In diesem Jahr hat sich das Ende eines radikalkommunistischen Experiments zum 35. Mal gejährt. Am 7. Januar 1979 eroberten vietnamesische Truppen einen Großteil Kambodschas und entrissen das Land den Steinzeitkommunisten um Saloth Sar alias Pol Pot. Heute vor 16 Jahren starb »Bruder Nummer 1«, in dessen Namen zwischen 1975 und 1979 fast zwei Millionen Menschen umgebracht wurden. Einige Neuerscheinungen erinnern an diese dunkle Stunde der Weltgeschichte.
Der französische Archäologe Bernhard Philippe Groslier notierte 1965, dass in Kambodscha »unter einer ruhigen Oberfläche eine wilde Kraft und Grausamkeit schlummert, die jederzeit mit heftiger Brutalität aufflammen kann«. Groslier konnte damals nicht wissen, dass sich diese Grausamkeit zehn Jahre später in nie vorstellbarer Form Bahn brechen und Kambodscha in einen massenmörderischen Abgrund reißen würde. Am 17. April 1975 eroberten die kommunistische Roten Khmer Kambodschas Hauptstadt Phnom Penh und fegten das brutale, vom Westen unterstützte Regime um General Lon Nol hinweg.
Die Roten Khmer sollten ein noch brutaleres und menschenverachtenderes System installieren, dem innerhalb von vier Jahren mindestens 1,7 Millionen Menschen geopfert wurden. Ermordet, weil sie lesen und schreiben konnten, weil sie chinesische oder vietnamesische Vorfahren hatten, weil sie einer Religion nachgingen oder weil sie im Rahmen der paranoiden Säuberungsaktionen der Führungsriege aus anderen fadenscheinigen Gründen gefoltert und umgebracht wurden. Unzählige Kambodschaner erlagen außerdem den menschenverachtenden Lebensbedingungen, in die die Roten Khmer die Bevölkerung zwangen. Unterernährt und krank starben sie in Zwangsarbeit und unter Folter in den Reisfeldern, am Wegesrand oder auf den Baustellen der Steinzeitkommunisten.
All das hätte man im August 1978 wissen können, als sich vier schwedische Intellektuelle auf Einladung in das abgeschirmte Land aufmachten, um sich davon zu überzeugen, dass das mörderische Demokratische Kampuchea nur ein Mythos des imperialistischen Westens ist. Der schwedische Journalist Peter Fröberg Idling hat für seine literarische Reportage Pol Pots Lächeln die Aufzeichnungen der Delegation aufgearbeitet und sie neben die historisch verbrieften Ereignisse gestellt. Einen Hinweis darauf, dass in dem Land, das die Schweden zwei Wochen lang bereisten, Hungersnöte, Zwangsarbeit, Folter und massenweise Exekutionen stattfanden, findet man in den Aufzeichnungen von Hekka Ekerwald, Gunnar Bergström, Marita Wikander und Jan Myrdal nicht. Im Gegenteil, man liest von einer Gesellschaft auf dem Wege der Selbstermächtigung, die Staudämme und Kautschukindustrien baut, die gigantische Reisfelder anlegt und daran arbeitet, ein Paradies entstehen zu lassen.
Die Schweden sind nicht die einzigen, die sich von Pol Pot blenden lassen, auch Per Olov Enquist, Birgitta Dahl oder Noam Chomsky erlagen den Verheißungen eines eigenständigen kommunistischen Paradieses in Südostasien. Vier Monate vor der schwedischen Delegation besuchte außerdem eine Delegation der Amerikanischen Kommunistischen Partei das Land. In ihrem Reisebericht heißt es: »Wir sahen ein Land, das etwas vollständig anderes war als das negative Bild, das in unzähligen Nachrichtenartikeln und Fernsehprogrammen wiedergegeben wird. […] Ohne Zweifel ist Kampuchea das am meisten mit Schmutz beworfene Land der Welt. Völkermord, Sklavenarbeit, Hunger, Massenhinrichtungen – das sind bloß einige der bevorzugten Bezeichnungen, die die westliche Presse verwendet, wenn sie das Leben in Kampuchea beschreiben soll.« Die Ohnmacht beschleicht einen, wenn man dies heute liest.
