Der Soziologe Claus Offe analysiert in seinem Essay »Europa in der Falle« schonungslos die Fehlentwicklungen der Europäischen Union in den letzten zwanzig Jahren. Den Kardinalfehler sieht er in der Einführung der Gemeinschaftswährung. Der Euro sei nicht wie erhofft zum Bindeglied zwischen den Staaten geworden, sondern habe einer Schutzgemeinschaft des Großkapitals zum Leben verholfen.
Claus Offe gehört zu den meist beachteten Soziologen und Politikwissenschaftlern Deutschlands. Mit Jürgen Habermas hatte er einen berühmten Lehrer, zugleich war er wissenschaftlicher Mentor für eine ganze Generation von Sozialwissenschaftlern wie Wolfgang Streeck, dem ehemaligen Direktor des Max-Planck-Institutes für Gesellschaftsforschung, Wolfgang Merkel, Abteilungsdirektor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, oder Benjamin-Immanuel Hoff, dem aktuellen Chef der Thüringer Staatskanzlei von Ministerpräsident Bodo Ramelow, um nur einige zu nennen.
Mit Jürgen Habermas verbindet ihn eine über lange Jahre enge, fast symbiotische Zusammenarbeit. Zwischen 1965 und 1969 war Offe dessen Assistent am Seminar für Soziologie an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt, wo er 1968 zum Thema »Leistungsprinzip und industrielle Arbeit« promovierte. Offe folgte Habermas zu Beginn der 1970er an das Starnberger Max-Planck-Institut zur Erforschung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation. Die enge, aufeinander bezogene Zusammenarbeit findet Ausdruck in zwei Bücher, die Anfang der 1970er Jahre entstanden sind: Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, verfasst 1972 von Claus Offe, und Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, das Habermas 1973 veröffentlichte. Es ging beiden um mögliche Interpretationen der damaligen ökonomischen Krise, die als Krise der Rationalität, der Legitimation und der Motivation verstanden wurde. Die zentralen Kategorien, die beide Bücher kennzeichneten, waren »Kapitalismus«, »Staat« und »Demokratie« und deren Verhältnis zueinander. Auch heute geht es um die wechselvolle Geschichte demokratischer Zähmung des Kapitalismus und kapitalistischer Konditionierung der Demokratie. Wir werden diese Kategorien in seinem jüngsten Buch wiederfinden.
Nach seiner Habilitation an der damals jungen Uni Konstanz im Jahr 1973 wirkte Offe als Professor für Politikwissenschaft und Soziologie zwischen 1975 und 1988 an der Universität Bielefeld sowie zwischen 1988 und 1995 an der Universität Bremen. Von 1995 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2005 war er Professor für Politische Soziologie und Sozialpolitik an der Humboldt-Universität in Berlin. Anschließend wechselte er Hertie School of Governance, wo er zwischen 2005 und 2012 als Professor of Political Sociology lehrte.
Wenn sich Claus Offe zu Wort meldet, dann geschieht dies mit einer klaren und tiefen Analyse. Vielleicht ist gerade deswegen sein jüngstes Buch Europa in der Falle so ernst zu nehmen. Offe springt nicht auf irgendwelche EU-kritischen Züge auf, um modisch der Öffentlichkeit seine politische Empfindlichkeit mitzuteilen. Nein, Offe analysiert schonungslos die Fehlentwicklungen der Europäischen Union in den letzten zwanzig Jahren. Seine Folgerungen verlaufen nicht im ungefähren Unpolitischen oder gefährlich Apolitischen, sie flüchten sich nicht in ein nationales Gestriges, wie bei Wolfgang Streeck, sie erklären keine peripheren Entwicklungen zur Heilsbotschaft des Kommenden, wie dies Paul Mason oder Robert Misik tun.
In seinem neuen Buch analysiert Claus Offe, wie die EU mit dem Euro in die Falle getreten ist und ob das nun aufgetretene Problem der politischen Handlungsfähigkeit gelöst werden kann. Gibt es die sozialen und politischen Kräfte, gute Ideen oder handlungsfähige Akteure, die mit den entsprechenden Ressourcen und die nötigen Legitimität ausgestattet sind, die Europäer aus der Falle zu befreien. Denn die entscheidende Problemlage skizziert Offe gleich zu Beginn: »Entweder gelingt eine erhebliche Verbesserung der institutionellen Struktur der Europäischen Union, oder es kommt zu ihrem Zerfall. Der Status quo lässt sich jedenfalls nicht fortschreiben.« Nicht finanzielle Mittel, sondern der politische Konsens wie geeignete institutionelle Mechanismen fehlen, die diesen Konsens bilden und die für die notwendige politische Unterstützung mobilisieren können.
