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Long Trip Out

Nachdem man im Frühjahr Thomas Pynchons Monumentalroman »Die Enden der Parabel« als geniales Hörspiel entdecken konnte, widmet sich nun eine Platte der Musik in Pynchons literarischem Werk. Sie öffnet die Tür zum Rhythmus, die in den Romanen des amerikanischen Erzählers steckt.

Vor nicht allzu langer Zeit wurde an dieser Stelle die Hörspiel-Adaption von Thomas Pynchons den Zweiten Weltkrieg und das beginnende Zeitalter der atomaren Kriegsführung reflektierenden Roman »Die Enden der Parabel« empfohlen, die der SWR gemeinsam mit dem Deutschlandfunk unter Leitung von Klaus Buhlert produziert hat. Das Hörspiel, das inzwischen den Preis als als Hörspiel des Jahres 2020 erhalten hat, schließt in seiner auditiven Gestalt so manche Geheimtür in Pynchons verschlüsseltem Roman auf. 

Legt man nun die Platte »Now Everybody« ein, mit der die New Yorker Band Visit Songs von Thomas Pynchon interpretiert, fühlt man sich sofort zurückversetzt in die knisternd-flirrende Atmosphäre des Hörspiels. Da saust zunächst ein Flugzeug durch die Lüfte, es folgen eine Explosion und verschiedene Jazz-Klänge, über die sich erneut Fluggeräusche und Explosionsgeräusche legen. Dann das Knistern eines alten Transistorradios und die Stimme von Tyler Burban, der eine Passage aus Pynchons Raketenkriegsroman liest.

»The day of the Ascent and sacrifice. A nation-wide observance. Fats searing, blood dripping and burning to a salty brown…. You did the Charlottesville shoat, check, the Forest Hills foal, check. (Fading now… The Laredo lamb, check. Oh-oh. Wait. What’s this, Slothrop? You never did the Kenosha kid. Snap to, Slothrop.«

Thomas Pynchon, Gravity‘s Rainbow

»Snap to, Slothrop« heißt auch der erste Song auf der neuen Platte, die unter der engagierten Mitwirkung des Schweizers Christian Hänggi entstanden ist, der über die Musik in Pynchons Werk promoviert hat. »Pynchon’s Sound of Music« lautet der Titel seiner 320-seitigen, englischsprachigen Dissertation, die inzwischen im Diaphanes-Verlag vorliegt und dort dank einer Creative-Commons-Lizenzierung kostenfrei als pdf heruntergeladen werden kann. Sie beginnt auch mit Pynchons »Enden der Parabel«. Bei der Lektüre sei dem Schweizer die zahlreichen Referenzen zu Saxofonen aufgefallen. Weil er selbst Saxofon spiele, vermutete er, dass Pynchon unmöglich derart detailliert über diese Musik habe schreiben können, wenn er nicht selbst auch Saxofon spiele. Für eine gewisse Weile suchte Hänggi obsessiv nach Hinweisen, die seine These bestätigten. Doch schnell wurde diese Obsession abgelöst von einer anderen, nämlich der, den musikalischen Verweisen in Pynchons Literatur als solchen auf den Grund zu gehen.

Hänggi gehört zweifelsohne zu den wenigen ausgewiesenen Experten, wenn es um Pynchon und Musik geht. Eine Platte, die unter seiner Mitwirkung entstanden ist, hat also ein solides Fundament. Etwa das Wissen um die so genannte Pynchon Playlist, womit nicht die Playlist gemeint ist, die Pynchon anlässlich seines Romans »Inherent Vice« selbst herausgegeben hat, sondern die aller fast 1.000 Musik-Referenzen, die in dem Werk des Amerikaners auftauchen. Allein diese Liste zeigt, wie präsent das Thema Musik im Werk des Amerikaners ist. Warum also nicht vertonen, dachte sich Hänggi und fand in der Alt-Country-Band Visit einen perfekten Partner. 