Idling verschweigt die Ambivalenz der damaligen weltpolitischen Situation in seiner nüchternen Montage aus historischen Abrissen der kambodschanischen Geschichte im 20. Jahrhundert, biografischen Schnipseln des Werdegangs von Saloth Sar, den Ereignissen im Land und Parolen der Roten Khmer zwischen 1975 und 1979 sowie den eigenen Eindrücken und Erlebnissen während seiner Recherchen vor Ort nicht. Schließlich waren mit Nixon und Kissinger in den USA alles andere als diplomatische Pazifisten am Werk. Bis heute sind die Rolle des Westens im kambodschanischen Völkermord und dessen Zusammenhänge mit dem Vietnamkrieg historisch und politisch umstritten. Peter Fröberg Idling sucht aber auch nicht nach allzu viel Verständnis für die Blindheit der enthusiastischen Reisegesellschaft, was ihm insbesondere die Verärgerung eines unbelehrbaren Jan Myrdal einbringt.
Dennoch lässt er sich nicht zu einem abschließenden Urteil über die schwedische Delegation verführen. Er sieht die Reisenden als »Mitglieder einer kleinen Schar von eigens Geladenen. Sie reisen mit kritischem Blick, aber zugleich mit einer Offenheit für den Versuch, nach der Zerstörung durch den krieg etwas grundlegend anderes zu machen«. Idling betrachtet die Unternehmung als »Reise in das theoretisch so Vertraute, in das praktisch so Fremde«, und gesteht sich am Ende selbst ein, dass er sich nicht sicher ist, ob er die für ihn aufgebauten Fassaden durchschaut hätte, wenn er 1978 in das Land gereist wäre, wenn er so gut zu kennen glaubte, wie die vier Schweden. Gerade durch dieses offene Einräumen des eigenen Scheiterns reißt er mit Pol Pots Lächeln die vielen ideologischen Vorhänge hinunter, die die Roten Khmer vor ihren Steinzeitkommunismus geschickt aufgespannt hatten und die immer noch nachwirken.
Wie sehr das Terrorregime der Roten Khmer gesellschaftlich und individuell nachwirkt, wird auch in den retrospektiven Berichten des kambodschanischen Regisseurs Rithy Panh (Auslöschung. Ein Überlebender der Roten Khmer berichtet) sowie der Französin Denise Affonço (Der Deich der Witwen. Eine Frau in der Hölle der Roten Khmer), aber auch in der als Roman verarbeiteten Erinnerung Im Schatten des Banyanbaumes von Vaddey Ratner deutlich.
Rithy Panh ist im Westen für seine aufwühlende filmische Reportage über das Foltergefängnis Tuol Sleng S21 – Die Todesmaschine der Roten Khmer bekannt. Darin begegnet er dem Leiter des mitten in Phnom Penh gelegenen Schlachthauses Kaing Kek Ieu alias Duch alias »Der Henker« und konfrontiert ihn mit den von ihm verantworteten Taten. Der Film ist ein erschreckendes Zeugnis der »Banalität des Bösen«, die schon Hannah Arendt bei ihrer Beobachtung des Eichmann-Prozesses erlebt hatte. Duch zeigt sich darin wie Eichmann als willfähriger Befehlsempfänger, der sich auf die Mechanismen des Systems beruft.
Panhs mit dem Prix Aujourd’hui ausgezeichnete Verarbeitung seiner Auseinandersetzung mit dem letzten Überlebenden der Führungsriege der Roten Khmer besticht wie schon Idlings Werk in seiner sachlichen Beobachtung seines Gegenübers: »Der Henker schweigt nicht. Er redet. Redet ununterbrochen. Fügt hinzu. Lässt weg. Arrangiert. So konstruiert er eine Geschichte, schon eine Legende, eine andere Wirklichkeit. Er verschanzt sich hinter Worten.« Panh schont den ehemaligen Schergen der Roten Khmer nicht, entlässt ihn nicht aus seiner Verantwortung, dämonisiert ihn aber auch nicht. Er ist für ihn nicht nur der Henker, »Duch ist ein Mensch«. Weil Panh den Täter auch Mensch sein lässt und das eigene Leiden hintenanstellt, weil er, statt blind Rache zu üben, der Gerechtigkeit eine Tür öffnet, indem er den Befehlshaber von S21 vehement mit seinen Taten konfrontiert, ist Auslöschung ein großes aufklärerisches Werk.