Die Einführung der Gemeinschaftswährung bezeichnet Offe als großen, den entscheidenden Fehler in der europäischen Politik in den letzten Jahrzehnten. Es sei eine »kühne Spekulation« gewesen, mit Hilfe des Euro auf die Vertiefung und ein stärkeres Zusammenwachsen Europas zu bauen. Stattdessen habe die europäische Währung die Spaltung Europas provoziert: Der Norden habe profitiert, der Süden ist geldpolitisch entmachtet worden. Warum dies so eingetreten ist, liegt für Offe nahe: Zu unterschiedliche Wirtschaftskulturen habe eben nicht zu einer Marktintegration geführt, sondern stattdessen sein ein ökonomischer Beauty-Wettbewerb zwischen den Staaten ausgebrochen. Es galt unter diesem Wettbewerbsdruck, gleichermaßen Steuern zu senken wie Sozialleistungen zu kürzen. Ein Europa der und für Bürger*innen wurde so nicht geschaffen.
Hinzu kam, so beklagt es Offe, das offensichtliche Demokratiedefizit der EU. Die Europäische Union erscheint und wirkt als Regulierungsbehörde, die »einschneidend« das Leben der Menschen in den verschiedenen Staaten der EU prägt, gleichzeitig ist sie für diese Einschnitte nicht belangbar. Ihnen fehlt die demokratische Legitimierung ihres Handelns. Offe verweist auf das Paradox, dass gerade jene Institutionen der EU über die größte Macht verfügen, die die geringste Legitimation aufweisen können. Allen Institutionen voran die Europäische Zentralbank, aber nicht minder der Europäische Gerichtshof oder die Kommission. Diese Regulierungsmaschinerie befindet sich nun zu Recht in einem Gegeneinander mit den demokratisch legitimierten Nationalstaaten, vor allem auch deswegen, weil es ihr gleichzeitig an einer Output-Legitimation fehlt. Vielen Menschen, vor allem im Süden und Osten Europas, geht es nicht besser. Stattdessen baden sie Folgen einer Finanzkrise aus, die als Bankenkrise begann. Ihnen erscheint die EU, so Offe, als Schutzgemeinschaft des Großkapitals.
Eine nicht funktionierende Währungsunion, gesteuert von mangelhaft legitimierten Institutionen, hat zu einem aktuell untragbaren Zustand geführt. Die EU verliert dramatisch an Zustimmung, dass das Ende dieses historischen Einigungsprojekts nicht mehr undenkbar erscheint.
Die Krise ist auch, so Offe, eine Krise des Krisenmanagements. Ein politischer Ausweg wäre eine weitere Vertiefung, gerade in den Bereichen Wirtschafts- und Sozialpolitik, die die Währungsunion flankieren könnte. Dafür gibt es aktuell keine Mehrheiten. Keine legitime Macht, keine legitimierte Macht stellt Forderungen in dieser Art. Gleichzeitig ist unter Politiker*innen auf nationaler Ebene kein Willen ersichtlich, nationale Souveränität abzugeben. Aktuell erschiene dies als politischer Selbstmord.
Die Einführung des Euro war ein großer Fehler. Ein noch größerer Fehler wäre es aber, den Euro nun wieder abzuschaffen. »Die Auflösung der Eurozone und, über kurz oder lang damit verbunden, auch der EU, wäre eine politische und ökonomische Katastrophe – und dazu eine moralische für diejenigen, die man im zukünftigen Rückblick dafür verantwortlich halten wird, dass sie dieses Ergebnis durch ihr Handeln bewirkt oder durch ihr Unterlassen in Kauf genommen haben.«
Welche Folgerungen zieht Offe aus dieser Malaise? Eine erstmals mutige: Er fordert, im Gegensatz zu seinem Schüler Wolfgang Streeck, kein Zurück zum Nationalstaat. Nach wie vor sieht Offe die EU als die supranationale politische Handlungsmacht, die tatsächlich in der Lage ist, die Finanzmärkte einzuhegen, terroristische Bedrohungen zu bekämpfen und vernünftige und nachhaltige Lösungen bei den Zukunftsthemen Klima und Energie zu entwickeln und diese auch durchzusetzen. Seien wir ehrlich: Soll dies in Zukunft Österreich alleine tun? Die Tschechische Republik? Bulgarien? Luxemburg? Selbst Großbritannien, Frankreich oder Deutschland werden als Einzelstaaten Mühe haben, international gehört zu werden, geschweige denn ihre Anliegen durchzusetzen. Großbritannien wird diese Erfahrung in Kürze machen.
