Erzählungen, Literatur

Das Eckige passt nicht ins Runde

Der brasilianische Schriftsteller Luiz Ruffato hat eine Anthologie mit Erzählungen zusammengestellt, mit denen die Lesenden das WM-Gastgeberland »über eine der größten Leidenschaften seiner Bevölkerung« kennenlernen sollen. Es wird ein anderes Brasilien sein, als das, was uns in den nächsten vier Wochen von den Bildschirmen vermittelt wird. Gerade deshalb sollte dieses Buch jetzt gelesen werden.

Wie groß war doch der Jubel, als die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 nach Brasilien gegeben wurde, in das Heimatland der gepflegten Ballkunst, in dem die besten Kicker auf nicht in Fußballinternaten, sondern auf der Straße großwerden. Die fußballverrückte Nation würde der perfekte Gastgeber für dieses Fußballfest sein. Und wie groß ist nun die Ernüchterung. Sorgten zunächst die unzähligen Pannen beim Bau der Stadien für lange Gesichter, sind es nun die nicht abreißenden Proteste der brasilianischen Bevölkerung, die das Großereignis trüben. Die brasilianische Bevölkerung schafft derzeit das Korrektiv zur der die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse schönenden Kampagne von FIFA und brasilianischer Regierung.

Vor diesem Hintergrund scheint die Sammlung der 16 Fußballgeschichten, die der brasilianische Schriftsteller Luiz Ruffato in dem Band Der schwarze Sohn Gottes versammelt hat, der notwendige Augenöffner zu sein, den man sich neben den WM-Plan legen sollte. Denn von allen literarischen Titeln zur Fußball-Weltmeisterschaft kommt dieser schmale Band mit den Erzählungen von 16 brasilianischen Autoren der Wirklichkeit am Nächsten. Dies liegt daran, dass die hier versammelten Schriftsteller diese Erzählungen nicht mit der Euphoriebrille auf der Nase geschrieben haben, sondern den Fußball zum Dreh- und Angelpunkt benutzen, historische und gegenwärtige Probleme und Debatten in der brasilianischen Gesellschaft zu reflektieren.

Dabei wird nicht, wie man erwarten könnte, ein Hohelied auf den Rasensport gesungen, sondern es geht in jeder Geschichte um die existenziellen Fragen des Lebens. Da wird der Schlachthof zur Keimzelle des Fußballs, ein Geheimfriedhof zum Stadion umfunktioniert und das Spiel als solches zur Frage der Moral.

Es sind zum Teil skurrile Erzählungen, die in diesem Band versammelt sind, in denen Fußball mal mehr und mal weniger im Vordergrund der Handlung steht. Fernando Bonassi etwa beschreibt in seinen Skizzen 3 x Fußball einen »Wettkampf zwischen uns und ihnen«, in dem eine Fußballmannschaft aus nicht genannten Gründen der Willkür von Zuschauern und Schiedsrichter ausgeliefert ist, bis sie sich nach 360 Minuten ein Gegentor einschenken lassen und damit das Spiel herschenken. Es beginnt schon damit, dass diese Mannschaft unter Steinehagel und Militärschutz ins gegnerische Stadion gefahren wird. Während des Spiels wird sie mit Fäkalien beworfen und im Spiel benachteiligt. Das sie sich dennoch in ihr Schicksal fügt, trägt zu den kafkaesken Zügen bei, die dieser Erzählung innewohnt.

Ähnlich verwirrend ist das, was Marcelo Moutinho in Sonntag im Maracanã erzählt. Jorge besucht mit seinem Vater das legendäre Stadion in Rio de Janeiro nach dessen Sanierung. Bei dem Rundgang durch die neonbeleuchteten Tunnel verläuft er sich und stößt auf einen Spalt, durch den ein gleißender Lichtstrahl dringt. Es ist die berühmte Lücke in der Wirklichkeit, denn als er durch diesen Spalt blickt, sieht er, »was hätte passieren können. Ereignisse, die das Maracanã nur knapp verpasst hatte.« Dazu gehört natürlich die Bewältigung des Traumas, der dunkelsten Stunde des brasilianischen Fußballs, die die Nation am 16. Juli 1950 erleiden musste, als die brasilianische Nationalmannschaft als haushoher Favorit gegen Uruguay bei der Heim-WM im Maracanã-Stadion 0:1 unterlag.

