Allgemein, Literatur, Lyrik

An einem heißen Juli-Tag

– so heißt nicht nur eines der besten Gedichte in Tom Schulz’ neuem Band Lichtveränderung. Der Titel ist auch Programm für die deutsche Lyrikszene, die sich in diesen Sommertagen wortreich feiert.

Seit der Preis der Leipziger Buchmesse in diesem Jahr an Jan Wagner für seinen Gedichtband Regentonnenvariationen verliehen wurde, ist es nicht mehr zu übersehen: die deutsche Gegenwartslyrik boomt. Bei zum Teil neuen, zum Teil etablierten Veranstaltungsreihen und -formaten – wie just das 16. Poesiefestival in der Berliner Akademie der Künste – finden wieder mehr Lesende Gefallen an wort- und klangakrobatischen Texten. Was bis vor wenigen Jahren noch als schwierig zu lesende und zu vermarktende Textgattung galt, die Germanistikstudierenden oder hartgesottenen Lyrikfans vorbehalten zu sein schien, verschafft sich die Poesie dank einer regen und vielfältigen Lyriker_innen- und Verlagsszene zunehmend Gehör – und das mit großem Erfolg. So ist es wohl kein Zufall, dass nach Wagners Erfolg in Leipzig nun auch in Klagenfurth mit Nora-Eugenie Gomringer eine Frontfrau der deutschen Lyrikszene den Ingeborg-Bachmann-Preis, eine der wichtigsten literarischen Auszeichnungen im deutschen Sprachraum, gewonnen hat. Obwohl es sich bei diesem Sommer der Lyrikszene keineswegs um ein ausschließlich Berliner Phänomen handelt, wie auch die zahlreichen Lesungen und Lyrikwerkstätten in ganz Deutschland zeigen, sind es gerade die Berliner Dichterinnen und Dichter, die (immer wieder) poetisch für Furore sorgen wie zum Beispiel Ulf Stoltefoht, Monika Rinck, Uljana Wolf, Daniela Seel, Jan Wagner, Björn Kuhligk – und Tom Schulz.

Der 1970 in der Oberlausitz geborene Dichter Tom Schulz ist ein fester Bestandteil der Berliner Lyrikszene, deren literarisches Wirken eng mit der Gründung und dem Werdegang des Independent-Verlags kookbooks verknüpft ist. Auch Schulz’ Gedichte fanden in den früher 2000er Jahren in diesem »labor für poesie als lebensform« eine verlegerische Heimat, bevor er 2014 zusammen mit Björn Kuhligk den Band Wir sind jetzt hier. Neue Wanderungen durch die Mark Brandenburg bei Hanser Berlin veröffentlichte.

Mit Lichtveränderung legt Tom Schulz nun seinen zweiten Band bei dem Hauptstadtableger des renommierten Münchener Verlags vor. Die lose in fünf Kapitel unterteilten Gedichte spiegeln Schulz’ große thematische Spannbreite. Es geht um Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend in der DDR, um Politik, Natur und die Reflexion des lyrischen Ichs – oder schlicht um the human condition. Die Texte, deren hoher Abstraktionsgrad bisweilen ans Hermetische heranreicht, bewegen sich sprachlich, inhaltlich und formal in eben jenen Veränderungen und Übergängen, die der Titel des Gedichtbandes bereits anklingen lässt: im Zwielicht zwischen Tag und Nacht, in den fließenden Übergängen zwischen bewussten Reflexionen und Gedankenströmen (etwa in »ad libitum«) sowie in den graduellen Verschiebungen sprachlicher Bedeutungen.