Insgesamt 14 Songs und vier Pre- oder Interludes hat die Band vertont, neben »Die Enden der Parabel« liegen den Tracks Texte aus fast all seinen großen Romanen zugrunde: »Bleeding Edge«, »Natürliche Mängel«,»V.«, »Die Versteigerung von No. 49«, »Vineland« und »Mason & Dixon«. Einzig sein am Anfang des 20. Jahrhunderts angesiedelter Roman »Gegen den Tag« fehlt in der Aufzählung. Das Album ist nicht die erste Vertonung von Pynchon-Texten, Robert Forster hatte beispielsweise vor Jahren für das Projekt »Prüfstand 7 – Das Raketenbuch« von Robert Bramkamp und Olga Fedianina Pynchon-Lyrics mit dem Babelsberg Filmorchester vertont. 

Eine der Herausforderungen, der sich die New Yorker Band mit ihrer Platte nun stellt, ist die zeitliche Spannbreite von Pynchons im Laufe der letzten vier Jahrzehnten entstandenen Romanen. Sein historischer Roman »Mason & Dixon« ist – auch sprachlich – im 18. Jahrhundert verortet, sein Debüt »V.« erstreckt sich vom Ende des 19. Jahrhunderts bis über die 30er Jahre hinaus, »Die Enden der Parabel« schreibt das gewissermaßen bis in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg fort. Die Handlung von »Vineland« dehnt sich aus den 80ern in Rückblenden bis in die 50er aus, »Die Versteigerung von No. 49« und »Natürliche Mängel« bilden die Post-McCarthy-Ära und die wilden 70er Jahre ab, Pynchons letzter Roman »Bleeding Edge« spielt am Anfang des 21. Jahrhunderts. Diese erzählerische Weite verbietet einen einheitlichen Sound, was jede Band vor Herausforderungen stellen muss.

Visit meistert das jedoch ziemlich souverän. Das beginnt schon im Intro, in dem die Musik-Snippets von Musiker:innen stammen, die einen prominenten Platz in »Gravity’s Rainbow« einnehmen, wie Christian Hänggi hinweißt: Charlie Parker, Shirley Temple, Glenn Miller und George Formby. Die Atmosphäre von »Die Enden der Parabel« werden infolge mit Jazz-Klängen unterlegt, »Die Versteigerung von No. 49« im folkigen Love-Me-Tender-Sound erweitert. »Vineland«, dessen Handlung in den 80ern spielt, bekommt mit »Long Trip Out« eine Disko-Pop-Version erster Klasse an die Seite gestellt. Für die Ballade des Davy Crocket aus »V.« hat sich die Band am Folksound orientiert, wie er mit Bands wie Mumford & Suns zuletzt auf die große Bühne zurückgekehrt ist. Speziell, aber ziemlich genial die Vertonung von »Let us go down to Hepsie‘s« oder »It was fun while it lasted« aus der Handlung von »Mason & Dixon«. Hier setzt die New Yorker Band die Lyrics von Pynchon klassisch mit Holzblasinstrumenten, Klarinette und Banjo um, früher Minstrel-Sound klingt rhythmisch an. Die Handlungszeit entsteht vor dem geistigen Auge, das hat Klasse. 

Einzig die Country-Klänge von »Middletown New York«, mit denen Visit »Bleeding Edge« vertont, wollen für den Autor nicht so wirklich zur Handlung passen. Aber wie seine Romane ist der Sound, den Pynchon in ihnen beschreibt, offen für Ungewöhnliches. Wenn »Vineland« in einem zweiten Song aufgrund der Handlung rund um die Hippie-Bewegung karibische Rhythmen erhält, wird da das Rad der Marihuana-Reggae-Deutung vielleicht ein Stück zu weit gedreht. Aber was soll’s, schließlich haben wir es hier mit der Literatur von Thomas Pynchon als Grundlage zu tun. Über zu weit drehen darf man sich da nicht beschweren. 

Diese Platte gibt der musikalischen Dimension in Pynchons Werken eine zusätzliche Aufmerksamkeit, ist wie Ausflug aus dem Werk hinaus, um mit passenden Rhythmen darin wieder einzutauchen. Das wird Pynchon-Fans begeistern, für alle anderen ist es eine schwungvoll interpretierende Ergänzung zu dem weit greifenden und an vielen Stellen verschlüsselten Werk des Amerikaners.

Visit: Now Everybody