Zum zwölften Mal wurden heute auf der Leipziger Buchmesse die messeeigenen Literaturpreise in den Kategorien Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung vergeben. Den laut Kritikerjury besten Roman des Frühjahrs hat der Göttinger Schriftsteller Guntram Vesper geschrieben, er spielt nur wenige Kilometer von Leipzig entfernt.
Im vergangenen Jahr hatte der scheidende Juryvorsitzende Hubertus Winkler das Leipziger Messepublikum in einige Szeneinterna eingeweiht. Er gestand, dass die Literaturkritik vor allem deshalb noch nicht tot sei, weil die Damen und Herren Kritiker zunehmend das performative herauskehren und sich als Moderatoren, Juroren oder Professoren nicht nur zusätzliche Meriten, sondern auch einen Großteil ihres Einkommens verdienten. Das und nicht ihr literaturkritisches, journalistisches Schaffen halte sie über Wasser.
Winklers Nachfolgerin, die Literatur- und Musikkritikerin Kristina Maidt-Zinke von der Süddeutschen Zeitung nahm diesen Faden in ihrer Rede zur Preisverleihung auf. Es gebe zwar wichtigere Debatten, vor allem dieser Tage, sagte sie, aber auf einem Literaturevent wie diesem müsse man auch über die Zukunft der Literaturkritik reden dürfen. Und sie ging noch einen Schritt weiter als Winkler, beschönigte nichts, sondern hob mahnend den Kritikerfinger in Richtung Verlage und Funkhäuser. Die klassische Literaturkritik gehöre zu der »Gattung der aussterbenden Arten«, sei ein »bedrohtes Gewerbe«, weil sie nicht in die neoliberale Zeit passe. Sie erzeuge kein Geldwert und lenke von der Bürgerpflicht des Konsumierens ab, erklärte sie vor der bundesdeutschen Kritikerelite. Diese eklatant krisenanfällige Kunst sei aber erhaltenswert, führte Maidt-Zinke aus, denn sie diene, indem sie die Kunstwerke aus der kaum mehr zu erfassenden Menge der Lesestoffe picke und diese im Sinne ihrer gesellschaftlichen Funktionen und Bedeutungen reflektiere, der Aufklärung und Bewusstseinserweiterung des Lesers.
Im diesem Sinne waltete die Jury auch in diesem Frühjahr ihres Amtes und pickte die Kunstwerke aus den Bücherstapeln. 401 Bücher hatte sie gesichtet, um in den drei Kategorien Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung jeweils fünf Bücher auf eine Shortlist und damit in den Fokus der Leser zu setzen.
Der beste Roman des Bücherfrühjahrs ist der Eintausendseiter Frohburg des Göttinger Schriftstellers Guntram Vesper. Der war von der Auszeichnung derart überrascht, dass er nicht mehr als ein »Herzlichen Dank. Mehr kann ich nicht sagen.« hervorbrachte. Der Roman ist das Resultat eines lebenslangen Verarbeitens der Erinnerungen an und Reflektionen über einen Ort, den der Autor als 15-jähriger mit seinen Eltern verlassen hat. Losgelassen hat er ihn nie.
Frohburg sei ein »Mammutwerk«, in dem Vesper eine umfangreiche Geschichtslandschaft vor dem Leser ausbreite und dabei »die große Geschichte – Weltkrieg, Einmarsch der Roten Armee, DDR-Alltag, auch Alltag des bundesrepublikanischen Literaturbetriebs – mit dem Kleinen, der Geschichte Frohburgs und der eigenen Familiengeschichte verknüpft«, begründete Dirk Knipphals die Juryentscheidung. Er hob vor allem hervor, dass Guntram Vesper in seiner Familien-, Stadt- und Landeshistorie aus den kleinen Leuten, die darin eine elementar wichtige Rolle spielen, keine Helden mache. Mit Frohburg habe man ein »lebenssattes Buch« in den Händen mit einem »immer wieder von sich selbst überraschtem Erzähler«, heißt es in der Jurybegründung zu diesem voluminösen Roman.
Bei aller Größe ist auch ein Blick auf die Ebene der einzelnen Sätze lohnenswert. »Die Sätze in diesem Buch sind lang, oft bringen sie gleich mehrere Perspektiven zusammen, und sie sind stets konkret, geatmet, nah dran an der Mündlichkeit. Insgesamt folgen sie dabei einer Ästhetik des Verknüpfens. Man spürt beim Lesen manchmal gar nicht, wie gleitend diese Sätze einen durch die Zeiten und Geschichten, Namen und Schauplätze tragen.«
Neben Guntram Vesper waren auch Marion Poschmann, Heinz Struck, Nis-Momme Stockmann und Roland Schimmelpfennig für den Preis nominiert. Hier finden Sie unseren Blick auf die nominierten Belletristik-Titel. Im vergangenen Jahr gewann Jan Wagner mit seinem Gedichtband Regentonnenvariationen den Preis.
Der Philosoph Jürgen Goldstein, der 2013 einen eindrucksvollen Band mit Entdeckergeschichten vorgelegt hat, erhielt für seine Entdecker-, Zeichner-, Schriftsteller- und Politikerbiografie von Georg Forster den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch/Essayistik. Zwischen Freiheit und Naturgewalt heißt sein Buch, dass den Weltreisenden und Jakobiner Forster in all seinen Facetten vorstellt.
