Groß ist die Freude, hat man eine der begehrten Berlinale-AkkrediTIERungen ergattert, schließlich verspricht sie den exklusiven Zugang zu allen Filmen. Doch ist man erst einmal Teil dieser exklusiven Herde, zweifelt man schnell an dieser vermeintlichen Kulturelite. Einblicke in die ökologische Nische einer eitlen Spezies.
A – Ahem resp. Ähem: Hüsteln, wenn das Licht im Saal ausgeht. In keinem Screening wird der Filmstart derart verhüstelt, wie bei einem Pressescreening. Als müssten die Kritiker schon vor dem ersten Bild ihrem Ruf alle Ehre machen und ein skeptisches »Ahem« in die Runde schicken, auf dass es zahlreiche Nachahmer finden möge (siehe #Ehrlichkeit).
B – Badge: Hängt am Ende des artgerechten, jährlich wechselnden Berlinale-Halsbandes, das dem AkkrediTIER bei der Registrierung ausgehändigt wird. Die Badges sind in verschiedenen Farben ausgeführt. Je nach Profession – Festivalteilnehmende, Presse, Händler, etc. – unterscheiden sich Farbausführung und Exklusivität des Zugangs zu den Filmen. Die gebadgten AkkrediTIERE stehen am Abend auch gern am Rande des Einlasses der öffentlichen Vorführungen und gieren auf die bis kurz vor den Filmstart freibleibenden Plätze in den ersten Reihen und am Rand, die sie panisch stürmen, sobald diese von den Kinobetreibern freigegeben sind.
C – Champagner: Fließt bei der Berlinale natürlich in Strömen – wenn man auf den richtigen Partys ist. Die Auswahl ist groß, reicht von der Young Filmmakers Party über den Freshly Squeezed Talent at Berlinale w/Fest & Cinema Jam, die Movie meets Media Party oder dem Gelage des Medienbord Berlin-Brandenburg bis hin zur geheimen und absolut exklusiven Off-Berlinale. Wohin das AkrrediTIER aber auch immer geht, woanders war mehr los, war die Stimmung besser und schmeckte der Champagner besser. Allerdings sitzen jene AkkrediTIERE, die diese andere Party verpasst haben, morgens erholter im Kinosaal.
D – Drängeln: Zwar erhält das AkkrediTIER durch Sondervorführungen und Sonderkontingente für die Publikumsvorführungen den exklusiven Zugang zu allen Filmen, seinen Instinkt, bei Menschenaufläufen vor dem Kino mit mehr als zehn Personen energisch zu drängeln und zu schieben, hat es sich dennoch erhalten. Diesem Trieb zur Seite gestellt ist die Gabe des irritiert-dummen Gesichtes, das es immer dann aufsetzt, wenn es gebeten wird, das Drängeln und Schieben zu unterlassen.
E – Ehrlichkeit: Eine rare Eigenschaft im Umgang miteinander. Stattdessen viel falsches Lächeln und geheucheltes Interesse. Zum Ausgleich fallen die Kritiken dann besonders »ehrlich« aus. In die Texte fließt all die angestaute Aggressivität, die, wie Nietzsche schon wusste, das Dauergrinsen gegenüber den Artgenossen gebiert.
F – Forum: Die eigentliche Königssektion auf der Berlinale. Hier (und nur hier!!!) laufen die intellektuellen und avantgardistischen Perlen des Festivals. Der ahnungslose Cineast ist beim feuilletonieren immer wieder »überrascht«, wie »faszinierend«, »erstaunlich« oder »perspektiverweiternd« Dokumentationen über queere bengalische Stahlkocher oder mit Hühnerköpfen Fußball spielende Romakinder sind. Das durchschnittliche AkkrediTIER nickt heftig, aber ahnungslos.
G – Generation: In dieser Reihe präsentiert das Festival Kino für das junge Publikum. Was das genau heißt, wird nicht definiert, auf den Festivalseiten ist von einer »unverändert offenen Zielgruppenzuschreibung« die Rede. Hier kann sich das AkkrediTIER noch einmal richtig jung fühlen. Im Wesentlichen dient die Sektion aber der begrüßenswerten Öffnung des Kinos für junge Menschen. AkkrediTIERE, die ein ehrliches Interesse an den Perspektiven des Kinos als Institution haben, müssen nur eine der Vorführungen für Schulklassen besuchen.
