Die Berlinale hat sich einmal mehr als politischstes aller Filmfestivals bewiesen. Das rumänische Drama »Poziţia Copilului« von Calin Peter Netzer wurde als Bester Film mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. Silberne Bären gingen außerdem an den bosnischen Roma-Film »An Episode in the Life of an Iron Picker«, dem kasachischen Beitrag »Harmony Lessons« und Jafar Panahis heimlich gedrehtes Selbstporträt »Pardé«.
Die 60-Jährige Cornelia lebt an der Seite eines erfolgreichen Geschäftsmannes, gehört zur rumänischen High Society und weiß, wie man kämpfen muss, um weiterhin oben mitzuschwimmen. Die darwinistischen Prinzipien des »Fressen und Gefressen-werden« haben sich in der gut betuchten Kleinfamilie bislang immer als richtig erwiesen. Kein Wunder also, dass sich Cornelia (Luminita Gheorghiu) auch für das Ausspielen ihrer Stärken und Trümpfe entscheidet, als es darum geht, ihren einzigen Sohn, den 34-jährigen Barbe (Bogdan Dumitrache), vor dem Gefängnis zu bewahren, nachdem er einen kleinen Jungen am Rande von Bukarest überfahren hat.
Der rumänische Regisseur Cálin Peter Netzer erzählt in seinem mit dem Goldenen Bären ausgezeichneten Psychodrama Poziţia Copilului, der in diesem Jahr noch in die deutschen Kinos kommen soll, eine Geschichte von Macht, Einfluss und Korruption, aber auch von einer krankhaften Mutterliebe und einem verwöhnten Sohn, dem es nicht gelingt, sich von seiner übergriffigen Mutter zu lösen. In der Vehemenz und Selbstverständlichkeit, in der Cornelia ihren Sohn um jeden Preis vor einer Strafe zu schützen und dabei auch noch den geringsten Anspruch von Recht und Gerechtigkeit mit den Füßen zu treten, bleibt sie dem Zuschauer fremd und auf Distanz. Das Ignorieren der Opfer hat einen verblüffenden Effekt: Gerade weil um die Opfer, vor denen sich Calin Peter Netzer am Ende von Poziţia Copilului verneigt, in diesem gesellschaftspolitischen Film eine Sperrzone errichtet wird, sind sie permanent gegenwärtig und treten in den emotionalen Vordergrund des Cineasten.
Den Lebensunterhalt seiner vierköpfigen Familie verdient Nazif mit dem Handel von Schrott, indem er Autos mit Hammer und Axt zerlegt und diese dann in Einzelteilen an Schrotthändler verkauft. Zu jeder Jahreszeit ein Knochenjob, wie Boris Tanovic in eindrucksvollen Bildern zeigt. Nazifs Frau Senada erwartet das dritte Kind, doch unter dem Joch der Armut verliert sie es im fünften Monat. Es ist der Anfang der ergreifenden Geschichte der Roma-Familie von Nazif und Senada, die Boris Tanovic in An Episode in the Life of an Iron Picker erzählt. Sie handelt von den bitterarmen und harten Verhältnissen, in denen sie leben, von Diskriminierung und gesellschaftlicher Ignoranz. Fassungslos sieht man dabei zu, wie Nazif und Senada – beides Laienschauspieler, die ihre eigene Geschichte erzählen – immer wieder gegen die unüberwindbaren Mauern der Ausgrenzung laufen. Ihre Ausweglosigkeit ergibt sich aus der Identität, die ihnen zugeschrieben wird. Hauptdarsteller Nazif Mujic appellierte auf der Pressekonferenz zum Film an die Gleichheit der Menschen: »Wenn jemand in ein Krankenhaus kommt und verletzt ist, also blutet, dann sind wir doch alle gleich, dann muss einem Menschen doch geholfen werden«. Eine starke Aussage eines starken Darstellers in einem politisch bemerkenswerten Film, der für sich steht. Vergleicht man ihn allerdings mit dem im vergangenen Jahr ausgezeichneten ungarischen Roma-Drama Nur der Wind von Bence Fliegauf, dann kann er mit diesem nicht ganz mithalten.