Offe beschreibt in einem Kapitel die Motive für das politische Projekt der EU-Integration. Er nennt sieben Gründe beziehungsweise »Finalitäten«: Die Sicherung des internationalen Friedens, das Versprechen auf Wachstum, Wohlstand und soziale Inklusion im Rahmen eines Europäischen Sozialmodells, das Prinzip der repräsentativen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die EU als eigenständiger Akteur in der Arena der internationalen Politik mit einem spezifischen Methode der soft power, die Vielfalt von Kulturen, Traditionen, Künsten, Sprachen und urbanen Strukturen, die gegenseitige Beaufsichtigung und Kontrolle der Mitgliedstaaten sowie die Lösungsfähigkeit europaweiter Probleme, die gleichzeitig die Autonomie der Mitglieder der EU schont. Offe spart sich nicht einen gewissen akademischen Zynismus, wenn er diese Resultate und Errungenschaften zerredet. Er zeigt aber auch noch einmal auf, dass die EU schon immer mehr war als lediglich eine neoliberale Verteilungsmaschine. Eigentlich gilt es, sich nicht von den Realitäten und Zynismen leiten zu lassen, sondern die Finalitäten wieder zum Vorschein zu bringen. Sie geben Orientierung für ein funktionierendes, soziales Europa in einer globalisierten Welt.
Damit könnte die EU auch das leisten, was sie im Moment am dringendsten benötigt. Sie muss vor allem das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zurückgewinnen, indem sie das Gleichgewicht zwischen politischer Demokratie und kapitalistischem Markt herstellt. Dies beginnt mit der Stärkung der Sozialpolitik, die eine Umverteilung von oben nach unten beinhaltet. Als konkrete Maßnahmen nennt Offe eine Europaweite Arbeitslosenversicherung und – als steter Kämpfer für ein Grundeinkommen – eine Minimalsicherung in Höhe von 200 Euro für Bürger*innen in den einzelnen Staaten der EU. Gleichermaßen muss sie dringend ihre Institutionen stärker demokratisieren.
Bei diesen Aufgaben sieht Claus Offe vor allem Deutschland in der Pflicht. Die Bundesrepublik war die große Gewinnerin bei der Einführung des Euros. Daher bestehe für sie eine Kompensationspflicht. »Die »richtige« Forderung wäre, Deutschland … zur Preisgabe von Teilen seiner wirtschaftlichen und politischen Vormachtstellung zugunsten der Stärkung von supranationaler europäischer Führungs- und Handlungskapazität; das würde allerdings bedeuten, dass die »unverzichtbare« Nation bereit wäre, sich in ihrer Führungsrolle ein Stück weit »verzichtbar« zu machen.« Ja, die Vergemeinschaftung von Risiken wird Deutschland teuer zu stehen kommen. Aber alle – auch und gerade die politische wie die ökonomische Elite Deutschlands – wissen, dass der Zusammenbruch des gemeinsamen Marktes und des politischen Projektes Europa noch viel teurer zu stehen kommt. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Einhegung Deutschlands durch die Einführung des Euros, wie es sich Francois Mitterand geträumt hatte, zu einer deutschen Vorherrschaft geführt hat. Aus dieser Ironie sollte die Bundesrepublik Deutschland nicht länger Kapital schlagen, sondern daraus, wie Offe fordert, eine besondere Verantwortung für das europäische Projekt ableiten. Eine demütige Bundesrepublik Deutschland, bewusst ihrer Geschichte, ihrer Größe und ihrer speziellen Lage im Herzen Europas, eine Haltung, wie wir sie bis 1998 kannten, sollte Maßstab aktuellen Handelns sein.
Die Europäische Union garantiert in beispielsloser Weise die Grundrechte von 500 Millionen Bürger*innen, sie zivilisiert Politik und ist seit über fünf Dekaden lang das größte globale Friedensprojekt. Diese Leistungen gilt es zu wahren, deshalb benötigen die maßgeblichen aktuellen Probleme – sozialer Frieden und gerechte Wirtschaftspolitik in Europa – eine aufrichtige Antwort. »Man wird auf Dauer nicht mit weniger auskommen als mit der Gewährung sozialer Ansprüche, die den Bürgern der EU zukommen. Diese Mittel wären dann diesmal nicht der Rettung von Banken und Staaten gewidmet, sondern der von Arbeitnehmern, Arbeitslosen, Jugendlichen, Rentnern und anderen Bürgern.«
Die Probleme sind gewaltig, und keiner analysiert sie so schonungslos wie Claus Offe. Noch gewaltiger werden die Probleme, wenn wir es beim Status Quo belassen oder uns in einen Status Quo ante flüchten. Nach wie vor schlägt Offes Herz für Europa. Das sollte uns ermutigen, uns für ein besseres Europa einzusetzen. Immer mit diesem klugen Buch Europa in der Falle in der Hand!