Der britische Journalist Tim Marshall wirft in seinem neuen Buch einen erhellenden Blick auf »Die Macht der Geografie« im globalen Ringen um die Weltherrschaft. Allerdings macht die von Terrorgruppen und Milizen inszenierte asymmetrische Kriegsführung seinem Konzept ein Strich durch die Rechnung.
1924 erschien das Buch Berge Meere und Giganten von Alfred Döblin. In diesem experimentellen Roman erzählt der Autor die Zukunft der Menschheit vom 23. bis ins 28. Jahrhundert. Die Rivalität zwischen dem Westen und dem Osten mündet im 27. Jahrhundert in einem Uralischen Krieg. Der Osten siegt und drängt nach Europa und Nordamerika. Neue Lebensräume werden auf der Insel Grönland erschlossen, wo das schmelzende Eisschild urzeitliche Ungeheuer zum Leben erweckt. Die Menschen schaffen daraufhin die Giganten, die die Ungeheuer bekämpfen.
Diese Utopie hat viel mit dem zu tun, wie ein Außenpolitiker der realistischen Schule die Welt der Gegenwart beschreibt. Tim Marshall tut dies in seinem Buch Die Macht der Geographie, in dem er die »Weltpolitik anhand von 10 Karten« zu erklären versucht. Auch hier sind es Berge, Meere und Giganten, die die Läufe der Welt prägen und gestalten. »Seit jeher hat uns das Land, auf dem wir leben, geformt. Es hat die Kriege, die Macht, die Politik und die gesellschaftlichen Entwicklungen der Völker geformt, […]. Technologien überwinden scheinbar die mentalen wie räumlichen Entfernungen zwischen uns, sodass leicht vergessen wird, dass das Land, in dem wir leben, arbeiten und unsere Kinder aufziehen, höchst bedeutsam ist und dass die Entscheidung derer, die die sieben Milliarden Bewohner dieses Planeten führen, in gewissem Maße schon immer durch die Flüsse, Berge, Wüsten, Seen und Meere, die uns alle eingrenzen, geformt werden.«
Der Autor zeigt, wie die internationale Politik vor dem Hintergrund geographischer Faktoren zu verstehen ist, welche Auswirkungen Landschaften, Klima, Demographie, Kulturregionen und der Zugang zu natürlichen Ressourcen auf etliche Bereiche von Gesellschaften haben. Für Tim Marshall ist Geographie ein maßgeblicher Faktor für den Verlauf der Geschichte und ein grundlegender Teil des Warums und des Was internationaler Beziehungen. Ein grundlegender Aspekt – natürlich nicht der einzige. Auch darauf verweist er. Moderne Technologien brechen im Moment die ehernen Regeln der Geographie. Aber die Geographie hat Kulturen, Gesellschaften und Staaten geprägt und diese Geschichte bleibt wesentlich für das Verständnis der heutigen Welt wie der Zukunft.
Seine Thesen verdeutlicht Marshall anhand von zehn Landkarten. Am klarsten kommen sie bei den Beispielen Russland, China und USA zum Vorschein. Die Lage der USA etwa bezeichnet Marshall als einen Sechser im Lotto. »Die Vereinigten Staaten liegen in einer wunderbaren Gegend, die Aussicht ist atemberaubend und es gibt faszinierende Wasserformationen. Die Verkehrsbindungen sind ausgezeichnet. Und die Nachbarn? Die Nachbarn sind großartig, es gibt überhaupt keinen Ärger.«
Von Vorteil ist natürlich auch, dass Nordamerika nicht in unzählige Länder aufgeteilt ist, in denen die Einwohner unterschiedliche Sprachen sprechen und mit verschiedenen Währungen bezahlen, wie es in Europa der Fall ist. Die Identifikation der Amerikaner mit den USA lässt sich nicht mit der Geschichte des Kontinents erklären, sondern auch mit seiner Geographie.