Nicht minder wichtig sind die aufgezeichneten Erinnerungen von Vann Nath, der 2011 an den Folgen einer Nierenerkrankung starb, wenngleich die von ihm hinterlassenen Gemälde aus dem Foltergefängnis in ihrer Konkretheit nicht zu überbieten sind. Nath ist einer der insgesamt sieben Überlebenden von Toul Sleng, sein zeichnerisches Geschick sicherte ihm das Überleben. Auf Anweisung malte er in Gefangenschaft unzählige Porträts von Pol Pot. Eine solche Szene zeigt das Titelbild seiner Rückblicke, die unter dem Titel »Ich malte um mein Leben« – Im Todeslager der Roten Khmer in Kambodscha im vergangenen Herbst erschienen sind.
Es sind aber nicht die Porträts des Bruder Nr. 1, sondern die Erinnerungsgemälde, die Wann Nath nach seiner Gefangenschaft angefertigt hat, die sich in jedes Gedächtnis einbrennen. Sie zeigen Folter- und Mordszenen und illustrieren damit das Schreckensregime der Roten Khmer: Waterboarding-Methoden, das Ausreißen von Finger- und Fußnägeln sowie Brustwarzen, das Erschlagen von Kleinkindern an Palmen, wenn diese wie nasse Tücher, an den Füßen gehalten, gegen die Stämme geschlagen werden. Im Museum des Toul-Sleng-Gefängnis S-21 in Phnom Penh kann man diese Bilder sehen, die kleine Sammlung von Gemälden und Radierungen in der Mitte des Buches enthalten nur wenige dieser grausamen Erinnerungen. Van Nath hat das Museum und die Gedenkstätte mit aufgebaut, um seinen Beitrag zu leisten, dass in Kambodscha nicht vergessen wird.
»Die Erinnerung lebendig halten«, so lautet auch ein Kapitel seiner Erinnerungen, die bis in die Zeit der Schreckensherrschaft der Roten Khmer zurückreichen, die Gegenwart aber nicht vergessen. Gemeinsam mit seinen Bildern stellen sie ein Paradebeispiel des gewissenhaften Andenkens an die vielen Opfer der Roten Khmer dar und sind ein zutiefst menschliches Zeugnis einer abgrundtief unmenschlichen Welt.
An der Realität gemessene Gegenwelten zur kommunistischen Propaganda und den Ausreden der letzten Roten Khmer bietet auch der inzwischen vergriffene Bericht der Französin Denise Affonço, die mit ihrer Familie aus Phnom Penh in den Süden des Landes vertrieben wurde. Sie musste zusehen, wie ihr Mann ermordet wurde und ihre Tochter verhungert ist, und die wie durch ein Wunder vier Jahre Zwangsarbeit und Folter überlebt hat, um zu einer der wichtigsten Zeuginnen der Verbrechen des Pol-Pot-Regimes zu werden.
Mit ihrem Buch Der Deich der Witwen hat sie gegen das Vergessen eines der grauenvollsten Kapitel in der kambodschanischen Geschichte angeschrieben. Sie beschreibt darin die Vertreibungen und Hinrichtungen auf offener Straße, berichtet von den politischen und ethnischen Säuberungsaktionen, schildert den Mord an ihrem Mann und das lange Siechtum ihrer Tochter und legt Zeugnis ab vom täglichen Kampf ums nackte Überleben. Das Aufschütten eines Deiches – dem »Deich der Witwen« – mit bloßen Händen ist darin nur eine kleine Anekdote, die ihrem ergreifenden und detaillierten Zeugenbericht seinen Titel gibt.
