Der in Bulgarien geborene Politologe Ivan Krastev nimmt in seinem Essay »Europadämmerung« Demokratie, Liberalismus und Europa in den Blick. Statt einer Hymne auf die Möglichkeiten dieser Werte hat er jedoch einen Abgesang verfasst.
Die Veranstaltungen, zu denen Ivan Krastev geladen ist, gehören zu den spannenderen in Berlin. Er ist ein humorvoller, tiefschürfender und scharfzüngiger Intellektueller, der dank seiner Herkunft aus Bulgarien Dinge anders sieht als die westeuropäisch-nordamerikanisch geprägten Damen und Herren, die sonst die Podien der Hauptstadt zieren. Seine kindliche Freude am Widerspruch, an der Antithese bricht deren synthetischen Diskussionen anregend auf. Krastev, Jahrgang 1965, ist Politologe und Politikberater, er ist Gründer und Leiter des Centre for Liberal Strategies in Sofia, gehört zum Gründerkreis der Denkfabrik European Council on Foreign Relations, er wurde gefördert von George Soros, war Richard-von-Weizsäcker-Fellow der Robert-Bosch-Academy Stiftung in Berlin und ist Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien. Demokratie, Liberalismus, Europa – das sind für Krastev positiv besetzte Begriffe, um sie dreht sich sein Denken.
Dieses Denken anhand dieser Begriffe breitet er in seinem fulminant geschriebenen Essay Europadämmerung aus. Der Titel verweist auf die Schwierigkeiten und Problemlagen Europas, es ist kein tiefpessimistisches Buch, aber ein resignatives, Krastev würde es bestimmt als realistisches Buch bezeichnen. Europa dämmert seiner Zukunft entgegen, es verliert Werte, Orientierung und Ziele aus dem Blick. Sie werden geschluckt vom dämmerig werdenden Licht, vom Dunkel wird kommen.
Krastev hat ein eigenes, spezifisches Denken, ein Denken, das von einer mehrfachen Peripherie Europas geprägt ist. Es hat unweigerlich mit seiner Herkunft aus Bulgarien zu tun. Bulgarien gehört zu jenem geografischen Raum Europas, der erst spät zum normativen Konzept des Westens gefunden hat. Es ist ein Raum der ehemaligen Vielvölkerstaaten wie das Osmanische Reich oder die K.-und-K.-Monarchie. Nicht umsonst beginnt Krastev seinen Essay mit einer Sentenz aus dem Roman Radetzkymarsch von Joseph Roth. Lange konnte das Diverse aus- und zusammengehalten werden, in dem Moment, als im Juni 1914 der österreichische Thronfolger ermordet wird, treten die Differenzen zu Tage. An einer Stelle schreibt Krastev mit feiner Ironie, man solle nicht fragen, warum Österreich-Ungarn 1918 zusammenbrach, sondern warum das nicht schon viel früher geschah.
Die Spaltung von West- und Osteuropa, die den Fortbestand der Union bedroht, ist älter als der Ost-West-Konflikt während des Kalten Krieges. Die historischen Erfahrungen sind tiefer verankert, sie liegen weiter zurück als die Jahre zwischen 1945 und 1989. Sie erfuhren aber eine Verstärkung in den Jahren der bipolaren Weltordnung wie gleichermaßen durch den Fall des Eisernen Vorhangs. Das 20. Jahrhundert war kein Jahrhundert der Freiheit und der Möglichkeiten. Auch nicht in der zweiten Hälfte, in dem der Westen Europas zum Westen der Welt wurde und sich die wahren verspäteten Nationen sich jenseits von Oder und Neiße wiederfanden. Die Länder Osteuropas bauen auf den Erfahrungen auf, die multikulturelle Vorläufergesellschaften in Großreichen gesammelt haben. Diese Großreiche und Vielvölkerstaaten wurden allerdings zerteilt und zu homogenen Nationalstaaten geformt, zum ersten Mal in ihrer Geschichte. Gerade deswegen ist das historische Gedächtnis dieser Länder voller Nationalitätenkonflikte und speist aktuelle Konfliktlagen wie die Flüchtlingskrise, auf die Krastev eingehend eingeht.
