Kaum ein Autor trifft den Ton des ost-west-deutschen Dialogs besser als Ingo Schulze. In seinem Roman »Adam und Evelyn« rückt er die Flucht aus der DDR in die Nähe einer Vertreibung aus dem Paradies und macht deutlich, wie es heute um die deutsch-deutschen Verhältnisse steht.
Die große Erlösung. Was sonst sollte es gewesen sein, als Hunderte DDR-Bürger im Sommer 1989 über die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest aus der sozialistischen Diktatur flohen und die Mauer von Hunderttausenden in den Novembertagen 1989 stimmgewaltig niedergerissen wurde. Schließlich lockten das westliche Paradies der unbeschränkten Konsummöglichkeiten sowie die große Freiheit der weiten Welt. Der Weg aus dem versargten Leben in der nominal demokratischen, jedoch vielmehr volksfernen Republik war plötzlich geebnet. In dem begeisterten Taumel der Deutschen ging jedoch viel zu schnell die Sensibilität für die Befindlichkeiten in Ost- und Westdeutschland verloren, die das zuweilen immer noch schwierige Zusammenwachsen zwischen Ossis und Wessis prägen. Wenn im kommenden Jahr das 25-jährige Jubiläum des Mauerfalls allerorten zelebriert wird, werden die Geschichts- und Politapologeten des Landes erneut semipopuläre Weisheiten verbreiten, die wenig mit dem tatsächlichen Leben der Gegenwart in Ost und West zu tun haben. Denn das Innenleben der Menschen bleibt denjenigen verborgen, die vor der Realität in pseudowissenschaftliche Zahlenwerke und Faktensammlungen flüchten.
Wie es um unser Land steht, weiß allein derjenige, der sich mit den Menschen in Ost und West befasst, der mit ihnen gelebt und sich mit ihnen ausgetauscht hat. Ingo Schulze ist ein solcher Menschenfänger. Er gehört zu jenen Menschen, die aufmerksam durch unser Land und auf dessen Menschen zugehen und Sensibilität zeigen für deren Freuden und Sorgen im Alltag. Diese in seinen Vorgängerbüchern bewiesene Gabe hat ihn zu einem der meistgelesenen der in der ehemaligen DDR aufgewachsenen Autoren gemacht. Seine Romane Simple Stories und Neue Leben waren echte Publikumserfolge und sein Bestseller Handy – Dreizehn Geschichten in alter Manier erhielt 2007 den Belletristikpreis der Leipziger Buchmesse. Als Leser gerät man in Ingo Schulzes Geschichten immer wieder in einen Strudel aus Raum und Zeit.
Ingo Schulze dreht mit seinem zweiten Wenderoman Adam und Evelyn das Rad der Geschichte erneut sanft zurück und versetzt den Leser in den Sommer 1989, in eine Zeit, in der die Menschen den Lauf der Geschichte in die Hand genommen haben. In dem Jahr des großen politischen Umbruchs lässt Ingo Schulze seine Romanhelden Adam und Evelyn nach Ungarn reisen. Die politisch und gesellschaftlich angespannte Lage, die eine Reise an den Plattensee alles andere als zufällig erscheinen lässt, heizt Schulze noch durch die privaten Eskapaden des biblischen Paares auf: Adam wird als begehrter Schneider nicht nur in barer Münze von seinen Kundinnen entlohnt und Evelyn hat erwischt ihn in flagranti mit einer seiner Kundinnen. Sie beschließt, diesem verlogenen leben in einem verlogenen Staat zu entfliehen und fährt gemeinsam mit ihrer Freundin Simone und deren Westcousin Michael nach Ungarn. Adam fährt ihr hinterher und damit unbewusst einem neuen Leben entgegen. Die Ereignisse überschlagen sich und das Schicksal von Adam und Evelyn gerät in den Sog der sozialistischen Endzeit, die 1989 in Ungarn ihren Ausgangspunkt hatte.
Es sind weniger die auf dem verkitschten fleischlichen Gelüste auf dem Buchcover, die Ingo Schulze veranlasst haben, seinen Wenderoman titularisch an die Schöpfungsgeschichte anzulehnen. Adam und Evelyn durchlaufen die biblische Geschichte unter den Vorzeichen einer alles verändernden Moderne. Die für den Ostblock nahezu paradiesischen Zustände der Offenheit, Toleranz und Weltgewandtheit in Ungarn stellen die paradiesischen Verlockungen dar, von denen beide – einmal die Freiheit gekostet – nicht mehr lassen können. Analog zur biblischen Erzählung nimmt auch Adam den von der Frau getriebenen und verführten Part ein. Während die ostdeutsche Eva ihr Schicksal in die Hand nimmt, läuft ihr Adam eigentlich während der ganzen Erzählung nur hinterher, wird hineingerissen in ein Schicksal, dass er selbst so nicht gewählt hat.