Überaus lesenswert ist hier auch das Nachwort des amerikanischen Historikers und Kambodscha-Experten David Chandler, in dem er Affonços Bericht historisch einordnet. Sein prägnantes Nachwort macht deutlich, welche große Lücke in Deutschland beim Thema »Kambodscha unter den Roten Khmer« existiert. Weder Chandlers fulminante Pol-Pot-Biographie noch seine umfassende Geschichte des Foltergefängnisses S21 liegen in deutscher Übersetzung vor. Gleiches gilt für die tiefgründigen Arbeiten seines australischen Kollegen Ben Kiernan, der sich intensiv mit dem Terror des Regimes um »Bruder Nummer 1« und dessen Einordnung als Völkermord auseinandergesetzt hat. Einzig Kiernans hervorragendes Überblickswerk Erde und Blut. Völkermord und Vernichtung von der Antike bis heute liegt in deutscher Übersetzung vor. Im kommenden Jahr jährt sich die Machtergreifung der Roten Khmer zum vierzigsten Mal. Dies könnte den deutschen Verlagen Anlass genug bieten, Chandlers und Kiernans Werke auch den deutschen Lesern zu erschließen.
Die größte Distanz zwischen erlebter Grausamkeit und ihrer Verarbeitung räumt sich die Amerikanerin Vaddey Ratner in ihrem Roman Im Schatten des Banyanbaumes ein. Die 1982 in die USA geflohene Nachfahrin von König Sisowath I., der Anfang des 20. Jahrhunderts in Kambodscha regierte, verlor als Angehörige der kambodschanischen Oberschicht mit der Machtergreifung der Roten Khmer alles. Ihre Familie galt als vermögend, privilegiert und intellektuell, zahlreiche Verwandte wurden unter Pol Pot umgebracht. Es überlebten nur so viele, wie »unter dem heiligen Banyanbaum Platz finden«, wie es in der Prophezeiung ihrer Familie hieß.
In ihrem Roman erzählt sie von der Herrschaft der Steinzeitkommunisten aus der Perspektive der siebenjährigen Raami – sie selbst war bei deren Machtübernahme fünf Jahre alt – deren Familie im Laufe des Romans immer kleiner wird. Sie erlebt den brutalen Verlust des Vaters, der Großmutter, der Schwester, sie sieht das tägliche Meucheln und Morden der Kindersoldaten der Roten Khmer und wundert sich über deren Kaltblütigkeit. Vaddey Ratner hat das, was ihre kindliche Protagonistin erlebt, am eigenen leib erfahren müssen. Sie hat als Kind die Arbeitslager der Roten Khmer nur überlebt, weil sie heimlich Kröten und Mäusen nachgejagt und Wurzeln gegessen hat, um dem nie abwesenden Hungergefühl etwas entgegenzusetzen. Sie selbst hat so viele Familienmitglieder verloren, bis sie allein mit ihrer Mutter im Schatten des heiligen Baumes saß.
Dennoch schreibt Ratner nicht aus einer Wut heraus, sondern aus der Absicht, den Misshandelten ein Denkmal zu setzen. Sie ist motiviert von der Liebe zu einem Land, das eine grausame Vergewaltigung erlebt hat. Dessen idyllische Reisfelder, über die am Morgen friedlich pittoreske Nebelschwaden ziehen, zu Killing Fields verwandelt wurden, aus denen noch heute Knochen an die Oberfläche gespült werden, wenn es heftig regnet. Dessen historische Mythen während der Gewaltherrschaft der Steinzeitkommunisten gestürzt wurden. Den Roten Khmer will sie nach dem ebenso umstrittenen wie enttäuschenden UN-Tribunal nun die Deutungshoheit entreißen. Sie bekommen nur den für die Erzählung notwendigen Raum in diesem ergreifenden Roman, der größte Teil ist den Opfern, ihren gebrochenen Träumen und wie Nebelschwaden dahinziehenden Hoffnungen gewidmet.
Am Ende flieht Raami mit ihrer Mutter aus dem Land der kommunistischen Schergen – den Plan dafür trugen sie die ganze Zeit unbewusst bei sich. »Mama klammerte sich an ein Papierschiff und ein Gedichtband und ich mich an die Berge und Flüsse, die Geister und Stimmen und an die Erzählungen eines Landes, die mich auf meiner Reise abwechselnd beschützten und überschatteten«, heißt es am Ende des Romans. Die Berge und Flüsse, Geister und Stimmen, an die sich Vattney Ratner bei ihrer Flucht aus dem Land klammerte, lässt sie mit diesem Roman endlich los und findet zu sich selbst und ihrer tragischen Geschichte.