Ebenso dramatisch waren die Erfahrungen seit 1989. Der Unfreiheit, bleiben zu müssen, folgte die Freiheit, gehen zu können. Krastev beschreibt die enormen Migrationsverluste von Ländern wie Polen, Rumänien und Bulgarien nach dem Ende des Ostblocks. Es waren oft die gut Ausgebildeten, Wagemutigen, die in die westlichen Länder der EU gingen. Ein paar Zahlen gefällig? 2,5 Millionen Polen verließen seither ihr Land, 3,5 Millionen Rumänen, die Bevölkerungszahl in Litauen ging von 3,5 auf 2,9 Millionen zurück. Oder schauen wir auf das Heimatland von Krastev: Jeder zehnte Bulgare zog fort, der Trend hält an. Die UN schätzen, dass die Bevölkerung bis 2050 um 27 Prozent schrumpfen und die Wirtschaftskraft um weitere 10 Prozentpunkte abnehmen wird. Melancholisch fragt Krastev, ob in hundert Jahren noch irgendjemand bulgarische Gedichte lesen wird. Zurück bleiben die Alten, schlecht Ausgebildeten, wenig Wagemutigen. Sie fühlen sich bedroht. Das ist dramatisch, tragisch.
Diese Erfahrungen teilen nicht nur die Menschen in Bulgarien, sondern die Bevölkerungen in vielen Ländern Osteuropas. Erfahrungen, die die Menschen im Westen nicht gemacht haben. Europa ist gespalten, so der Autor, in »jene, die den Zerfall aus eigener Anschauung, und jene, die ihn nur aus Lehrbüchern kennen. Das ist der Graben zwischen denen, die den Zusammenbruch des Kommunismus und den Zerfall des einstmals mächtigen kommunistischen Blocks am eigenen Leibe erfahren haben, und jenen, die von solchen traumatischen Ereignissen verschont blieben.« Die Erfahrungen osteuropäischer Gesellschaften stehen damit in krassem Kontrast zu den politischen Postulaten des liberalen Westens wie Vielfalt, Minderheitenschutz, Individualismus. »Bedrohte Mehrheiten« – und nennen wir sie bei Namen: Männer – wehren sich, gegen die Aufnahme neuer Minderheiten, gegen die Aufnahme von Geflüchteten, gegen Frauen, die die gut bezahlten Männerjobs übernehmen, gegen Schwule, die ihr Männlichkeitsideal in Frage stellen, gegen alle, die Gesellschaften verändern. Bedrohte Mehrheiten stärken vermeintliche Macher wie Donald Trump, Reaktionäre wie Victor Orban, Jaroslaw Kaczinsky, Björn Höcke oder Alexander Gauland oder werte- und gesinnungslose Machtpolitiker wie Boris Johnson. Die Folgen sind klar: An die Stelle einer mitfühlend-toleranten und offenen tritt eine von autoritärer Engstirnigkeit geprägte Gesellschaft.
Europa leidet, so Krastev, an einer Identitätskrise, in der das christliches Erbe und das Vermächtnis der Aufklärung nicht mehr sicher sind. Diese Identität wird im 21. Jahrhundert durch die Revolution der Migration herausgefordert. Es ist keine Revolution der Massen wie im 20. Jahrhundert, sondern eine individuelle. Für viele Migranten ist es eine menschliche Notwendigkeit, die Grenzen zur Europäischen Union zu überqueren, und keine Frage der utopischen Zukunft. Sie setzen damit eine kollektive Gegenrevolution frei. Die zurückgelassenen, verunsicherten Mehrheiten fürchten, dass diese Migranten ihre Lebensweise bedrohen, ihre Länder übernehmen. Sie glauben nicht, dass diese Revolution der Migration sich aus individuellen Entscheidungen zusammensetzt, sie sind stattdessen davon überzeugt, dass die gegenwärtige Krise auf eine Verschwörung kosmopolitisch gesinnter Eliten zurückgehe. Was böte sich besser an als der September 2015, wer böte sich besser an als Bundeskanzlerin Angela Merkel, um diese These zu bestärken. Die »Flüchtlingskrise« hat die Lage in Europa grundlegend verändert und erweist sich als der 11. September Europas.
