Literatur, Roman

Vom Zittern und Erschauern

© Thomas Hummitzsch

Mit Navid Kermani und Jo Lendle suchen zwei versierte Schriftsteller in ihren aktuellen Romanen nach der Liebe in Zeiten des Umbruchs. Während Kermani in »Große Liebe« das Erwachen von Politik und Libido mit den mystischen Liebeserzählungen der arabischen Welt verbindet, schickt Jo Lendle einen aus der Zeit gefallenen Mystiker auf die Suche nach dem, »Was wir Liebe nennen«.

»Ich schreibe meine Geschichte täglich nur eine Seite fort, um dem Gedächtnis Gelegenheit zu geben, sich zu sortieren«, schreibt der Erzähler in Navid Kermanis moderner Arabeske Große Liebe. Dafür schreibt er sich einen Plan, wonach er sich für jede Station der Liebe zehn Seiten Raum und Zeit gibt: zehn für die Begegnung, zehn für das Kennenlernen, zehn für die erste Berührung, zehn für die Vereinigung und so weiter, so dass er am Ende eine Hälfte seiner Erinnerungen der Verzauberung der Liebe und die andere Hälfte der Entzauberung widmen kann.

Ganz so streng nimmt es der Erzähler mit den Formalitäten dann doch nicht. Weder die geplante Aufteilung noch die Seitenvorgaben – man sollte eher von Tafeln als von Seiten sprechen – wird er einhalten. Seinem Vorhaben aber, dem Gedächtnis die nötige Zeit einzuräumen, um sich zu sortieren, bleibt er treu. Allerdings gesteht er sich immer wieder selbst ein, dass er sich nicht sicher sei, inwiefern dies nicht vielmehr zu noch mehr Verwirrung als zu einer tatsächlichen Ordnung der Dinge beitrage. Die Erinnerung, das lässt sich ohne Zweifel sagen, wühlt den Erzähler auf.

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Navid Kermani: Große Liebe. Hanser Verlag 2014. 224 Seiten. 18,90 Euro. Hier bestellen

»Das erste Mal hat er mit fünfzehn geliebt und seither nie wieder so groß«, heißt es zu Beginn des Romans. Das ist über 30 Jahre her, die erinnerte Handlung ist in den frühen 1980er Jahren an einem westdeutschen Gymnasium verortet. Vor dem Hintergrund des Erlebens dieser ersten, größten Liebe spielen sich die Demonstrationen um den NATO-Doppelbeschluss ab, die auch den Erzähler und dessen Liebe prägen. Sich in der Friedensbewegung engagierend, verbindet sich beim anonymen Ich-Erzähler das Erwachen des politischen mit dem körperlichen Bewusstsein. Die innere Revolution des Verliebtseins verläuft parallel zu der gegen die bodenständigen Werte und Normen des Elternhauses – was auch damit zu tun hat, dass die Angebetete aus dem Abiturjahrgang 1982 in einer Wohngemeinschaft lebt, in der die Diskussionen um eine bessere, linkspolitische Gesellschaft zum Alltag gehört.

Es deutet nicht wenig darauf hin, dass sich hinter dem Fünfzehnjährigen der junge Navid Kermani verbirgt, der zur Zeit der großen Proteste im Bonner Hofgarten 1983 ebenfalls 15 Jahre alt ist, aber letztendlich ist dies nebensächlich. Denn auch diese Erzählung autobiografische Wurzeln haben sollte, tut das ihrem grundsätzlichen Charakter keinen Abbruch. Denn es geht um dieses Grundsätzliche, das Kermanis Verleger Jo Lendle in seinem aktuellen Roman Was wir Liebe nennen als »ein Schwappen von Körperflüssigkeiten, ein aus dem Takt geratener Tanz, ein Schluckauf, letztlich, nur etwas kleiner« beschreibt.

Lendle will in seinem Roman nicht die große Liebe ergründen, sondern stellt die Frage, ob es in der Moderne mit all ihren Verlockungen und Reizen überhaupt eine große Liebe geben kann. Dass es ausgerechnet ein Zauberer ist, der im Laufe dieser Geschichte einer Selbstsuche ins Straucheln gerät, zeigt die feinsinnige Ironie, mit der der neue Verleger des Hanser-Verlags seinen Roman angelegt hat. Kann jemand, der einer so archaischen Kunst nachgeht, tatsächlich die Antwort nach der Bedeutung der Liebe im Zeitalter der absoluten Freiheit finden? Man darf mit Lendle amüsiert daran zweifeln. Denn wenn ausgerechnet ein Magier, dessen Metier in Täuschung und Betrug liegt, nach Sitte und Moral fragt, ist zu Skepsis geraten.

