Comic

Ich ist ein anderer

Die in den USA lebende britische Comiczeichnerin Gabrielle Bell erweist sich in ihrem Werk »Die Voyeure« als große Erzählerin, die in ihrem Werk eine Psychologie des getriebenen Menschen in der Moderne entwickelt.

Wenn sich eine Comicautorin am Ende ihres Werks bei zeichnenden Größen wie Joe Matt oder Alison Bechdel sowie bei Kulturschaffenden wie Michel Gondry und Francoise Mouly bedankt, dann mag das in einer deutschen Erstpublikation auf den ersten Blick etwas aufgetragen erscheinen. Richtig dick wird dieser Auftrag, wenn auf dem Buchumschlag kein geringerer als Art Spiegelman von einem »der besten autobiografischen Comics unserer Tage« spricht und Chris Ware gesteht, dass er dieses Buch der wohl »aufrichtigsten Erzählerin ihrer Generation« liebt. Hat man dieses Werk jedoch erst einmal zur Hand genommen, überkommt den Leser die Erkenntnis, dass hier nicht der Auftrag dick ist, sondern der deutsche Comicmarkt trotz bemerkenswerter Gewinne an Umfang, Umsatz und Renommee immer noch der internationalen Szene hinterherläuft.

Mit Die Voyeure kann man hierzulande endlich die britisch-amerikanische Comicautorin Gabrielle Bell entdecken, die mit ihren halbautobiografischen, slapstickhaften Comics längst zu den Größen der englischsprachigen Comicwelt gestoßen ist. Die 1976 in London geborene, inzwischen in New York lebende Zeichnerin darf sich zu den »Ignatzen« zählen, also zu jenen Zeichnern, die den bedeutenden Ignatz-Award schon gewonnen haben – Bell sogar schon mehrfach. Zahlreiche weitere Nominierungen, auch für die Eisner-Awards, gehen auf ihr Konto. Bereits dreimal wurden ihre Arbeiten in die anerkannte Jahresanthologie Best American Comics aufgenommen und die Yale-Universität lobte Bells Werk in ihrer Auswahl zur herausragenden grafischen Literatur. Es gibt, das sei an dieser Stelle angesichts dieses erstaunlichen grafischen Kosmos bemerkt, noch einen Schatz zu heben, von dem Die Voyeure nur ein kleiner Teil ist.

Gabrielle Bell begann vor fünfzehn Jahren, ihren Alltag in comicalen Miniserien zu verarbeiten. Ihre selbstironischen, satirischen und psychologisierenden Strips sind Spiegelflächen ihrer Generation, jetzt also der Thirtysomething, deren Vertreter einerseits in die Welt des permanent Virtuellen hineingeboren und dort heimisch sind, andererseits aber auch täglich darin scheitern. Bell reflektiert dieses sich ständig wiederholende Scheitern an den sich bietenden unendlichen Möglichkeiten in kleinen Geschichten, die sich um sie und ihren Freundeskreis drehen.

Diese neurotische Auseinandersetzung ist sozial klar verortbar: bei Bell zelebrieren all jene ihre kleinen Erfolge im selbst gewählten Scheitern, die noch nicht zu den Schönen und Vermögenden gehören, die aber Anschluss haben zu den potentiellen Anwärtern für diesen Club. Und vor allem zelebriert sich die Autorin selbst – schonungslos ehrlich, rücksichtslos komisch und grenzenlos entlarvend. Ein Vergleich von Gabrielle Bell mit dem frühen Woody Allen ist hier keineswegs verwegen.

Die Voyeure spielt sich inhaltlich auf zwei Ebenen ab. Zum einen reflektiert Gabrielle Bell als It-Girl die amerikanische Comicszene, zum anderen zeichnet sie das Bild einer von Selbstzweifeln geplagten Frau, die sich immer wieder zu behaupten sucht. Während sich die Passagen zur amerikanischen Comicwelt vor allem für die Liebhaber der grafischen Literatur wie Augenöffner lesen – Bell berichtet von ihren Treffen mit Anders Nielsen und Robert Crumb am Rande der Comic-Con in San Diego und lässt ihre Leser in diesen besonderen Kosmos eintauchen – lohnen sich für den Gelegenheitscomicleser vor allem die Passagen, die Bell zur Exegese der eigenen Persönlichkeit nutzt.

covervoyeurehp
Gabrielle Bell: Die Voyeure. Aus dem Englischen von Thomas Stegers. Metrolit-Verlag 2013. 157 Seiten. 22,99 Euro. Hier bestellen

Bells Gedankenwelt ist die der mediengetriebenen Großstädterin, und Mitglieder dieser Welt werden sich im gezeichneten Alter Ego der Autorin gut wiederfinden. Wen lassen schon Geständnisse wie »Ich fühle mich wie ferngesteuert. Aufstehen, E-Mails checken, Essen, E-Mails checken, Kaffee trinken, E-Mails checken, Frühstücken, E-Mails checken, Schreiben, E-Mails checken.« oder »Wer könnte der Versuchung, an seinen eigenen Vorteil zu denken, widerstehen?« völlig unberührt? Bell geht raus aus der eigenen Komfortzone, entblößt die eigenen Schwächen und gewinnt gerade darin ihre Unangreifbarkeit.

