Gesellschaft, Politik, Sachbuch

Wenn Helfen tötet…

Was heißt Frieden heutzutage? Reicht die Abwesenheit von Krieg aus? Wenn dem so ist, dann herrscht in Syrien derzeit Frieden. Aber will das tatsächlich jemand behaupten? Rechtfertigt die syrische Situation das aktuelle Stillhalten, weil eine Intervention eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten bedeuten würde? Gerd Hankels kluge Denkschrift »Das Tötungsverbot im Krieg« liefert die Vorlage für eine tiefergehende menschliche Position.

Sind in Syrien nicht auch Menschen der Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt, ähnlich wie in Libyen, wo dies als Begründung für eine NATO-Intervention, gedeckt von einer UN-Sicherheitsratsresolution, ausreichend war? Unabhängig davon, wie man das Vorgehen bewertet, scheinen unterschiedliche Maßstäbe zu gelten. Afghanistan, der Irak, Kongo und einige andere Staaten sind jeder auf ihre Weise Belege dafür, dass sich die Erscheinungsform des Krieges verändert und damit die Frage nach Krieg und Frieden in eine komplexere Wirklichkeit geführt hat.

Schlagworte wie »Demokratisierung«, »humanitäre Intervention« und »Kollateralschaden« prägen, so unterschiedlich ihr Charakter ist, das Bild der Bemühungen um eine angeblich friedlichere Welt. Immer häufiger sollen internationale Einsätze mit humanitärem Anstrich die Welt friedlicher machen. Doch mit der Häufigkeit der Einsätze steigt die Zahl der zivilen Opfer und damit Häufigkeit der Zweifel an diesen Interventionen. Denn die internationalen Regeln, deren Rechtskraft und Beachtung immer wieder beansprucht wird, geraten dabei viel zu häufig unter die Panzerketten der »humanitären« Einsatztruppen. Der hemmungslosen Anwendung von Gewalt sind Tür und Tor geöffnet. Wie aber begrenzt man diese Gewaltspirale? Diese Frage hat sich der Völkerrechts- und Konfliktexperte Gerd Hankel gestellt. Das Resultat seiner Überlegungen liegt mit dem kleinen, aber bedeutsamen Band Das Tötungsverbot im Krieg. Ein Interventionsversuch vor.

Bereits der Untertitel Ein Interventionsversuch macht deutlich, dass sich Hankel dabei in einem umkämpften Feld bewegt. Denn diejenigen, die humanitäre Interventionen madig machen, sind weder bei den internationalen Gutmenschen noch bei den westlichen Staaten, die diejenigen sind, die im Zweifelsfall unter dem Denkmantel des Humanitären agieren, nicht wohl gelitten. Doch dem Juristen geht es nicht um eine moralische Bewertung von internationalen Hilfseinsätzen, sondern um eine kritische Untersuchung des aktuellen Kriegsrechts, welches »in den gegenwärtigen Konflikten keine gewaltbegrenzende Funktion« mehr besitzt, wie er sagt. Es sei zu fragmentarisch und lasse ein viel zu großes Ausmaß an militärischer Gewalt zu, um tatsächlich der Konflikteindämmung zu dienen. Ein durchaus treffendes Argument. Der sogenannte Krieg gegen den Terror der letzten zehn Jahre hat nachhaltige Bilder der – immer wieder auch sadistischen – militärischen Gewalt hinterlassen.

Doch welches humanitäre Völkerrecht ist heute das relevante, das der Staatenkriege oder das der sogenannten »nichtinternationalen bewaffneten Konflikte«? Dies ist insbesondere für die Frage des Tötungsverbots von entscheidender Bedeutung, denn ob der jeweilige Gegenüber Kombattantenstatus im Sinne des Kriegsrechts besitzt oder nicht, ist entscheidend für die Behandlung und Rechtsstellung im Konflikt und in der Gefangenschaft. An den Beispielen von Afghanistan und Irak, dem nahen Osten und Sri Lanka demonstriert Hankel diesen Unterschied und attestiert den internationalen Truppen eine allzu oft praktizierte »arrogant-brutale Herr-im-Haus-Attitüde«, die die Erfahrung bestätige, »dass die Entscheidung zur Gewalt ihre Voraussetzung im Leiden an der Gewalt hat.«

Cover Hankel
Gerd Hankel: Das Tötungsverbot im Krieg. Hamburger Edition 2010. 120 Seiten. 12,- Euro. Hier bestellen

Dass ein solches Verhalten der Einsatztruppen möglich ist, liege am defizitären Völkerrecht, welches schon lange nicht mehr die Bedürfnisse der Bevölkerungen treffe, die es schützen soll, meint Hankel. Er zeigt in seiner konzentrierten Analyse auf, inwieweit das Regelwerk aus Genfer Konventionen und Haager Landkriegsordnung Lücken aufweist, die insbesondere den Kriegsgefangenenstatus, die militärischen Besatzung und das Verhältnismäßigkeitsprinzip betreffen, die von der gegenwärtigen Entwicklung in ihren Grundsätzen untergraben werden.

