der hat bislang noch wenig Kontakt mit so genannten Metabüchern gehabt. Dabei handelt es sich um Werle, in denen sich Aufmachung und Inszenierung der Handlung über die Erzählung erheben und das Medium Buch sowie seine Möglichkeiten erschließen. Paradebeispiele sind etwa Arno Schmidts Lebensprojekt Zettels Traum oder die Werke seiner zeitgenössischen Erben, zu denen neben Mark Z. Danielewski (Das Haus, Only Revolutions) und Reif Larsen (Die Karte meiner Träume) nun auch die beiden Autoren von S. – Das Schiff des Theseus gehören.
J. J. Abrams ist aktuell in aller Munde, da er die Regie für den neuen Star-Wars-Film geführt hat. Dough Dorst seinerseits hatte vor diesem Romanprojekt insbesondere als mehrfacher Jeopardy-Gewinner von sich reden gemacht. Dass sein Debütroman Alive in Necropolis 2008 den zweiten Platz beim PEN Award der Hemingway Foundation gewann, ist in seinem Wikipedia-Eintrag nur eine Randnotiz. Aber Randnotizen werden hier noch eine wichtige Rolle spielen.
In ihrem kühnen Roman S. – Das Schiff des Theseus, der in Titel, Handlung und Interpretation Anleihen bei Plutarchs gleichnamigen philosophischem Rätsel nimmt, reizt dieses Duo die Möglichkeiten des Mediums Buch in bislang einmaliger Weise aus. Sie erzählen die Geschichte zweier Studenten, nennen wir sie der Einfachheit halber Eric und Jen, die sich an den Seitenrändern des 1949 veröffentlichten Romans »Das Schiff des Theseus« aus der Feder des mysteriösen Autors V. M. Straka begegnen und dort auf die Suche nach dessen Identität machen. Eric ist ein selbsternannter Straka-Experte, der an der Böswilligkeit seines Doktorvaters – einem gewissen Professor Moody, der neben einem Dutzend anderer Straka-Wahnsinnigen ebenfalls auf der Suche nach dem Geheimnis hinter dem sagenumwobenen Autor ist und dem fast jedes Mittel recht zu sein scheint, um als erster über die Ziellinie zu laufen – scheiterte. Moodys Vorlesungen werden von Jen besucht, die immer wieder die ambivalente und zunehmend gefährliche Rolle des Informationsträgers einnimmt und dabei ihr Studium vernachlässigt.
Beide bedienen sich eines Bibliotheksexemplars von Strakas letztem Roman, dass die Lesenden hier als wunderbar abgegriffenes Bibliotheksbuch in den Händen halten. Die Seiten sind vergilbt, die Registriernummer klebt auf dem Einband, die letzte Ausleihe im Dezember 2000 ist am Ende eingestempelt. Hier unterstreichen und notieren sie sich gegenseitig in einen wahren Rausch, der den kritischen Leser fragen lässt, was für eine schlampige Registratur in der Anglistikbibliothek der Pollard State University eigentlich herrscht, dass dies nicht bemerkt wird.
Ihre Randnotizen und Unterstreichungen, bildhaften Kommentare und symbolhaften Icons beziehen sich mal auf den Text selbst, dann wieder auf das Verhältnis untereinander, auf Ereignisse an der Uni oder auf zuvor eingetragene Kommentare, wobei die verschiedenen Zeitebenen farblich voneinander abgesetzt werden (siehe Abbildungen in den Bildgalerien). So versuchen sie nicht nur die Zugehörigkeit des Buchs zu Strakas Gesamtwerk beweisen, sondern Professor Moody zuvorzukommen und einen Wettlauf um die Zeit zu gewinnen. Dazu kommen noch einige Beilagen – Postkarten, Zeitungsartikel, handgezeichnete Lagepläne, Fotos, Tarotkarten und vieles mehr –, die aus dem Buch zu fallen drohen, wenn man es unbedarft zur Hand nimmt. Da diese nicht willkürlich gestreut, sondern Teil der komplexen Gesamtkomposition dieses haptischesten aller Bücher im Buchjahr 2015 sind, kommt jedes einzelne Exemplar im versiegelten Schuber. Sollte man beim Lesen doch mal die Kontrolle über alle Seiten verlieren, gibt es eine hilfreiche Aufstellung der Beilagen, um sie zurücksortieren zu können.