Wo genau diese faszinierend schönen wie erschütternden Geschichten zwischen Autobiografie, Dokumentation und Fiktion, Lokalkolorit und Globalisierung, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft anzusiedeln sind, ist schwer zu sagen. Jede hat ihren ganz eigenen Platz im dreidimensionalen Wortraum von Zeit, Ort und Genre – und nicht selten schweben sie zwischen den Dimensionen. Wie bei der titelgebenden Geschichte, die von dem »schwarzen Sohn Gottes« erzählt, einem Spieler namens W., der 1986 in Mexiko Weltmeister hätte werden sollen. Ein Kreuzbandriss und das Ausscheiden im legendären Jahrhundertspiel gegen Frankreich haben es verhindert. Dem anonymen Erzähler ist er dennoch in ewiger Erinnerung geblieben, denn als er das erste Mal im Stadion wahr, hatte er nur Augen für diesen »Gott, der mir eines Sonntagnachmittags beibrachte, wie man glücklich ist.« Im Jubel über seine beiden Tore rannte W. in die Richtung des zehnjährigen Erzählers »mit offenen Armen – ein schwarzer Jesus, an ein imaginäres Kreuz genagelt«. Wer dieser imaginäre Spieler sein soll, bleibt im Unklaren, die Geschichte aber ist so konkret, dass sie ebenso wahrhaftig wie erdacht sein könnte.

Radical Advertising zu Fußball-WM 2014

Der Autor Rogério Pereira verpackt in seiner Erzählung auch die düstere Geschichte von Kolonialismus und Rassismus in Brasilien, indem er daran erinnert, dass all die Pelés, Ronaldos und Ronaldinhos, die Dantes und Neymars afrobrasilianischen oder indigenen Ursprungs sind. Stärker noch als Pereira reflektiert die Journalistin und Schriftstellerin Eliane Brum in ihrer Erzählung Raimundo und der Ball die Lasten von Kolonialismus und Ausbeutung. In der Tradition des Magischen Realismus erzählt sie darin vom Missbrauch und der Ausbeutung Brasiliens, angefangen von der Eroberung der Urwälder durch die ersten europäischen Siedler und den an den Ureinwohnern begangenen Verbrechen bis hin zur skrupellosen Zerstörung der Natur in der Gegenwart. Die von dem Herausgeber des Bandes, Luiz Ruffato, auf der Frankfurter Buchmesse aufgestellte These, die Assimilierung der brasilianischen Gesellschaft sei »über die Vergewaltigung von Ureinwohnerinnen und Afrikanerinnen durch weiße Kolonisatoren« erfolgt, findet in Elise Brums Erzählung ihr direktes Echo – was auch zeigt, dass Ruffato mit dieser Ansicht alles andere als allein steht.

Im Mittelpunkt steht dabei der naive Raimundo, dessen Vater ihm vor Jahren einen Fußball mit den Worten überreichte »Raimundo, mein Sohn, das ist die Welt«. Auch wenn Raimundo weder mit dem gereichten Gegenstand noch der Aussage etwas anfangen kann, wird Fußball zu seinem Verhängnis werden. Er wächst im Urwald, abgeschottet von der modernen Welt, mit der ihm zugedachten Raimunda auf. Ab und an bringt ein Händler, ein Namensvetter Raimundos, die für das Leben notwendigen Dinge. Eines Tages bringt dieser Raimundo von Außen dem einsamen Dschungelkönig und seiner Frau ein Radio mit. »Ich drehe jetzt an dem Knopf, und du wirst die Welt hören.« Gegen das Versprechen, das Raimundo einem windigen Freund des Händler für einige Wochen Obdach gewährt, darf er den Kasten behalten, der ihm »die Welt« in den Urwald bringt. Gebannt verfolgt er die Fußballberichterstattung, während der fremde Valdir nicht nur seine Frau verführt, sondern Raimundos gesamte Existenz aufs Spiel setzt. Und viel zu spät erst bemerkt der tragische Antiheld dieser Geschichte, »dass die Welt – mundo – ein Teil seines Namens war.«