Es sind gerade die feinen Veränderungen und Verschiebungen, die den Reiz von Schulz’ Texten ausmachen. Denn auch wenn die einzelnen Gedichte formal auf den ersten Blick eher unspektakulär daherkommen – oftmals in Anlehnung an das Prosagedicht, in traditionellen Paaren oder Terzetten, zumeist aber als Quartette – gehört das Zusammenspiel von Form und Inhalt zu den handwerklichen Stärken des Autors. Am augenfälligsten zeigt sich das in den häufigen Zeilen- und Strophensprüngen, die Schulz einsetzt, um Kontraste oder neue Wortbedeutungen zur Geltung zu bringen. So heißt es etwa:

»An einem heißen Juli-Tag

wurde der Vater in einen Plastiksack
gepackt, ein Bündel Knochen noch
das rasch verfeuert wurde – er sprach
zuvor, als er in seinem Sterbezimmer lag

kaum mehr ein Wort, Sonnenstrahlen
schossen die Wände hoch – kein Reich
das kommen würde, das ihn zu sich rief
[…]«

In den forcierten Pausen am Zeilen- oder Strophenende schafft er hier Raum, um Worte gezielt zu positionieren und Inhalte zu (ver-)schärfen, oder um selbst höchst ritualisierte Phrasen (»kein Reich // das kommen würde, das ihn zu sich rief«) – aufzubrechen und zu ent-schärfen.

Klanglich setzt Schulz vor allem auf Binnenreime und Homonyme, um neue Bilder zu generieren und den Text – jenseits der Versgrenze – zu verklammern. In »Praga, danach« liest sich das so:

»Ich sah im Fluss die Bewegungen. Ich spürte in allem Regungen.
Alle Regungen. Das Brechen von Plastikbechern. Das Versprechen.«

Und wenig später:

»Es tagte und drinnen tagten Dirnen. Birnen faulten.
Vor den Plätzen. Jemand sprach vor. Und sagte. Oder ein Vers hob an.
Das Versagen. In allem war Sagen.«

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Tom Schulz: Lichtveränderung. Hanser Berlin 2015. 96 Seiten. 15,90 Euro. Hier bestellen

Im März 2010 sprach Schulz über sein Verständnis von zeitgenössischer Lyrik und plädierte dafür, Gedichte durch »kognitives Fühlen« zu begreifen, das weder den Verstand noch das Gefühl bevorzugt und den Anspruch, lyrische Texte zu dechiffrieren klar zurückweist: »Das Geheimnis der Poesie ist nicht in Gänze auflösbar mittels Begrifflichkeiten. Das Rationale, es hängt beim Verstehen von Gedichten immer ein Stück hinterher. Es scheint dafür zu wenig geeignet. Es muss also eine Form von kognitivem Fühlen gefunden werden, eine glückliche Symbiose aus Verstand und Empfindung, die auf ein Gedicht trifft/auf die ein Gedicht trifft. Ein lebendiger Austausch und die Möglichkeit des Dialogischen.«

Wer sich bei der Lektüre von Schulz’ Gedichten auf diese Art des poetischen Zwiegesprächs einlassen kann, dem bieten sie eine Fülle an Möglichkeiten zum Nachfühlen und Nachsinnen. Wer hingegen einen einfachen Zugang zur deutschen Gegenwartslyrik sucht, der wird das Buch bald beiseite legen – um es hoffentlich irgendwann wieder zur Hand zu nehmen. Es sind kluge und sprachgewandte Texte, die sich der Idee von Lyrik als literarischer, sinnlicher und rationaler Erfahrung verschrieben haben und diese in großen Teilen auch umsetzen. Zweifelsohne ist Schulz’ Lichtveränderung eine anspruchsvolle, aber lohnende Lektüre – nicht nur an heißen Juli-Tagen.

2 Kommentare

  1. […] erschließt sich allein den Gedichten in Schönschrift. Der Rest ist Gekritzel.« Wo Jan Wagner die äußere Hülle als Wesen gefeiert hat, nimmt seine Dichterkollegin erst einmal nur wahr und beginnt dann, entlang von […]

  2. […] sie ihre Erzählerin in einer Kunstsprache sprechen lässt, die bereits die Berliner Dichterin Uljana Wolf (bei der sich die Erzählerin auch brav bedankt) in dem Gedichtband »Meine schönste Lengevitch« […]

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