»Ein Abenteuerroman« sei es geworden, begründete Meike Fessmann für die Jury, in dem der »jene kurze Episode des Globalisierungsprozesses aufleuchten [lasse], als Entdeckungen noch Verheißungen waren, noch nicht auf der Kippe, um in Verlustgeschichte umzuschlagen. Goldstein zeigte sich in seiner kurzen Dankesrede vollen Lobes für den »wundervollen Prosaautoren« Georg Forster, dem er gern einmal die Hand geschüttelt hätte.
Zumindest sprachlich scheint er dies getan zu haben, die Jury lobte seine anschauliche und unaufgeregte Prosa, die klinge, als wäre Goldstein bei Forster in die Lehre gegangen. Diesen lasse er immer wieder zu Wort kommen, tariere fein das Verhältnis von Originalzitaten und Deutung aus. Entschlossen trete Goldstein »hinter seinen Gegenstand zurück, der dadurch umso besser zur Geltung kommt«, so die Begründung der Jury.
Neben Jürgen Goldstein waren auch Christoph Ribbat, Ulrich Raulff, Werner Busch und Hans Joachim Schellnhuber nominiert. Hier finden Sie unseren Blick auf die nominierten Sachbücher. Im vergangenen Jahr gewann Philipp Ther mit seinem Buch Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa den Preis.
Brigitte Döbert erhielt für ihre Übersetzung eines 8000ers der Literatur, nämlich Bora Ćosićs Die Tutoren, den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse. Der Roman galt über vierzig Jahre lang als unübersetzbar, weil der in Serbien geborene und in Kroatien lebende Autor darin die Sprache selbst als Heldin auftreten lässt, die den Leser aufs Kreuz legt. Es gibt kaum eine Zeile, in der normal gesprochen wird, in Ćosićs Tutoren regiert die Verballhornung, die Ironie, die Kolportage, das Ganze immer wieder in die Struktur von Reimen oder Werbeannoncen.
»Brigitte Döbert hat viel Zeit und Herzblut in dieses Projekt gesteckt, sie hat recherchiert, wie es so flächendeckend erst heute, im Zeitalter des Internets, geht, um noch den obskursten Anspielungen nachzuspüren, und für jede Nuance den eigenen Ton gefunden. Außer von der Pflicht zur Genauigkeit hat sie sich auch von jener Kühnheit leiten lassen, die man braucht, wenn man dem weit entfernten Fremden in der neuen Sprache eine Heimat schaffen will«, erklärt die Jury ihr Votum.
Mit der Auszeichnung hat Döbert innerhalb von weniger Tage den zweiten großen Übersetzerpreis erhalten. Am 8. März war ihr der Übersetzerpreis Straelen des Europäischen Übersetzer-Kollegiums Nordrhein-Westfalen verliehen worden. In der Begründung der Straelener Jury, die vorwiegend aus Übersetzern besteht, heißt es: »Das in den siebziger Jahren aus der Kraft kreativer Unvernunft entstandene Mammutwerk stellt mit seiner formalen und stilistischen Vielfalt eine enorme Herausforderung dar. Wie Ćosić entfaltet Brigitte Döbert die Welt aus dem Wort: Avancierte Erzähltechniken prallen auf Bauernweisheiten, Dramolette und Anekdoten, übermütige Wortstolpereien folgen auf groteske Lexikoneinträge und Reimspiele. Diese Übersetzung bringt im Deutschen das Flittergold des Geredes zum Glänzen und entlockt dem Volksmund Weltwissen.«
Neben Brigitte Döbert waren Kirsten Brandt, Claudia Hamm, Frank Heibert und Ursula Keller nominiert. Hier finden Sie unseren Blick auf die nominierten Titel. 2015 gewann Mirjam Pressler mit ihrer Übertragung von Amos Oz Roman Judas den Übersetzerpreis der Messe.
Nachdem im vergangenen Jahr die großen Publikumsverlage bei der Preisverleihung in Leipzig triumphierten, ist die diesjährige Preisverleihung komplett in der Hand unabhängiger Verlage. Die Vorfreude auf den Indiebookday, den die unabhängigen Verlage in einer Woche feiern, könnte keinen besseren Push erhalten haben. Zwar waren Hanser, Suhrkamp, Rowohlt und C.H.Beck jeweils mit zwei Titeln im Rennen, in ihrem Windschatten hatten sich die beiden Verlage Schöffling & Co. und Matthes & Seitz Berlin ebenfalls mit je zwei Titeln für die Nominiertenliste qualifiziert. Der Frankfurter Verlag Schöffling & Co. hat sowohl Guntram Vespers Roman Frohburg als auch Brigitte Döberts Übersetzung von Die Tutoren herausgegeben, Jürgen Goldsteins Sachbuch Zwischen Freiheit und Naturgewalt ist bei Matthes & Seitz Berlin erschienen. Für den Berliner Verlag ist es nach der Auszeichnung von Frank Witzels Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 mit dem Deutschen Buchpreis im Oktober 2015 der zweite große Preis infolge.
[…] Romanen immer wieder auf. Dazu kommt das Thema Kindesmissbrauch, das über Anspielungen an den Stefan-George-Kreis und hier durch den Aufenthalt in dem Hotel einer zwielichtigen Sekte […]
[…] lebt, revoltiert und stirbt in der Rolle Thomas Müntzers. Guntram Vesper stellt den Theologen in seinem preisgekrönten Roman »Frohburg« in eine Reihe mit Spartacus und Ernst Thälmann. Dieser Ruf des Sozialrevolutionärs erklärt wohl […]
[…] Vesper hat mit seinem 2016 in Leipzig ausgezeichneten Roman »Frohburg« die epische Biografie der titelgebenden sächsischen Kleinstadt verfasst. Der 2020 verstorbene […]