Am Seitenrand dieses Romans spielt sich soviel ab, dass man ihm problemlos einen Thriller, eine Verschwörungsgeschichte, eine Romanze und Lehrstunden der Kryptografie und Textinterpretation entnehmen könnte, die sich schlussendlich zu einer éducation universale, auch für die Lesenden, vereinen. »Was am Wasser beginnt, soll auch dort enden, und was dort endet, soll von Neuem beginnen. Worte sind ein Geschenk an die Toten und ein Warnung an die Lebenden.«
Es bedarf einiger Seiten Lektüre, um sich von den Ablenkungen auf und zwischen den Seiten zu emanzipieren und die Geschichte in der Geschichte zu goutieren. Diese kann sich nicht so richtig zwischen der Absurdität eines Franz Kafka, der Fantasie eines Leo Perutz und der dunklen Magie eines Jorge Luis Borges entscheiden, was vielleicht die größte, zugleich aber auch verschmerzbare Schwäche ist. Sie handelt von dem seiner Erinnerungen beraubten S., der am Vorabend des Ersten Weltkries auf die geheimnisvolle Salomé alias Sola trifft, vor ihren Augen aber auf »Das Schiff des Theseus« entführt wird. Dies ist der Beginn einer abenteuerlich-abstrusen Irrfahrt durch die Kriegszone Europa, während der S. beständig nach seiner Herzensdame Ausschau hält. Wie viel Zeit dabei vergeht oder wo genau dieses Schiff anlegt oder auf Grund läuft, kann man nicht sagen.
S. verschlägt es auf dieser Odyssee in ein seltsames altes Dorf, in dessen Zentrum die Fabrik des Rüstungsbarons Vévoda steht. Dieser soll im Besitz einer geheimnisvollen Waffe sein, die Schwarzranke beziehungsweise Schwarzrebe genannt wird und das Blut derjenigen verändert, die von ihr getroffen werden. Entsprechend hat Vévoda im weltweiten Wettrüsten die Nase vorn, die Kriegstreiber dieser Welt wollen das machtvolle Instrument. Gesehen hat diese »Schwarzranke« allerdings keiner. Nur S. soll sie gesehen haben, weshalb er für den Baron eine Gefahr, für alle Bewohner des Ortes eine Hoffnung ist. Kurz nach seiner Ankunft bricht ein Streik aus, doch Vévoda behält die Oberhand. S. muss mit den Streikführern fliehen, nachdem es bei einem Anschlag auf die Polizei zu mehreren Toten kommt. Es beginnt eine Verfolgungsjagd, die letztlich nur S. überlebt, der sich plötzlich auf dem »Schiff des Theseus« wiederfindet. Mit diesem gelangt er in die Winterstadt, fernab des Krieges, den Rüstungsbaron Vévoda in Europa führt.
Wie grundsätzlich diese Allegorie auf den Krieg ist, wird am Ende des Romans deutlich. »All das: Jahre und Orte, an denen sehr viele Menschen gelitten haben, gestorben und verschwunden sind. Einzelpersonen und Gemeinschaften, ausradiert. Traditionen und Vergangenheit, Mythen, die verbreitetsten Geschichten, von den unbekanntesten Personen erzählt, alles weg. Das schwarze Zeug zu trinken heißt, das zu trinken, was verloren ist. Es in einem Fass aufzubewahren, überlegt S., heißt, das Lebendige einzusperren; das Fass in den Keller zu räumen heißt, das Sublime einzulagern. Eine Schwarzrebe abzufeuern heißt, die gesamte überschäumende Wut der Vernichteten dafür einzusetzen, andere Menschen, an einem anderen Ort, genauso zu vernichten. Eine Kettenreaktion der Auslöschung, der ganz normale Ansteckungseffekt der Verwüstung.« Und einige Seiten später: »Solange dieser Mann [Vévoda, A.d.A.] lebt, werden S. und andere sich dem widersetzen, was er in die Welt bringt. Wenn Vévoda stirbt, wird jemand anderes an seine Stelle treten. Wenn S. stirbt, wird jemand anderes an seine Stelle treten. Ein weiterer S., eine weitere Geschichte.«
Das eigentliche Faszinosum dieses Buches ist aber am Rand der Seiten verborgen. Die Geheimniskrämerei um seine Person erinnert an die Mythen, die an Namen wie Thomas Pynchon und David Foster Wallace geknüpft sind. Wie wir dort von den zwei ehrgeizigen Leserforschern Eric und Jen erfahren, mäandern durch diesen vermeintlichen Schlüsselroman Strakas Personen und Motive, die auch schon seine anderen Romane prägten; was ihn wiederum zu einem Vorgänger von Autoren wie Roberto Bolaño oder Philip Roth machen würde.