H – Hygiene: In jedem Jahr erneut ein Thema, dass man gern meiden möchte, dann aber doch nicht umhin kommt. Der Grund ist der Mangel eben jener beim typischen AkkrediTIER ab dem dritten Tag des Festivals. Spätestens nach dem ersten Festivalwochenende und zahlreichen hitzigen Berlinalepartys (siehe #Champagner) schlägt sich jener Mangel in trägen, durch den Berlinalepalast ziehenden Schweißschwaden durch. In deren beißendes Aroma mischen sich die schwindelerregenden Fahnen verfestigter Alkoholismen und der schwere Odeur von aus viel zu engen Schuhen befreiten Füßen.
I – Intellektuell: Ein kurzer Exkurs in die Psychologie ist vonnöten, denn diese hat gelehrt, zwischen Selbstbild und Fremdbild zu unterscheiden. Das Selbstbild des AkkrediTIERs zeigt ein durch und durch intellektuelles und kultiviertes Wesen, das aufgrund des jahrelangen Expertentums zu singulären Erkenntnissen gelangt (die es mit anderen übrigens nur dann teilt, wenn diese bereits gedruckt resp. gesendet sind oder aber, wenn es gilt, möglichst lautstark im Austausch die Oberhand zu gewinnen). Zum Fremdbild ist nicht viel mehr zu sagen, als dass es sich vom Selbstbild meist diametral unterscheidet.
J – Jury resp. Internationale Jury: Mit Prominenz besetzt bestimmt sie jedes Jahr über die Vergabe der Bären. Ihr täglicher Einzug in den Käfig des AkkrediTIERs sorgt verlässlich für peinliche Szenen, da die offiziellen Fotos ihrer Mitglieder nicht für das heimische Selfie-vor-Prominenz-Archiv gereichen. Der Grad der gemutmaßten Vertrautheit der Jurymitglieder untereinander sorgt für den zehn Tage währenden Berlinale-Tratsch.
K – Konferenz resp. Pressekonferenz (PK): Die Feuilletons von Zeit, FAZ und Süddeutsche Zeitung genießen einen ebenso exzellenten Ruf wie die Redaktionen von Titel, Thesen, Temperamente oder der Kulturzeit auf 3sat. Bei den Pressekonferenzen der Berlinale spielen sie keine Rolle, diese sind in der festen Hand einzelner AkkrediTIERE und ihrer Spartenmedien. Hier hört man das erste Mal vom Weltexpresso in Frankfurt oder den African Refugee News. Verlässlich kommentieren die diesen Medien zugeordneten AkkrediTIERE ungefragt jeden Film oder rätseln, mit den Armen rudernd, um die Bedeutung noch der letzten Metapher. Man staunt auch Bauklötzer angesichts der Elogen, die Ann-Christin aus Kanada oder Johannes aus Freiburg auf jeden Film singen. So sorgen sie unter ihren anwesenden Artverwandten anfangs für Amüsement, nach drei Tagen für peinliches Wegducken und spätestens ab Mitte des Festivals für ungläubiges bis genervtes Kopfschütteln. Wer sich eine Vorstellung über das AkkrediTIER in einer Pressekonferenz machen will, dem sei dieses Video vom rbb empfohlen.
L – Langeweile: Eine Attitüde, die man als AkkrediTIER unbedingt beherrschen muss. Denn für das Durchschnittsexemplar dieser Spezies ist es eine Unverschämtheit, seine Zeit mit unzähligen, in seinen Augen unzumutbaren Filmen verbringen zu müssen. Die wirklich guten Filme laufen vermeintlich immer woanders. Das ist das Leid des AkkrediTIERs.
M – Mittagessen: Wichtigste Mahlzeit des Tages, wahlweise auf der Berlinale-Lunchmeile oder im Untergeschoss der Potsdamer Platz Arkaden. Wird in die kurze Pause zwischen der zweiten und dritten Pressevorführung gequetscht. Nach der Hälfte des Festivals weiß das AkkrediTIER normalerweise, an welchen Imbissstand es für den Rest des Festivals eilen wird, um sich für die zweite Kinohälfte des Tages zu stärken. Aber Vorsicht, das Mahl darf nicht zu schwer im Magen liegen, sonst werden die Augen am Nachmittag gaaanzzz gaaaaaaaannnnnzzzzzz schweeeeeeeeeeer.