Geographisch lässt sich Nordamerika in drei Teile unterscheiden. Das Gebiet der Ostküstenebene bis zu den Appalachen, ein Gebiet mit kurzen, aber schiffbaren Flüssen und fruchtbaren Boden. Zwischen den Appalachen und den Rocky Montains liegen die Great Plains, wo sich auch das Becken des Mississippi mit seinem Netzwerk riesiger, schiffbarer Flüsse befindet, das im Golf von Mexiko mündet. Allein in dieser Region gibt es mehr schiffbare Flusskilometer als im Rest der Welt zusammen. Und schließlich gibt es noch die Region zwischen den Rocky Montains und dem Pazifik, in der Kalifornien zum Beispiel seit jeher als Sehnsuchtsort gilt. Die nördlichen Nachbarn sind die Kanadier, von denen die Amerikaner nichts zu befürchten haben, und zu den südlichen Nachbarn, den Mexikanern, trennt sie die wüstenartige Gegend Nordmexikos.
Mit diesem geographischen Vorteil entwickelten sich die USA in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur globalen Supermacht. Unangreifbar von zwei Meeren geschützt, mit zwei schwachen Nachbarländern gesegnet. Als größte ökonomische und militärische Nachkriegsmacht der Welt kontrollieren sie die Seewege der Erde. Dies ist notwendig, um amerikanische Waren auf die Märkte zu bringen und eine globale pax americana aufrechtzuerhalten.
Aktuell gibt es nur eine Großmacht, die die USA herausfordert: China. In vielen Analysen, die in den letzten zehn Jahren in Europa, in den USA oder auch in China verfasst wurden, heißt es, China werde bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts die USA überholen und zur führenden Supermacht werden. Marshall sieht dies skeptisch, natürlich – wen wundert es – aus geographischen Gründen. Die nordchinesische Ebene – eine fruchtbares Tiefland mit zwei Hauptflüssen und einem für die Landwirtschaft geeignetem Klima – ist Chinas Kernland. Es ist der politische, kulturelle, demografische und landwirtschaftliche Schwerpunkt des Landes. Etwa eine Milliarde Menschen leben in diesem Teil Chinas, der nur halb so groß ist wie die USA, wo ein Drittel der chinesischen Bevölkerung lebt. Um dieses Kernland zu schützen, schlug China die Strategie ein: Angriff ist die beste Verteidigung. China erweiterte sich so lange, bis es an natürliche Barrieren gelangte. Im Norden dehnte es sich bis zu den Grassteppen Zentralasiens aus, im Süden bis zum Südchinesischen Meer und im Westen bis nach Tibet. Tibet ist auch deshalb so wichtig für China, weil es das Land von Indien trennt. Und Indien von China. Der Himalaja ist eine 2659 Kilometer lange Grenze, die die beiden Staaten wie eine Mauer trennt. »Ohne das höchste Gebirge der Welt zwischen ihnen wäre das jetzt lauwarme Verhältnis wahrscheinlich frostig«, kommentiert Marshall.
Berge, Meere und Giganten als natürliche Barrieren und Pufferzonen. Allerdings sind diese Grenzregionen auch Gegenden permanenter Unruhe, wie der jüngst neu ausgebrochene Konflikt um die Bergkarabach-Region zwischen Armenien und Aserbaidschan beweist. In China betrifft dies vor allem Tibet und die autonome Region Xinjiang. Marshall verweist in diesem Kontext auch darauf, unter welchem Druck die chinesische Führung steht. Die stillschweigende Abmachung zwischen Regierung und Volk – Wohlstand gegen Loyalität – zeigte in jüngster Zeit deutliche Risse. Solange die Wirtschaft wächst, bleibt diese Abmachung weiterhin bestehen. Reißt das Wirtschaftswachstum jedoch ab, droht die Bevölkerung dieses stillschweigende Abkommen aufzukündigen. Das gegenwärtige Ausmaß an Demonstrationen, bei denen sich die Wut über Korruption und Ineffizienz äußert, sind erste Warnsignale an die Regierung in Peking. Marshall bringt diese explosive Mischung aus gekaufter Loyalität und Sehnsucht nach mehr Mitbestimmung folgendermaßen auf de Punkt: »Es gibt 1,4 Milliarden Gründe, warum China Amerika als Weltmacht überflügeln kann, und 1,4 Milliarden Gründe, warum es nicht kann.«
Mit Marshalls Thesen lässt sich auch die Logik erkennen, die etwa der aktuellen Politik von Wladimir Putin zugrunde liegt. Der russische Präsident wird einem bei der Lektüre des Buches nicht sympathischer, allerdings lassen dessen sicherheitspolitischen Annahmen, Restriktionen und Begrenzungen auf Grundlage von Marshalls Ausführungen ein bestimmtes Muster erkennen. Die erste Prämisse ist Russlands geografische Ausdehnung. »Russland ist ausgedehnt. Am ausgedehntesten. Riesengroß. Es ist über 17 Millionen Quadratkilometer groß, elf Zeitzonen wie, es ist das größte Land der Erde.« Strategisch vorteilhaft sei der Keil der weiten nordeuropäischen Tiefebene, deren Spitze in Norddeutschland und Polen liegt und deren breites Ende am Ural endet, jenem Gebirge, das vom Polarmeer bis zur kasachisch-russischen Grenze verläuft. Die russische Grenze zu Osteuropa ist 3200 Kilometer lang, eine kaum zu verteidigende Front, wie die Einfälle von Napoleon und Hitler beweisen. Allerdings waren die Nachschublinien unhaltbar lang, wie die Truppen des französischen Egomanen und des deutschen Diktators erfahren mussten.