Dabei spielt insbesondere das Verhältnismäßigkeitsprinzip eine Rolle, welches immer dann auf den Plan gerufen werden muss, wenn zivile Opfer ins Spiel kommen. Dies ist gegenwärtig keine Seltenheit, zumal im Kampf gegen den wie auch immer gearteten Terrorismus, dessen Akteure sich immer wieder unter die Zivilbevölkerung mischen und aus deren Mitte heraus agieren. Rebellen und Terroristen von Nordafrika über den Nahen Osten bis hin nach Sri Lanka und Indonesien machen vom Konzept der menschlichen Schutzschilde immer wieder Gebrauch – auch in Libyen war das zu beobachten. Dies kann dann dazu führen, dass sich Kriegsziele und der Schutz der Zivilbevölkerung diametral gegenüber stehen. Im Zeitalter der asymmetrischen Kriege kommt dies immer öfter vor, denn der Rückzug in zivile Strukturen vermag den Guerillas, Rebellen und Terroristen ihre waffentechnologische Unterlegenheit auszugleichen. Zugleich aber erhöhen diese Neuen Kriege, wie sie der Berliner Politologe Herfried Münkler nennt, die Verletzbarkeit der Zivilbevölkerung, weil diese unfreiwillig in das Visier der ferngesteuerten Raketen des Westens gerät – zumal es die geltende Rechtslage zulässt, einen menschlichen Schutzschild zu beschießen.

Grund dafür sei auch das manichäische Weltbild, wonach die Bevölkerungen in Kriegsgebieten nach Gut und Böse unterteilt und zivile Opfer von vornherein einkalkuliert werden. Diese »Dehumanisierung« des Gegenübers muss ein Ende und die Würde des Menschen als zentraler Wert auch in bewaffneten Konflikten wieder zentrale Bedeutung haben, fordert Hankel. Aussagen wie die des Militärhistorikers Martin van Creveld, der die Kritik an Kollateralschäden durchaus mal als Gejammer »zartbesaiteter Naturen« bezeichnet, findet er völlig inadäquat. Hankel fordert unmissverständlich ein Ende der kalkulierten Kollateralschäden. Der moralische Schaden dürfe nicht gegen den militärischen Vorteil abgewogen werden.

Wenn man nun meint, Gerd Hankel sei ein romantischer Pazifist, täuscht man sich. Das Konzept der Schutzverantwortung bleibe weiterhin bestehen, Gewalt könne weiterhin aus humanitären Gründen gerechtfertigt sein, schreibt er unumwunden. Ein Eingreifen, wenn Regime ihre Völker in einem Maß unterdrücken, der ein humanitäres Engagement auf den Plan ruft, ist demzufolge weiter möglich. Wer aber heutzutage humanitär agieren wolle, müsse sich auch besonderen Regeln unterwerfen, um nicht den Gedanken der Humanität zu untergraben. Eine friedliche Perspektive könne nur herstellen, wer nicht auf Mittel zurückgreift, die dem Grundgedanken des Humanitären zuwiderhandeln. Dies erfordert die Einhaltung der völkerrechtlichen Standards: »Bei internationalen, UN-mandatierten Militärmissionen, die humanitäre Ziele verfolgen, gelten die Mitglieder der bewaffneten Einheiten aller am Konflikt beteiligten Parteien als Kombattanten. Im Falle ihrer Gefangennahme werden sie als Kriegsgefangene behandelt. Sie behalten die mit dieser Rechtsstellung verbundenen Vergünstigungen, auch wenn strafrechtliche Maßnahmen gegen sie ergriffen werden. Mitglieder von bewaffneten Einheiten, die im Widerspruch zu den Regeln des humanitären Völkerrechts heimtückisch kämpfen, verwirken den Anspruch, Kombattanten bzw. Kriegsgefangene zu sein.«

Gerd Hankel fordert eine lupenreine Ethik bei humanitären Einsätzen – eben um der humanitären Legitimation nicht den Boden zu entziehen. Das Überdecken der eigentlichen Ziele mit dem humanitären Leinentuch gehe nach hinten los, denn das Risiko werde dann auf diejenigen verlagert, denen diese Einsätze zu Gute kommen sollen. Die Regeln, die er am Ende seines Buches auflistet, sind in ihrer Summe nichts weniger, als eine Reform des humanitären Völkerrechts. Ihre Einhaltung trüge dazu bei, die Aushöhlung von Begriff und Inhalt des Humanitären zu verhindern. Vielmehr aber würde eine Einhaltung dieser Regeln das Völkerrecht wieder an seinem Subjekt und nicht an politischen Wunschprojekten ausrichten.

Gäbe es eine humanistische Position zu den Entwicklungen des humanitären Völkerrechts, sie könnte kaum klüger und pointierter ausfallen, als Gerd Hankels kluge Intervention zum Tötungsverbot im Krieg.