N – Nachtleben: AkkrediTIERE aus der Hauptstadt spielen hier nur eine Nebenrolle, Angereiste aus dem In- und Ausland lassen es hier aber richtig krachen (siehe #Champagner). Die Folgen sind zahlreiche schnaufend-stöhnende AkkrediTIERE mit dem Odeur eines Schwerstalkoholikers im Pressescreening um neun Uhr morgens sowie deutlich hörbares Schnarchen im Kino ab 15 Uhr.
O – Orakel: Im Wettbewerb um die goldene Ananas für das treffsicherste Bärenhoroskop schwingt sich das Alpha-AkkrediTIER zum Jurymitglied auf und orakelt nach jeder Vorführung einen neuen Favoriten für diesen oder jenen Bären. Ein Blick auf die Bewertungen der verschiedenen Ersatzjurys unter den AkkrediTIEREn zeigt deutlich, dass man derlei Weissagungen geflissentlich ignorieren kann. Zumal immer noch folgende Regel gilt: »Eine Jury ist eine Jury ist eine Jury.«
P – Panorama: Im Grunde die kleine Schwester des Wettbewerbs, weshalb das Stadtmagazin tip und radioeins 1999 auch den Panorama-Publikumspreis ausgeschrieben haben. Hier laufen (Autoren-)Filme (sogenanntes Arthouse-Kino), die unterhalten und deren Chancen recht groß sind, demnächst in den Programmkinos zu laufen. Das AkkrediTIER besucht diese Filmreihe gern, um sich vom Wettbewerb zu erholen, die Aufmerksamkeit steht dabei in einem umgekehrten Verhältnis zur Anzahl der durchzechten Nächte.
Q – Qualitätsjournalismus: Die Aufnahme in den exklusiven Kreis der AkkrediTIERE ist bei der Berlinale kein Kinderspiel, es braucht ein Empfehlungsschreiben eines branchentypischen Auftragsgebers oder ausreichend Belege zu filmkritischen oder Vermarktungsarbeit. Umso überraschter ist man, wenn man die Gespräche auf der Berlinale verfolgt. »Ich fand…«, »Mir ging es…«, »Ich meine…« . Mindestens jedem dritten AkkrediTIER geht ein Blick über den eigenen Tellerrand hinaus vollkommen ab. Qualität im Sinne filmografischen Vorwissens oder der Mühe einer Reflektion des Gesehenen sucht man viel zu häufig vergebens (siehe auch #Konferenz).
R – Rennen: Das AkkrediTIER neigt zu schnelle Schritten. Nicht selten liegt der Rhythmus des Schrittes über der Verträglichkeit der von den Zigaretten der letzten Nacht belasteten Lungenflügel. Aber Vorsicht vor dem eilenden AkkrediTIER, nichts kann dieses Wesen in seinem zielstrebigen Lauf aufhalten.
S – Sitzkoller: Der exklusive Zugang zu den Berlinale-Beiträge (siehe #Badge) führt zum exzessiven Kinobesuch. Drei Filme am Tag sind Minimum, vier Standard, fünf keine Seltenheit, sechs eine (mit etwas Geschick und Ortskenntnis gut zu bewältigende) organisatorische Herausforderung (siehe #Zeitplan), alles ab sieben ist Königsdisziplin. Ohne das Abschlusswochenende kommt das AkkrediTIER bei neun Tagen auf 27 bis 63 Filme, wobei das tägliche Pensum im umgekehrten Verhältnis zur redaktionellen Verpflichtung steht. Da streiken irgendwann auch die geduldigsten Gliedmaßen ob der fehlenden Belastung. Reicht zu Beginn des Festivals noch ein einmaliger Wechsel der Sitzposition pro Film, artet der unterdrückte Bewegungsdrang ab Tag sechs in ein krampfhaftes Ansichhalten aus, das man sich in etwa so vorstellen muss, als säße man in einem Ameisenhaufen und dürfte sich nicht bewegen. Ja, das ist ein Luxusproblem. Unangenehm ist es dennoch.
