Wenn man Visionär ist, eckt man an oder wird nicht gehört. Der Historiker und Querdenker Michael Wolffsohn kennt beides nur zu gut. In seinem neuen Buch »Zum Weltfrieden« präsentiert er nun den Föderalismus als Heilmittel gegen die Krisen unserer Zeit.
Michael Wolffsohn ist ein unbequemer Denker. Ein querdenkender Konservativer. Ein moralischer Zeitgenosse, dem man nicht mit Moral kommen darf. Um herauszufinden, wie schwer es vielen fällt, ihn einzuordnen, bedarf es nur einen Blick auf den Eintrag Michael Wolffsohn auf Wikipedia. Da erfährt man, dass der am 17. Mai 1947 geborene Sohn einer 1939 nach Palästina geflüchteten jüdischen Kaufmannsfamilie und Enkel des Verlegers und Kinopioniers Karl Wolffsohn ist. Dass er 1954 mit seinen Eltern nach West-Berlin übersiedelte, 1966 sein Geschichtsstudium an der Freien Universität Berlin begann, 1975 promovierte und dann zunächst 1979 in den Politikwissenschaften und schließlich 1980 in Zeitgeschichte habilitierte. Anschließend lehrte er bis zu seiner Emeritierung 2012 an der Universität der Bundeswehr in München als Professor für Neuere Geschichte, wo er 1991 die Forschungsstelle Deutsch-Jüdische Zeitgeschichte gründete. Man kann die Fußnote aber nicht übersehen, die bei der Information gesetzt ist, er sei ist »ein deutscher Historiker und Publizist«. Die Fußnote steht weder bei Historiker noch bei Publizist, sondern bei deutsch. Und in der Fußnote wird auf seinen Lebenslauf verwiesen. Skurril!
Deutscher und Jude, dass passt für viele immer noch nicht zusammen, auch wenn Wolffsohn die Schwierigkeiten um seine Person weniger auf seine Religion bezieht als vielmehr auf seine Thesen und seine Person bezieht – »beide schwierig«, wie er 2012 in Die Welt betonte. Dem Tagesspiegel sagte er jüngst, dass er als »kosmopolitischer deutsch-jüdischer Patriot in der Tradition der Emanzipation« eigenartig aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Ein Typ, der aneckt, der gerne auch anecken möchte.
Ja, Wolffsohn macht es einem nicht leicht, auch nicht mit seinem jüngsten Buch Zum Weltfrieden – Ein politischer Entwurf. Mit diesem Titel verweist er auf Immanuel Kant und dessen Schrift Zum ewigen Frieden – Ein philosophischer Entwurf aus dem Jahre 1795. Wolffsohn legt bewusst die Latte hoch, obwohl schon so mancher durchgefallen ist, der sich in die Ahnenreihe der ganz großen Denker stellen wollte. Schwierig zu sagen, ob Wolffsohn die Latte reißt oder sie doch nimmt. Neben klugen Analysen und mutigen Thesen stehen reduzierte Rezepte, die durch Redundanz nicht wirksamer werden.
Als Experte auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen, der israelischen und deutsch-jüdischen Geschichte sowie der historischen Demoskopie ist sein »politischer Entwurf« das Ergebnis seiner jahrelangen Forschungen. Eher ein Thesenbuch als eine Studie. Eher nach vorne gedacht als zurückgeschaut.