Die Tragik liegt im Politischen. Im Zeitalter der Migration beginnt, so Krastev, die Demokratie als Instrument des Ausschlusses statt der Inklusion zu funktionieren. Statt einem »Ende der Geschichte« entgegen zu dämmern, ist ein Zeitalter des Ressentiments angebrochen. In diesem Zeitalter ist Demokratie nicht mehr jene Staatsform, welche die Emanzipation von Minderheiten fördert, sondern ein politisches Regime, das die Vorurteile von Mehrheiten stärkt. In diesem Kontext verliert der Liberalismus seinen normativen Anspruch, den die Migrationskrise einen zentralen Widerspruch offensichtlich: Wie lassen sich unsere universellen Rechte mit der Tatsache vereinbaren, dass wir sie als Bürger ungleich freier und wohlhabender Gesellschaften genießen? Es ist eine moralische Panik, die die Flüchtlingskrise ausgelöst hat.
In dieser moralischen Panik tritt das gegenseitige Unverständnis von Ost und West offen zu Tage. Skandalös am Verhalten der Osteuropäer ist aus Sicht des Westens nicht die Bereitschaft, Zäune zu errichten, um Flüchtlinge fernzuhalten, sondern die Behauptung, man schulde diesen Menschen gar nichts. Diese Behauptung ist umso unverständlicher, wenn man folgende drei Dinge in Betracht zieht: Erstens waren es gerade Menschen aus Osteuropa, die im größten Teil des 20. Jahrhunderts selbst auszuwanderten. Zweitens gab und gibt es kaum – schreiben wir lieber keine – Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan oder Eritrea, die es in die Länder Mittel- und Osteuropas zog. Drittens – und das ist eine jener tragische und ironischen Pointen der Geschichte – benötigen gerade die mitteleuropäischen Volkswirtschaften dringend Migranten. Aus oben genannten Gründen.
Die Tragik der Flüchtlingskrise aus westeuropäischer Perspektive liegt darin, dass Osteuropa diejenigen kosmopolitischen Werte als Bedrohung empfindet, auf denen die Europäische Union aufgebaut ist. Es sind die Werte, die für viele Menschen in Westeuropa den Kern der neuen europäischen, der eigenen Identität ausmachen. Es sind die Werte von 1968. Ironischerweise gilt dieses Jahr im Osten Europas für die Wiedergeburt nationaler Gefühle. Kein gesamteuropäisches Narrativ, nirgends!
Dies ist für das Überleben des europäischen Projekts deshalb so gefährlich, weil die Revolte gegen die Prinzipien und Institutionen des Verfassungsliberalismus die Grundlage der Europäischen Union unterminiert. Es wird jedoch nicht nur gegen die Institutionen der liberalen Demokratie revoltiert, sondern auch gegen ein Verständnis der Politik als rationale Abwägung von Interessen. Der neue Populismus steht nicht für die Verlierer von gestern, sondern für die voraussichtlichen Verlierer von morgen.
Der osteuropäische Angriff auf die normative Fundierung Europas trifft auf konsumistische, westliche Gesellschaften, deren Bürger Veränderungen wollen – in der Theorie zumindest –, jedoch jede Veränderungen durch die Politik ablehnt. Sozialer Wandel findet im Internet statt, begleitet von Werbetexten aus dem Silicon Valley. Disruption ist gewünscht, aber bitte ohne Konsequenzen. Die Politik soll es schon richten, aber bitte nicht mit zu vielen Inhalte, verstörenden Wahrheiten, unbequemen Veränderungen. Man kann das Leben auch zu Tode konsumieren. Historisch gesättigte Naivität des Ostens trifft auf sinnfreie Naivität im Westen. Viel Glück, Europa!