Kein Wunder also, dass Wissenschaftler aus aller Welt darin die Antwort auf die Frage »Wer war V. M. Straka?« vermuten. Doch einiges mutet seltsam an in diesem Werk. Es ist der einzige Roman des Autors, der mit Zwischenüberschriften arbeitet. Obwohl zwischen den Buchdeckeln nur der Text des Autors stehen sollte, gibt es hier zahlreiche Fußnoten des Übersetzers, die vermeintliche Fährten zur Identität des Autors legen. Dieser Übersetzer hat auch ein das Werk erschließendes Vorwort zum Roman geschrieben; trauen kann man dem, was man da liest, allerdings nicht, denn auch hier lauert ein Spiegelspiel. Der Übersetzer ist eine Frau, und ob diese nicht eine heimliche amour fou mit Straka verbunden hat, kann nicht ganz ausgeschlossen werden. Im Wettlauf um die Entschlüsselung der Identität des Autors stoßen Eric und Jen auf einen zwischen den Zeilen des Romans versteckten Code, der, so vermuten die beiden, Autor und Geliebter dazu gedient haben soll, unbeachtet miteinander in Austausch treten zu können.
Übersensibel und hocherregt beugen sich die beiden Nachwuchsforscher über die vermeintlichen Andeutungen und Spuren im Roman – Punkte, Buchstabenhäufungen, auffällige Namen oder wirre Fußnoten –, die sich im Eifer des Gefechts dann sogar gegen sie zu wenden scheinen. Sätze wie »ein erwachsener Mensch könnte verschwinden« oder »Worte sind ein Geschenk an die Toten und eine Warnung an die Lebenden« werden zu gefährlichen Prophezeiungen des Autors umgedeutet und wie Sirenengesang auf die eigenen Paranoia gemünzt.
Im Laufe des Romans springt das übertriebene Suchen nach Zeichen und ihrer Bedeutung – eine kleine Hommage an Pierce’ Zeichenlehre und Theorie der Intertextualität – auf die Lesenden über. Dass die Skizzen und Notizen am Seitenrand möglicherweise auch einfach nur nettes Beiwerk sind, kann man sich spätestens nach der Hälfte des Romans nicht mehr vorstellen. Jedes weitere Schriftstück, jede Notiz und Skizze, all die Straka-Pseudonyme und -Wiedergänger tragen nur dazu bei, dass sich die Leser der Hybris von Eric und Jen anschließen. Man schließt sich ihrer Radikalität nicht zuletzt auch deshalb an, weil es hier immer wieder um etwas Grundsätzlicheres geht; um das Erzählen als solches und die Frage, warum der Mensch diese Tradition überhaupt pflegt.
»All diese Tinte, all das Pigment, all die verzweifelten Bemühungen, das zu bewahren, was erschaffen worden war – sie sind sinnvoll, weil Geschichten an sich zerbrechlich und vergänglich sind, leicht auszulöschen oder zu beseitigen oder zu zerstören, und etwas Schützenswertes. Und wenn man sie nicht schützen kann, dann sollte man sie freilassen und in den Kreislauf zurückführen. Mit dem schwarzen Zeug zu schreiben heißt, etwas zu erschaffen und gleichzeitig wieder zu erwecken. Wir schreiben mit dem, was die vor uns geschrieben haben.«
S. – Das Schiff des Theseus ist ein famos komponiertes Buchkunstwerk und Solitär des Buchdrucks, der beweist, was das alte Medium Buch im Vergleich zum eBook zu leisten imstande ist. Wer dieses Werk elektronisch lesen will, wird statt eines stolzen Schiffes nur eine Gondel bekommen und mit ihr untergehen.
Am Ende von diesem Roman im Roman bleibt ein Wirrwarr an Namen, Personen und Rollen, an Orten und Organisationen, die alle auf der Jagd sind nach dem Autor dieses Buches, von dessen Provinienz am Ende weniger sicher scheint als am Anfang. Ob Straka legendenumrankter Autor oder Hirngespinst ist, kann am Ende keiner mehr sagen.
»Wie lautet die Geschichte, die er sich selbst erzählt? Dass er ein Mann in einem Boot am Rande der Zivilisation ist? Dass er ein Mann ist, der am Rande des Lebens dahintreibt, das niemals seines hätte sein dürfen? Dass nichts bleibt? Nichts bleibt. Die Frau, die ihn retten könnte, die alles erklären könnte, ist weg. Seine anderen Ichs sind weg. Seine Fäden sind weg. Seine Gifte sind weg. Seine Blätter sind weg, unter Wasser verschollen oder in Asche verwandelt. Er hat nur diese leere Hülle seiner selbst. Er ist ein Geist.«
[…] Auskopplung, nachdem das »Erwachen der Macht« als braver Retroschinken von Autor und Filmemacher J. J. Abrams nicht wirklich überzeugen konnte. Die Frage, ob das futuristische Märchen auserzählt ist, […]