An Geschichten wie diesen wird deutlich, warum der Schlachthof keine allzu ferne Allegorie für den Fußball in Brasilien ist. Es versinnbildlicht den Teil Brasiliens, in dem es »nach Blut und Fleisch« und «sehr viel Dreck« roch, wie es in der gleichnamigen Erzählung von Ronaldo Correia de Brito heißt. Die Erzählungen sind voller kritischer Töne, die gleichermaßen in der Geschichte als auch in der Gegenwart ihr Echo finden. Wenn Eliane Brums Raimundo etwa sagt »Und wer sagt denn, dass ich in Brasilien lebe, wenn Brasilien nicht einmal von mir etwas weiß?« oder Rogério Pereiras anonymer Erzähler Rio de Janeiros Cristo Redentor als »Christus ohne Anmut, der keine Tore schießt oder gar einen dünnen Zuhälterschnurrbart trägt« beschreibt, gefriert dem Lesenden, die sozialen Proteste im Kopf, das Blut in den Adern. Dass ausgerechnet Luiz Ruffato, der bei seiner kritischen Eröffnungsrede des Brasilienschwerpunktes auf der letztjährigen Frankfurter Buchmesse für Furore sorgte und ihm bei regierungstreuen Künstlern den Ruf des Nestbeschmutzers einbrachte, diese Anthologie zusammengestellt hat, verwundert nicht. Diese Geschichten vermitteln uns viel von dem Kantigen und Eckigen, das nicht ins runde Bild der Weltmeisterschaftsmacher passen will, vergessen zugleich aber nicht Anmut, Faszination und Bedeutung des Sports für die Brasilianer.

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Luiz Ruffato (Hrsg.): Der schwarze Sohn Gottes. 16 Fußballgeschichten aus Brasilien. Mit Erzählungen von Mário Araújo, Fernando Bonassi, Ronaldo Correia de Brito, Eliane Brum, Flávio Carneiro, André de Leones, Tatiana Salem Levy, Adriana Lisboa, Ana Paula Maia, Tércia Montenegro, Marcelo Moutinho, Rogério Pereira, Carola Saavedra, André Sant’Anna, Cristavão Tezza, Luiz Ruffato. Aus dem Portugiesischen von Kirsten Brandt, Anne Essel, Marianne Gareis, Markus Hediger, Maria Hummitzsch, Wanda Jakob und Michael Kegler. Verlag Assoziation A 2013. 184 Seiten. 16,- Euro. Hier bestellen

Luiz Ruffato hatte schon in Frankfurt erklärt, dass er an einem Ort schreiben müsse, »wo der Begriff Raubtierkapitalismus ganz bestimmt keine Metapher ist«. Die hier versammelten Geschichten komplettieren und konkretisieren seine damaligen Ausführungen (hier von der NZZ dokumentiert), indem sie von »der anonymen Masse, dem unsichtbaren Heer der Hausangestellten, Pförtner, Sicherheitskräfte, Empfangsdamen, Coiffeure, Straßenwischer, Maurergehilfen, Tankwarte, Lumpenproletarier« berichten. »Diese Menschenmasse lebt nicht, sie überlebt im besten Fall in den Vorstädten, stranguliert durch den Ruin des Gesundheits- und Erziehungssystems, gelähmt von der Gewalt, die von der Polizei und den Banditen gleichermaßen verübt wird«, führte Ruffato damals aus. Am stärksten versinnbildlicht wird dieses Bild in der Geschichte Casquinha war nicht der, für den wir ihn hielten von Mário Araújo. Zu Lebzeiten galt Casquina als der »weltgrößte« Fußballer aller Zeiten. Als Schuhputzer und Hobbykicker ist ihm der Aufstieg in den internationalen Fußball gelungen. Nach Tausenden von Toren aber, »den unglaublichsten, den sensationellsten, den spontansten, den verblüffendsten, den beispiellosesten, den trickreichsten« aber beschloss Casquina, den Fußball an den Nagel zu hängen. Was dann folgt ist der Abstieg am Jetset, den all jene erleiden, denen ihr Aufstieg zu Kopf gestiegen ist. Partys, Drogen und Exzesse. Das Bild des famosen Fußballstars aus der Unterschicht, das von ihm existiert, ist ein Trugbild, so wie auch das Bild des stets lebensfrohen, fußballbegeisterten brasilianischen Volkes, das uns dieser Tage von Marketingagenturen vorgehalten wird, ein trügerisches ist. Hinter den Kulissen der Werbebanner und Großbildleinwände ist die gebeugte Menschenmasse. Dank der in diesem Band versammelten Fußballgeschichten erfahren wir, dass für die normalen Brasilianer im Fußball nicht nur die Hoffnung, sondern auch das Verhängnis liegt.