Zum Glück formuliert Krastev im letzten Teil einige Überlegungen zur Zerbrechlichkeit, wie aber auch zur Widerstandsfähigkeit Europas. Beschränken wir uns auf die positiven Aspekte, die von der Widerstandsfähigkeit Europas zeugen. Seit den ersten Entwürfen eines sich vereinigenden Europas haben die Politikerinnen und Politiker aus den verschiedenen europäischen Staaten gezeigt, wie kreativ, lösungsorientiert und flexibel sie sind. Sie haben die Kunst des Überlebens als eine Kunst ständiger Improvisation verinnerlicht. Der Modus der Flexibilität – nicht der der starren Unbeweglichkeit – hat Europa mehrmals aus der Sackgasse geholt, er könnte Europa am Ende retten. Schließlich gibt es den europäischen Augenblick, den die Wahl Emanuel Macrons als französischer Präsident ausgelöst hat. Diese Wahl hat die Stimmung in Europa dramatisch verändert, sie hat gezeigt, dass man mit und für Europa Wahlen gewinnen kann. Nichts zeigte die Provinzialität deutscher Politik mehr, als keine der großen Parteien einen überzeugenden Pro-Europa-Wahlkampf geführt haben, sich stattdessen einer Agenda angedockt haben, die eine nationalistische, rassistische und reaktionäre Partei gesetzt hat. Was hätte das für ein Wahlkampf geben können, in dem die Zukunft Europas verhandelt wird. Angeführt von einer Bundeskanzlerin und einem ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments.
Durch den Macronschen Augenblick ist noch keines der Probleme gelöst, vor denen die Union steht. Aber nun liegt wieder eine pro-europäische Agenda auf dem Tisch. Vielleicht ist dies auch die Kritik, die man an Krastev üben muss. Dass er seiner überzeugenden Analyse keine Lösungsvorschläge anschließt. Dass er, der den Osten wie den Westen Europas gleichermaßen gut kennt und versteht, sich damit begnügt, die Differenzen herauszustellen. Welche Aufgaben hätte eine Europäische Union vor sich, um die westeuropäische These mit einer osteuropäischen These zu einer gesamteuropäischen Synthese zusammenzubringen. Welche Überlegungen hat Ivan Krastev dazu, er, der große Pro-Europäer? Europadämmerung ist auch eine Intellektuellendämmerung. Das Buch zeugt von der intellektuellen Kraft und der politischen Verzagtheit eines europäischen Intellektuellen. Eines Intellektuellen, der lieber Recht haben möchte, statt für seine Überzeugungen zu kämpfen. Der sich damit zufrieden gibt, dass sich seine europakritischen Bücher besser verkaufen als eine Eloge über Europa, wie sie Andre Wilkens verfasst hat. Der damit die füttert, mit denen er nichts gemein haben sollte.
Die Probleme der EU liegen auf der Hand, darüber sind unzählige Bücher verfasst worden. Die EU ist keine ideale Institution, sie ist aber die beste, die wir haben. Sie muss reformiert werden, sie muss demokratischer werden, sie muss sich stärker für die Bürgerinnen und Bürger Europas einsetzen als für internationale Finanzinstitutionen. Und sie muss die Europäerinnen und Europäer aus allen Regionen des Kontinents zusammenbringen. Westeuropäische Vorstellungen sind kein europäisches Projekt. Osteuropäische Befindlichkeiten aber auch nicht. Europa ist mehr als nur seine Institutionen. Darauf hat uns Krastev hingewiesen. Vielleicht schreibt er einen ebenso fulminanten Essay darüber, wie der Osten und Westen und Süden und Norden Europas zu einem Europa werden, das die mentalen Unterschiede aushalten und voneinander lernen. Dann folgt der Dämmerung ein Morgengrauen, das auf eine helle Zukunft Europas verweist.
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