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Jo Lendle: Was wir Liebe nennen. DVA 2013. 256 Seiten. 19,99 Euro. Hier bestellen

Kermani geht es in Große Liebe um die innere Erschütterung, um den »Zustand der panischen Kopflosigkeit«, der eintritt, »bevor der Liebende merkt, dass nicht das Wollen das Ziel ist, sondern das Gewolltsein.« Das kann man durchaus auch als konservativere, vorsichtigere und wehmütigere Variante der Suche nach der Liebe in der Moderne verstehen – nicht umsonst lässt er sein Publikum dreißig Jahre zurückreisen. Vielleicht geht es ihm dabei aber auch um den Aspekt der Zeitlosigkeit dieses Gefühls, weshalb er seine Erzählung, die sich von den ersten scheuen Blicken und der überwältigenden körperlichen Berührung bis hin zur seltsamen Entfremdung des »Bleibens im Entwerden« erstreckt, mit den mystischen Texten und Schriften der arabischen und persischen Liebesliteratur der letzten fünftausend Jahre verbindet. Dieser literarische Trick führt nicht nur zu der ein oder anderen Irritation – sowohl beim Erzähler als auch beim Leser –, sondern hebt diese Geschichte einer Teenager-Liebe auf das viel grundsätzlichere Feld des Liebens.

Es ist folgerichtig auch eine Anekdote des persischen Dichters Attar, die den Erzähler dreißig Jahre zurück mitten in die Phase seiner größten Verliebtheit wirft. Attar erzählt darin von einem König, der durch sein Land reist und einen alten, zerlumpten Mann am Wegrand kauern sieht. Der König hält samt Gefolge an und ruft spöttisch dem alten Mann entgegen: »Na, du würdest wohl auch gern ich sein«. »Nein«, antwortet der Alte, »ich möchte nicht ich sein.« Diese Geschichte von einem Mann, der nicht ich sein wollte, lässt der Erzähler an die Zeit zurückdenken, in der auch er sich loswerden und ganz in eine selbst-lose und selbst-ferne Welt eintauchen wollte.

Die Selbstlosigkeit der Liebe ist bekanntermaßen ein wohliger Irrtum, der sich umso seltener einstellt, je älter wir werden. Sicher ist es so, dass mit dem Sammeln der Erfahrungen im Laufe eines Lebens auch die Kollektion der Bedenken und Vorbehalte größer wird, die sich der großen Liebe in den Weg stellen. Wahrscheinlich tritt auch aus diesem Grund das Lieben bei Lendles tragischem Helden Lambert in einen inneren Kampf zwischen dem körperlichen Begehren zu der neuen, aufregenden Felicitas und der eingeschlafenen rationalen Beziehung zu seiner Freundin Andrea. Während Lambert sich unentwegt fragt, ob er alles hinschmeißen und neu anfangen soll – »Man konnte [doch] nicht auf jedes Pferd aufspringen, das vorbeigeritten kam.« –, stellt sich für Kermanis Erzähler diese Frage erst gar nicht. Er hat gar keine andere Wahl, denn führ ihn gibt es in der Liebe nichts Normales oder Vernünftiges. Oder hat »in fünftausend Jahren auch nur ein Dichter den Verliebten als normal oder vernünftig beschrieben«? Wenn es so ist, dann erfahren wir es hier nicht.

»Was wir Liebe nennen, ist anfangs nur ein Zittern. Ein Schauer, den wir kaum bemerken, der uns nicht frieren lässt, aber daran erinnert, beizeiten nach etwas zu suchen, das uns wärmt.« Mit diesen Worten beginnt Jo Lendles Roman. Und während sein Protagonist Lambert diese wohlige Wärme sehnsuchtsvoll sucht, spürt Kermanis Erzähler dem einmal erlebten Erzittern und Erschauern nicht minder sehnsüchtig nach. »Die Liebe ist noch ruinöser, insofern sie schon dem Glück so viel Schmerz beimischt, dass kein Buchhalter es als Einnahme verbuchte«, heißt es bei Kermani.

Die Liebe verstehen zu wollen, scheint sowohl in Echtzeit als auch in der Retrospektive ein Unterfangen zu sein, bei dem ein Reüssieren ausgeschlossen ist. Sowohl Navid Kermani als auch Jo Lendle schreiben, jeder auf seine Weise, gegen diese vermeintlich unumgängliche Niederlage des Ordnens und Sortierens der Gedanken und Emotionen an. Gerade das macht ihre Romane zu einem Ereignis.

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