Zunächst einmal verwundernd, dass ein selbsternannter Patriot so wenig vom Nationalstaat hält. Ausgehend vom Befund von etlichen failing states und der Prognose, dass deren Zahl in Zukunft zunehmen werde, stellt Wolffsohn das Konzept von Nationalstaaten in Gänze in Frage. Dieses Konzept mag in einigen Staaten Europas funktionieren, es sei aber ein völlig ungeeignetes Modell für die Staaten, die als Folge der Ergebnisse des Ersten Weltkriegs oder der Dekolonialisierung entstanden seien. Bei diesen Staaten käme die politische Geographie mit der Demographie nicht in Deckung. Dies sei aber eine der Voraussetzungen für einen Nationalstaat: ein geografisch definierbares Gebiet mit einer annähernd kulturell homogenen Bevölkerung. Eben weil dies in der gegenwärtigen Staatenwelt nur in Ausnahmen gegeben ist, sei es absurd, »an der Fiktion von der Dauerhaftigkeit unserer Staatenwelt« festzuhalten«. Und Wolffsohn führt fort: »Unsere Staatenwelt ist ein Kunstprodukt. Sie ist eine Kopfgeburt und als Kopfgeburt eine Totgeburt.«
In der Tat führt der Politologe und Historiker im zweiten und dritten Kapitel im empirischen Teil des Buches durch die Spannungsgebiete und Krisenregionen der Welt. Sie befinden sich vor allem in den Gegenden der Welt, die 1919 in den Pariser Vorortverträgen entstanden sind oder in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts entkolonisiert wurden, im subsaharischen Afrika und Asien also. Nicht alle Gegenden sind weit von uns entfernt, sondern sie befinden sich direkt vor der Haustüre Europas in Nordafrika und im Nahen Osten, aber eben auch in Europa selbst wie im Baltikum, wie in Spanien, in Belgien oder in Großbritannien, wo im September 2014 eine Abstimmung über die Unabhängigkeit Schottlands stattfand. Selbst über die unmittelbare Unendlichkeit europäischer Staaten würde Wolffsohn keine Wette eingehen.
Nun ist dieses Buch aber mit einer sehr optimistischen Botschaft ausgestattet. Welches Rezept bietet uns der Autor also an, den Dilemmata von gescheiterten und scheiternden Staaten zu begegnen? Mit den Worten Wolffsohns: »Staaten sind wie Töpfe. Wenn Topf und Deckel nicht zueinander passen, sind sie mehr schlecht als recht zu gebrauchen. Welchen Deckel braucht welcher Topf? Politisch gefragt: Welchen staatlichen Rahmen, welchen staatlichen Überbau braucht diese oder jene Gesellschaft.« Sein überzeugender Lösungsvorschlag lautet: Föderalismus, verstanden sowohl im Sinne von räumlich-territorialer als auch personal-gruppenbezogener Selbstbestimmung und Machtteilung innerhalb und gegebenenfalls zwischen Staaten. Es ist – bezogen auf einen Staat – das Rollenmodell Bundesrepublik. Dass dabei gerne auch »Deutschland« mitgedacht wird, würde Wolffsohn bestimmt nicht verneinen, vor allem aber verweist er auf den Föderalismus, wie er in den Vereinigten Staaten gedacht wurde (und zuweilen auch noch wird) und wie er dort entstanden ist.
Die Vereinigten Staaten sind Wolffsohns Vorbild, nicht zufällig ist dem Buch der Satz »We all are Federalists« vorangestellt, der aus der Antrittsrede von Thomas Jefferson als dritter Präsident der USA stammt. Für Jefferson als den Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und als einer der einflussreichsten Staatstheoretiker der USA versprachen föderative Strukturen ein System von Kontrolle und Gleichgewicht. Vielleicht war in den Staaten kein anderes Modell vorstellbar, da sie von Anfang an kein Nationalstaat, sondern immer ein Nationalitäten-Staat waren. Die Bundesrepublik Deutschland hat nach dem Zweiten Weltkrieg sehr bewusst weder das französisch-zentralistische noch das britisch-zentralistische Modell verordnet bekommen, sondern eben das amerikanisch-föderative: Das föderalistische Erbe Deutschlands vieler Jahrhunderte mag ein wichtiger Grund gewesen sein, es sollte zudem eine politische Struktur für einen inneren und äußeren Frieden sowie für eine innere und äußere Begrenzung geben.
Wolffsohn breitet sein Konzept von Föderalismus in territorialer wie personaler Dimension sowohl in innerstaatlichen Realitäten wie in zwischenstaatlichen Konstellationen aus und erläutert, was er unter territorialer und personaler Selbstbestimmung versteht. Wieder verweist er auf politische Mythen, die gerne geglaubt wurden, die aber dennoch sehr unrealistisch seien, so etwa die Annahme von homogen-nationalen Bevölkerungsstrukturen. Die Inselstaaten Island und Japan sind Ausnahmen, nicht die Regel. Wer aufmerksam durch die Großstädte Deutschlands läuft, sieht auch in diesem Land, wie multinational, multiethnisch, multikulturell und multikonfessionell es geworden ist.
