Essay, Gesellschaft, Sachbuch, Zeitgeist

Eine Form des Liebens

© Thomas Hummitzsch

Thomas Hitzlsperger hat sich nach dem Ende seiner Karriere als Fußballprofi zu seiner Homosexualität bekannt. Die Journalistin Carolin Emcke hatte schon vor zwei Jahren – ausgehend von der persönlichen Erfahrung – ein überaus intelligentes Buch über das Begehren geschrieben, das weder »gut« noch »schlecht« kennt, sondern einfach ist.

Am Anfang dieses durchweg klugen und einfühlsamen Essays über das Begehren steht der Tod von Daniel. Die Zeit-Journalistin Carolin Emcke ging mit ihm zur Schule und fragt sich nun – auf viele Jahre zurückblickend – warum er sich das Leben genommen hat. »War der Grund, warum ich noch Jahre nach dem Abitur gebraucht habe, um mein Begehren zu entdecken, derselbe, wie der, warum er sich das Leben genommen hat? War die Sehnsucht, die wir nicht verstehen, nicht entdecken, nicht leben konnten in dieser Zeit, dieselbe?«

Die Sehnsucht, die Emcke ins Spiel bringt, ist die des von der gesellschaftlichen Norm abweichenden Begehrens. Was macht dieses Begehren aus? Wie äußerte es sich in seiner Entstehung? Wie konnte es einen Ausdruck finden für sie und in ihr? Und wie sich differenzieren? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt von Emckes ebenso persönlichem wie grundsätzlichem Text über die Leidenschaft abseits des Heterosexuellen.

Muss das sein, mag mancher denken? Herrschen hierzulande, wo eingetragene Partnerschaften Normalität sind, nicht längst Gleichberechtigung und Akzeptanz? Die Debatte um das Outing von Thomas Hitzlsperger, der sich als erster deutscher Fußballprofi zu seiner sexuellen Identität bekannt hat – wohlgemerkt nach seinem Karriereende –, zeigt, dass dies nicht der Fall ist.

Die Lektüre von Emckes Essay führt dazu, dass man geneigt ist, diese Frage umso deutlicher zu verneinen, wenngleich der Fortschritt in den letzten Jahren nicht geleugnet werden soll. Die fortwährenden Beschränkungen für Nicht-Heterosexuelle beim Adoptionsrecht oder der künstlichen Befruchtung belegen die Ungerechtigkeit im System. Sie tragen zum Reproduzieren eines traditionellen Familienbildes bei, das mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun hat. Jahrzehntelange Aufklärungsarbeit hat nicht viel hinterlassen, und den Blick in andere Länder – etwa die, die Emcke als Journalistin oft bereist – müssen wir gar nicht erst wagen. Ob westlich oder östlich der bundesdeutschen Grenzen – sobald es um gleichgeschlechtliche Liebe geht, finden sich die Anhänger eines reaktionären Familienbildes Seit an Seit auf der Straße wieder, um vor einer angeblichen Gefährdung der göttlichen Familie oder gar der Gefährdung des Kindswohls zu protestieren.

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Carolin Emcke: Wie wir begehren. Verlag S. Fischer 2012. 256 Seiten. 19,99 Euro. Hier bestellen

Ausgehend von der persönlichen Erfahrung und dem eigenen Erleben kommt Carolin Emcke auf diese und andere gesellschaftlichen Missstände in ihrem überaus weisen, niemals wütenden, in jedem Absatz reflektierten und darüber hinaus zutiefst humanistischen Essay zu sprechen. Dabei lässt sie den Leser nicht nur die Welt aus einer anderen Perspektive – der der Stigmatisierten – sehen, sondern regt ein Um- und Neudenken von grundsätzlichen Fragen an, das in unserer modernen und sich auf die Aufklärung berufenden Gesellschaft längst überfällig ist. Ein Denken, welches die Aufteilung der Lebenswirklichkeit in zweigeschlechtliche Verhältnisse hinterfragt, das einen biografischen Wechsel der sexuellen Identität in Erwägung zieht und das nicht von fixierten lebenslangen Lebensmustern ausgeht. Die Mann-Frau-Dichotomie ist ebenso viel und ebenso wenig »natürlich«, wie es jede andere Konstellation ist. Denn auch das Begehren ist Resultat einer freien Entscheidung. Wer meint, dass Homosexuellen einfach eine erfüllende heterosexuelle Erfahrung fehlt, der akzeptiert nicht, dass sie begehren, weil sie begehren – und nicht, weil sie nicht begehren.