Die zweite Prämisse beruht auf der Annahme, dass die Verletzlichkeit der russischen Grenze mit dem Zerfall der Sowjetunion und des Ostblocks zu tun hat. Gerade deswegen hat Putin diese Ereignisse als »die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts« genannt. Die Verletzlichkeit der selbsternannten Weltmacht ist auch der Grund, warum sich der Konflikt zwischen dem Westen und Russland gerade um die Ukraine entzündet. Putin sieht sein Land nun mit der Tatsache konfrontiert, dass außer Russland die ehemaligen Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes nun in der NATO oder der EU engagiert sind. Als auch die Führung der Ukraine immer offener mit einem Abkommen mit dem Westen liebäugelte, handelte Putin, indem er den Osten der Ukraine politisch wie militärisch destabilisierte und die Krim völkerrechtswidrig annektierte. Für Putin ging es nicht nur um lebenswichtige Rohstofflieferungen, sondern vor allem um Sewastopol, wo sich der einzige russische Hafen befindet, der ganzjährig eisfrei ist. Über Sewastopol und den Bosporus führt zudem der einzige Weg unter russischer Kontrolle direkt ins Mittelmeer. »Das Fehlen eines eisfreien Hafens mit direktem Zugang zu den Weltmeeren, strategisch so bedeutsam wie die nordeuropäische Tiefebene, war immer Russlands Achillesferse.« Auch deshalb ist die Krim so bedeutend für Russland. Auch deshalb ist Syrien für Russland so bedeutend, denn im syrischen Tartus befindet sich ein kleiner, russischer Marinehafen direkt an der Mittelmeerküste.
Berge, Meere und Giganten: So erhellend und lehrreich die geopolitischen Perspektiven sind, die Tim Marshall aufzeigt, die Russlands Politik nachvollziehbar machen, so sehr bleiben Marshall wie Putin in alten macht- und verteidigungspolitischen Kategorien stecken. Herfried Münkler verweist in seinem jüngsten Buch Kriegssplitter auf zwei Aspekte hin, die den Thesen Marshalls widersprechen: Zum einen auf das Aufkommen asymmetrischer Kriegsführung, die inzwischen der Normalzustand des Krieges ist. Putin ist mit ihr seit Jahren in den Kaukasusrepubliken konfrontiert. Der hohe militärische Aderlass und die Hinnahme eines politischen Vertrauensverlustes haben gezeigt, dass sich mit symmetrischer Kriegsführung Schlachten und vielleicht sogar ein Krieg gewinnen lässt, bei asymmetrischer Kriegsführung ein Frieden aber nahezu aussichtslos ist. Zum anderen weist Münkler auf die Verflüssigung von Krieg hin. Es geht inzwischen weniger um die Beherrschung von Raum und Land, sondern um die Beherrschung von Menschen und Waren, von Kapital und Informationen.
Welche Symbiose Geopolitik mit der Analyse der Evolution der Gewalt im letzten und diesen Jahrhundert eingeht, diese Frage harrt noch der Beantwortung. Es ist zu hoffen, dass diese Studie noch geschrieben wird. Bis dahin kommen wir an der Macht der Geographie nicht vorbei.