Wie schon in seinem ersten Wiedervereinigungsroman Neue Leben imaginiert Ingo Schulze eine fesselnde Geschichte aus der Realität heraus. Schulze praktiziert die Geburt der Fiktion aus der historischen Realität und transformiert diese in die Gegenwart. Es ist die gelebte Erfahrung, die seine Erzählungen und Romane unverwechselbar authentisch und zugleich brandaktuell erscheinen lassen. In seinem neuen Roman sind es neben der historischen Kulisse insbesondere die ost- und westdeutschen Stereotype, auf denen er auf geradezu famose Art und Weise reitet. Schulze zwingt so den Leser, sich noch einmal längst verdrängte, aber weiterhin existierende Pauschaleindrücke Ost- und Westdeutscher anzuhören und mit respektablem Abstand ihren Untertönen zu lauschen. Dies erleichtert vor allem der dialogische Stil des Buches, der weite Teile des Romans prägt. Insofern ist Adam und Evelyn auch ein Beitrag für das Zusammenwachsen der deutsch-deutschen Gesellschaft, denn nur das aufmerksame Zuhören auf beiden Seiten lässt deutlich werden, dass es in den deutsch-deutschen Wirklichkeiten immer zwei Wahrheiten gibt. Sätze wie »Bei uns lebst Du einfach besser und länger.« (Michael zu Evelyn über die Verhältnisse in der BRD) oder »Ich denke immer, die wollen was von einem.« (Adam zu Evelyn über die westdeutsche Zuvorkommenheit) lassen dann plötzlich erkennen, dass hinter solchen Aussagen doch eine lang erworbene Sicht auf die Dinge steckt, die immer noch im innerdeutschen Dialog mitschwingt. Doch Schulze hebt keinesfalls mahnend den Zeigefinger. Vielmehr zaubert er dem Leser so manches Schmunzeln auf die Lippen. So ist zu vermuten, dass der Name Evelyn keineswegs eine willkürliche Abwandlung der biblischen Eva ist, sondern vielmehr eine Persiflage auf die besondere Namensgebung in ostdeutsch sozialisierten Familien ist. Die unzähligen, von amerikanischen Serien inspirierten Kevins, Owens und Justins, Samanthas, Cindys oder Pamelas leben nur wenige Autominuten nordöstlich von Schulzes Quartier im Berliner Prenzlauer Berg. Tagtäglich könnte Schulze Evelyn über den Weg laufen.
Adam und Evelyn schafft Erkenntnis über die deutsch-deutschen Zustände, indem er in angenehm leichter Manier Befindlichkeiten offen legt, die zu lange unberücksichtigt geblieben sind. Er legt die Hoffnungen und Erwartungen ebenso offen wie die Bedenken, Ängste und Sorgen der Menschen – die der Wendezeit und die aktuellen. Wer etwas über die Tage der Wiedervereinigung und über den Zustand unserer vereint-gespaltenen Gesellschaft erfahren möchte, der greife zu Schulzes neuem Roman.
Der Leser kann sich nicht gegen die Wirkung dieses Romans verwehren, der nicht nur Erkenntnis schafft, sondern auch Lust auf mehr macht. Adam und Evelyn ist in seiner Leichtigkeit und in der in den unzähligen Dialogen verursachten sprachlichen Bescheidenheit nicht unbedingt Schulzes bestes Buch. Aber es ist ein zutiefst menschliches Buch. Seine Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2008 macht darüber hinaus mehr als deutlich, dass Schulze einer der besten Geschichtenerzähler unseres Landes ist. Es wäre wohl zu hoch gegriffen, wenn man behauptete, dem Land ginge es besser, wenn es Ingo Schulzes Bücher läse. Doch das Verständnis zwischen Ost und West wäre zweifelsfrei ein besseres, wären Schulzes Werke gesellschaftliche Pflichtlektüre.
[…] »Zonenkinder«, Ingo Schulzes Wende-Erzählungen in Werken wie »Handy«, »Neues Leben« oder »Adam und Evelyn«, Uwe Tellkamps bildungsbürgerlicher Schlüsselroman »Der Turm«, Peter Richters brutales […]