T – Tasche resp. Berlinale-Tasche: Wer zu spät kommt, den bestraft der #Kosslick, denn Zuspätkommer fragen im Pressezentrum im Keller des Berlinale-Palasts zuweilen vergebens nach der begehrten Werbetasche, die das AkkrediTIER zehn Tage mit sich herumträgt, als hätte man ihm am ersten Tag den eigenen Tragesack entwendet. Gemeinsam mit dem #Badge-Halsband wird die Berlinale-Tasche zum unverkennbaren Brandzeichen der Zugehörigkeit zur Herde der Auserwählten.
U – Unterhaltung: Im Wettbewerb unter Dieter Kosslick nahezu verboten. Es dominieren seit Jahren die großen Dramen und Katastrophen. Die Herde der AkkrediTIERE spaltet sich hier in zwei Lager: die Befürworter dieser Entwicklung sehen in der Unterhaltung ihren intellektuellen Anspruch an einen Film mit den Füßen getreten, die Gegner argumentieren, dass kluge Unterhaltung die deutlich größere intellektuelle Herausforderung sei. Für sie gibt es auf dem Wettbewerbsniveau die Sektion Berlinale Special, ein schüchternes Zugeständnis (Außer Konkurrenz) der Festivalleitung an den Wert der Unterhaltung (siehe #Qualitätsjournalismus).
V – Verabredung: Das Filmfestival ist vor allem ein Netzwerktreffen. Längst überfällige Verabredungen werden hier endlich nachgeholt, zum Frühstück im Hyatt, zum #Mittagessen beim Italiener in Wilmersdorf, zum Abendessen in Charlottenburg. Störend sind einzig und allein die Filme, die das AkkrediTIER sehen muss oder sehen zu müssen meint. Zu loben ist aber die Zurückhaltung des AkkrediTIERs im Kinosaal. Berichte von heimlichen Knutschereien oder Fummeleien sind dem Autor nicht zu Ohren gekommen, den körperlichen Verlockungen geht das typische AkkrediTIER erst am Abend auf einer der Berlinale-Partys nach (siehe #Champagner).
W – Weinen: AkkrediTIERE dürfen nicht weinen, denn Emotionalität schadet der Sachlichkeit!!! Läuft ihnen doch einmal eine Träne über die Wange, würden sie das auf die Dauerbelastung der Netzhaut durch exzessiven Filmkonsum schieben. Umso aufgeregter wurde in diesem Jahr gemutmaßt, dass Anne Zohra Berracheds Film 24 Wochen mit Julia Jentsch in der Hauptrolle sicher einen Preis gewinnt, weil Jurypräsidentin Meryl Streep geweint haben soll. Verlässliche Quellen für Streeps Tränen gab es übrigens nicht, einen Bären für Berracheds Film übrigens ebenso wenig.
X – x-beliebig: Nein, hier geht es nicht um das Paarungsverhalten des AkkrediTIERs (siehe #Verabredung), sondern um Zerstreuung. Selbst im straffsten #Zeitplan gibt es Phasen, in denen das AkkrediTIER in der schützenden Höhle des Kinosaals Zuflucht sucht, um sich zu zerstreuen – etwa um eine 75-minütige Lücke zu füllen oder eine Mütze Schlaf nachzuholen. Dann wird eine x-beliebige Pressevorführung aufgesucht, die dann als Lückenbüßer herhalten muss.
Y – Youtube: Wer meint, das AkkrediTIER kommt während der Berlinale ohne Youtube aus, hat sich getäuscht, denn auf dem offiziellen Festivalkanal www.youtube.com/berlinale findet man noch am schnellsten die Highlights der Pressekonferenzen (siehe #Konferenz) und am Roten Teppich. Für den schnellen Zitatcheck Gold wert.
Z – Zeitplan: Wird mithilfe der Berlinale-App erstellt und tickert auf jedem Handy. Wird ständig aktualisiert und gibt dem AkkrediTIER die Geschwindigkeit vor, mit dem es die Kinosäle wechselt (siehe #Sitzkoller). Zuweilen diktiert es ihm auch die Anzahl der Minuten, die es in einem Film verbringt, bevor es in den nächstbesten hoppt.