Der erst 29-jährige Regisseur Emir Baigazin aus Kasachstan stellt mit Harmony Lessons eine außergewöhnlich feinfühlige, und zugleich brachiale Gesellschaftsstudie seiner Heimat vorgestellt. In seinem Wettbewerbsbeitrag erzählt er von der allgegenwärtigen Gewalt in der kasachischen Gesellschaft, die er an verschiedenen Schauplätzen vorführt. Den Auftakt bildet das Schlachten eines Schafes durch den 13-jährigen Aslan (Timur Aidarbekov), nachdem dieser das Tier erst über den verschneiten Hof vor der Kulisse der zentralasiatischen Gebirgslandschaft jagen musste. Mensch regiert Tier! Dieses Bild dreht sich aber bald. Schon der englische Staatsphilosoph Thomas Hobbes wusste, dass der Mensch des Menschen Wolf ist. Baigazin führt uns in seinem Film vor, was dies im Kasachstan der Gegenwart heißt. In ruhigen und aufgeräumten Weitwinkelaufnahmen erzählt Kameramann Aziz Zhambakiyev diese erschlagende Geschichte, kontrastiert die diktatorische Ordnung mit aufgeräumten Bildern und erhielt dafür den Silbernen Bären für eine herausragende künstlerische Leistung.
Als herausragend ist zweifellos auch Jafar Panahis Film Closed Curtain zu bezeichnen, den der iranische Regisseur trotz Berufsverbot (gemeinsam mit Kamboziya Partovi) heimlich in einem Haus am Kaspischen Meer gedreht hat. Dieses überaus kluge, surreal-gespenstische Selbstporträt eines an seinem Beruf gehinderten Regisseurs, in dem ganz nebenbei von einer iranischen Gesellschaft in Angst erzählt wird, wurde mit dem Silbernen Bären für das beste Drehbuch geehrt (hier geht’s zur diesseits-Kritik).
Den Silbernen Bären für die beste Regie erhielt David Gordon Green für seine Neuverfilmung des isländischen Films Either Way unter dem Titel Prince Avalanche, der sicher auch in die deutschen Kinos kommen wird. Dieses amüsante Psychogramm zweier ungleicher Männer, die Fahrbahnmarkierer Alwin und Lance, behält einige Lacher vor, bleibt aber an der Oberflächlichkeit des amerikanischen Beziehungsdramas. Warum es hier einen Bären gab, bleibt im Verborgenen.
Neue Perspektiven hat Denis Cotés surrealer Film Vic+Flo ont vu un ours geboten und erhielt dafür den Silbernen Bären in dieser Kategorie. Lakonisch erzählt der Kanadier darin die Geschichte zweier Frauen, die sich in der kanadischen Wildnis selbst und gegenseitig suchen und dabei sowohl vom Bewährungshelfer der gerade entlassenen Vic als auch von Personen aus der dunklen Vergangenheit heimgesucht werden. Erzähl- und Wirklichkeitsebenen werden hier ineinander geschoben und miteinander verwoben, bis daraus eine surreale Kunstwelt mit ihren eigenen Existenzregeln hervorgeht.
Gloria ist Ende 50, seit 15 Jahren von ihrem Mann getrennt, hat ihre beiden Kinder in die Eigenständigkeit entlassen und schaut nun interessiert auf den zahlreichen Singlepartys in der chilenischen Hauptstadt Santiago de Chile, was das Leben noch für sie bereithält. Eines Tages trifft sie den sieben Jahre älteren Rodolfo, der seinen etwas zu voluminös geratenen Bauch unter einem Nierengürtel verbirgt. Beide starten in eine zärtliche und zugewandte Beziehung, über die sich aber bald Schatten legen. Denn Rodolfo kann sich von seiner Familie nicht loslösen, fühlt sich immer noch verantwortlich für seine zwei Töchter und seine Frau, die in Unselbstständigkeit und Versorgungshaltung verharren. Der chilenische Regisseur Sebastián Lelio erzählt in Gloria von der Liebe im vorgerückten Alter – in Zeiten des abnehmenden Lichts, wenn man so will. Ähnlich wie Andreas Dresen in Wolke 9 macht er das auf sensible und würdevolle Art und Weise. Die Lebendigkeit der Generation der End-50er verkörpert Paulina Garcia mit Leib und Seele. Jeder Auftritt von ihr wird zu einer Sensation, sie zieht den Blick des Zuschauers magisch auf sich. Gespannt verfolgt man jede ihrer Handlungen und versucht zugleich, in ihren Gesichtszügen zu lesen, was hinter den braunen Augen vor sich geht. Paulina Garcia berührt den Zuschauer auf eine unnachahmliche Weise und wurde dafür als beste Schauspielerin ausgezeichnet.
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