Intensiv beschäftigt sich Wolffsohn mit der Frage des Zusammenlebens von Muslimen und Nicht-Muslimen in Deutschland und Westeuropa. Eine bittere Feststellung: »Zwischen beiden und in jeder gibt es weniger Wir als vielmehr Ihr-Wir.« Wolffsohn hat keine Angst vor Parallelgesellschaften. Für ihn ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Minderheiten in offenen, pluralen und vielschichtigen Gesellschaften Selbstbestimmung grundsätzlich gewährt wird. Religiöse Gemeinschaften können ihr Innenleben weitgehend selbst bestimmen, zum Teil sogar im Rechtswesen. Aber: »Voraussetzung ist, dass eine solche personale, gruppen-bezogene Autonomie das Wir einer Gesamtgesellschaft, einer staatlichen Gemeinschaft, stärkt und nicht verhindert.« Freiheit nicht als gesellschaftliche Beliebigkeit, sondern als Voraussetzung für ein positives Selbstbild der Gesellschaft, der man angehört. Freiheit als Voraussetzung für eine inkludierende und inklusive Gesellschaft.
Mit Positionen wie dieser zeigt er sich einmal mehr als unbequem, der gerade benannte Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels Navid Kermani ist da grundsätzlicher. Die Selbstbestimmung einer Gemeinschaft sieht er nicht als Belohnung für ihren Integrationsbeitrag, sondern als grundsätzliche Basis einer demokratischen Gesellschaft. Als die Schweizer zur Abstimmung über das so genannte Minarettverbot schritten, sagte Kermani, dass mit diesem Vorgang die »Grundrechte, noch dazu die Grundrechte einer Minderheit, in einer demokratischen Abstimmung zur Disposition gestellt werden und damit keine Grundrechte mehr sind.« Wolffsohn sieht das anders und scheut nicht die Auseinandersetzung.
So quer Wolffsohn in innerstaatlichen Konstellationen denkt, so mutig denkt er auch bei zwischenstaatlichen Beziehungen. So stellt er sich die Frage, wie Kommunikationsgemeinschaften, also Völker, gesellschaftlich, politisch und kulturell miteinander verbunden bleiben können, wenn sie über mehrere Staaten verteilt sind. Das gängigste Beispiel sind die Kurden, die auf den Iran, den Irak, Syrien und die Türkei verteilt sind. Wolffsohn schlägt eine Kombination von bundesstaatlichen Elementen in und einen Staatenbund zwischen diesen Staaten vor. Eine komplizierter Vorschlag, Bundesstaat und Staatenbund miteinander zu verschränken, allerdings, so entgegnet Wolffsohn, sind die aktuellen, de facto bürgerkriegsähnlichen Verhältnisse noch komplizierter und sie kosten zudem Menschen das Leben. Ähnlich argumentiert er auch beim Verhältnis zwischen Israel, Palästina und Jordanien.
Dem unbequemen Denker Wolffsohn gelingt ein überraschend mutiges und immer wieder auch visionäres Buch. Endlich mal einer, der Alternativen entwirft, der Visionen entwickelt, der sich nicht der normativen Kraft des Faktischen verschreibt. Von »politischem Klein-Klein«, von Alternativlosigkeiten haben wir in den letzten Jahren oft genug zu hören bekommen. Wir bräuchten mehr Querdenker wie Wolffsohn.
Zum Weltfrieden ist zunächst aber nur ein Entwurf, wie es der Untertitel angibt. Es gäbe wohl bei allen Konstellationen, denen Wolffsohn sein föderales Modell von personaler sowie territorialer Selbstbestimmung als Rezept verschreibt, etliche Fragen, die man gerne im Beipackzettel beantwortet finden möchte. Als Leser hätte man zudem zu gerne erfahren, wie er die aktuellen Krisen der Europäischen Union, an ihren östlichen Rändern und im Süden am Mittelmeer begreift, und welche Vorschläge er diesem föderalen Verbund von Staaten machen würde. Dafür braucht es aber wohl ein ganz eigenes Buch.
[…] progressiv bezeichnen möchte. Seine Worte zur Migration sind klar und unmissverständlich, seine Vorschläge, die er in seinem Buch »Zum Weltfrieden« ausgebreitet hat, weisen weit in die Zukunft. Schade nur, dass er den demographischen Verschiebungen so wenig Raum […]