Emckes Essay ist auch ein Aufruf, den Wurzeln des eigenen Begehrens nachzuspüren, ein Prozess, dem die meisten aus dem Weg gehen. Dabei sind diejenigen, die, wie Emcke, immer wieder – ob mit Absicht oder nicht – auf ihre Sexualität reduziert werden, im »Vorteil«, da sie immer wieder gezwungen werden, sich dieser Frage zu stellen. Wie absurd dies aber ist, wird deutlich, wenn man die oft gestellte Frage an Homosexuelle, warum sie denn homosexuell und nicht heterosexuell seien, umdreht. Warum sind Sie denn heterosexuell und nicht homosexuell?, müsste die Gegenfrage dann lauten. Eine biologistische Antwort reicht hier nicht aus, denn auch diese reproduziert nur eine Konvention, die heute als Normalität angesehen wird. Aber was ist normal? Ist es tatsächlich natürlich, wenn Männer Frauen begehren und umgekehrt? Und ist es unnatürlich, wenn Männer Männer aufregender finden und Frauen Frauen oder beide sowohl Mann als auch Frauen begehren?

Emcke entlarvt in ihrer präzisen Analyse das, was nicht mehr als Konvention ist und dennoch als das Natürliche, das Normale akzeptiert wird – ob in der Analyse der persönlichen Erfahrung oder in der Gesellschaftsgeschichte, die sie hier nebenbei auch schreibt. Dabei macht sie deutlich, dass die sexuelle Identität des Einzelnen durchaus eine Kategorie sein kann, aber nicht als Maßstab taugt, um daraus eine Tischordnung oder gar eine moralische Bewertung ableiten zu können: »Es ist nicht gut oder schlecht, homosexuell zu sein, es ist. So wie es auch kein moralisches Vergehen ist, heterosexuell, transsexuell oder bisexuell zu sein, sondern es ist. Es ist eine Form des Liebens, angeboren oder erworben, angenommen oder gewählt, wechselnd oder beständig, das spielt überhaupt keine Rolle, weil die vielfältigen Arten des Begehrens für normative Fragen keine Rolle spielen.«

Wie wir begehren – dieser Titel führt bewusst in die Irre und wieder zurück. Wer erwartet, hier ginge es um eine Philosophie des Begehrens, wird sich vermeintlich schnell eines Besseren belehrt fühlen, denn mit Wir sind nicht sofort alle gemeint, sondern zunächst diejenigen, die – wie Carolin Emcke – oft auf ihre sexuelle Identität reduziert werden. Doch wer meint, dass man das eine Wir von dem anderem trennen könnte, der hat nichts verstanden. Denn ob wir das Begehren entdecken oder das Begehren uns, ist eine grundlegende Frage, die mit der persönlichen Neigung nichts, aber auch gar nichts zu tun hat. Es ist eine Frage, die sich jeder nicht nur einmal, sondern immer wieder stellen sollte, will er sich selbst und sein Menschsein ein wenig mehr verstehen. Oder um es mit Carolin Emckes klugen Worten zu sagen: »Wenn ich darüber nachdenke, wie ich begehre, dann zerfällt alles Konzepthafte, alles Kollektive in Augenblicke, in einzelne, kleine, unwiederbringliche Momente des Begehrens, wie bei jedem anderen Menschen auch, …«

5 Kommentare

  1. […] im Maxim-Gorki-Theater sagte, »selten geschrieben wird und selten zu lesen ist«. Emcke, selbst eine der klügsten und genauesten Essayistinnen unseres Landes, beschreibt Mit Recht gegen die Macht als Ideengeschichte, als eine Geschichte der Durchsetzung der […]

  2. […] geht, um die Existenz in all ihren Aspekten, zu der das Begehren gehört. Eine Form des Liebens, von der Carolin Emcke einmal gesagt hat, dass sie, wenn sie darüber nachdenke, »in Augenblicke, in einzelne, kleine, unwiederbringliche […]

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