Angreifen im wörtlichen Sinne mag sie ohnehin nicht. Als ihr Alter Ego in Die Voyeure zärtlich vom aktuellen Liebhaber umarmt wird, reflektiert die Autorin ihr eigenes Unwohlsein mit dieser Art an Ritual. »Vielleicht bin ich nicht die einzige; vielleicht verletzt eine Umarmung die Komfortzone vieler Menschen. Oder ist es eher so, dass jeder Mensch eine individuelle körperliche Komfortzonenschwelle hat, und die Niedrigschwelligen haben diese Umarmerei zur Begrüßung eingeführt.« Es sind diese Miniaturen, in denen Bell das Gehabe der betuchten Großstädter sarkastisch beleuchtet und hinterfragt. Denn hier steht am Ende kein Fragezeichen, sondern ein Punkt. Es wird eine Aussage getroffen, keine Hypothese aufgestellt. Bells Seelenstriptease mag einer sein, der aus einer bestimmten Szene oder Schicht kommt. Aber er emanzipiert sich von ihr, wirkt aus ihr heraus und entwickelt außerhalb der Welt der Dandys und Hipster ein Eigenleben.

Die Voyeure kann unschwer auch als Comic über das Madenleben in der hyperkapitalistischen Gesellschaft gelesen werden, es ist aber auch eine Kritik daran. Dem surrealen Zustand des ständigen Unterwegssein der Alpha-, Beta- und Gammatiere in dieser Gesellschaft gibt Bell mit Aussagen wie »Wenn Du hier bist, ist es, als würde ein Geist durch den Raum schweben. Als wäre dein Gesicht hier, aber du bist nur teilweise anwesend…« die entsprechend surreale Sprache, ohne das diese verständnislos erscheint. Wir Leser wissen ganz genau, was hier gemeint ist, atmen erleichtert auf, dass es nicht nur uns so geht. Und zugleich bekriecht uns Unwohlsein ob der Aussprache dieser Abgründe unserer Zeit. Bells Werk macht uns zu Voyeuren des eigenen Verhaltens.

Das Leiden, das jedem kritischen Geist in der selbstbezogenen, kapitalistischen Welt geradezu zwangsläufig mitgegeben ist, verschweigt Bell nicht, sondern macht daraus große Kunst. Als ihre autobiografische Vertreterin sich in Los Angeles den Frust ablaufen will, führt sie einen inneren Monolog, ein Eingeständnis: »Ich laufe, weil ich innerliche Qualen erleide. Ich laufe, um die Gewalt im Kopf zu besänftigen, die Depression, die Panik, die Enttäuschungen, die Scham, den Frust, die Vergänglichkeit.« Wir lesen dies, sehen eine kleine Gestalt im grünen Nirvana laufen, umgeben von Harpyien, Teufeln und Drachen, die an Francisco de Goyas Monster erinnern, und denken uns: Genauso ist es!

Wann immer Bells Alter Ego scheitert, hat dieses Scheitern seine Ursache in der Suche nach einem besseren Leben. Zugleich kippt die autobiografische Erzählung – hier beißt sich die Katze in den Schwanz – immer wieder in die Neurose, in die selbstbezogene Auseinandersetzung mit dem Ich. Im blitzlichtartigen Aufschrecken von der Ich-Perspektive ist die grundsätzliche Skepsis an der egomanischen Gesellschaft verborgen, in deren Mitte die verletzbare und um Aufmerksamkeit bettelnde Bell sitzt und im Hamsterrad läuft und läuft und läuft. Wie war das? »Wer könnte der Versuchung, an seinen eigenen Vorteil zu denken, widerstehen?« Ja, wer könnte das schon. Allein schon dieses Geständnis macht Bells Comic zu einem großen Meisterwerk der grafischen Erzählkunst und zu einer echten Entdeckung.

Am Ende sitzt Gabrielle Bells rastloses Alter Ego mit ihrem Freund Tony zusammen. Der junge Mann versucht der Comicfigur Bell zu sagen, dass er ihr ständiges Tun und Wirken bewundert, aber die Schattenseiten dessen, die »nur teilweise Anwesenheit«, nicht ausklammern kann. Er bringt dies in traumhafte Worte, die die Leser dieses großen Werks staunen lassen ob ihrer Eindringlichkeit und Poesie. Die Szene läuft in einen der berührendsten Dialoge der Comicgeschichte über, der dieses große Werk abschließt: »Deine Arbeit ist wie dein Bewusstsein. … Ich weiß nicht mal, ob du noch derselbe Mensch bist. Bist du derselbe Mensch?« – »Wie wer?« – »Wie Du. …  In Gesellschaft lächelt mein Gesicht. Ich versuche, offen zu sein, verbindlich, damit sich andere angenommen fühlen. Aber ich sehe mir selbst teilnahmslos zu. Das macht mir Angst.« – »Jetzt auch?« – »Ich … ist ein anderer.«

Der Blog der Autorin: www.gabriellebell.com

Dieser Beitrag erschien bereits am 19.11.2013 auf der Comic-Seite des Tagesspiegel.

2 Kommentare

  1. […] USA ausgewandert und dort der jüdischen Diaspora übergeben, aus der so wundervolle Sardoniker wie Woody Allen, Philip Roth, Nathan Englander oder Joshua Ferris hervorgegangen sind. Nun hat er, mitten in der […]

Kommentare sind geschlossen.