Die Berlinale sucht in diesem Jahr energisch nach dem Recht auf Glück, das in der Familie gehört vermeintlich selbstverständlich dazu. Wie die Filme am ersten wirklichen Wettbewerbstag gezeigt haben, ist das mit dem Recht auf Glück und Liebe in der Familie aber doch etwas komplizierter.
Nachdem die Coen-Brüder mit ihrer Hollywood-Komödie Hail Caesar! für allgemeine Eröffnungsbegeisterung sorgten, ging es zu Beginn des Wettbewerbs gediegener zu. Der erste Berlinale-Freitag stand ganz unter dem Stern der Familienbindungen. Da hatten ein verwöhntes Muttersöhnchen seinen Auftritt, der aus dem für ihn geplanten Leben aussteigt, einem anderen Spross mit übersinnlichen Kräften lagen die Eltern in fast religiöser Huldigung zu Füßen und ein erfolgreicher Beaux hat sich in Stolz und Eitelkeit geflüchtet, um sich selbst so zu lieben, wie er es von seiner Mutter erhofft.
Treten wir aber einen Schritt zurück und schauen wir noch einmal auf das Recht auf Glück. Grundsätzlich wäre dieses Recht jedem zu wünschen, tatsächlich wird es aber bei weitem nicht jedem Erdenbürger gewährt. Vielmehr scheint es vor allem Schicksal, wer dieses Recht genießt.
Hedi gehört zweifellos nicht dazu, sein Leben verläuft in den Bahnen der für ihn vorgezeichneten Linien. Dabei meint man zunächst, dass dieser verwöhnte Tunesier doch recht zufrieden sein könnte. Der Endzwanziger lebt noch zuhause bei seiner Mutter, die mit allem Engagement seine bevorstehende Hochzeit organisiert, und in der Peugeot-Zentrale in Tunis genießt er ein relativ ruhiges Leben. Er muss sich so gesehen um nichts kümmern, er hat aber auch einfach nichts in der Hand, ist die ferngesteuerte Marionette von Kräften, die er nicht kontrolliert.
Doch die Wirtschaftskrise zwingt ihn, in der tunesischen Provinz wieder Klinken zu putzen, da die Verkaufszahlen eingebrochen sind. Dort lernt er die anziehende Animateurin Rim (Rym Ben Messaoud) kennen. Sofort fühlt er sich zu ihr hingezogen, lässt alle Zurückhaltung fallen und stürzt sich in eine leidenschaftliche Liebesgeschichte, die man in dieser Gesellschaft ganz bewusst als amour fou bezeichnen muss, weil sie ihn an den moralischen Rand der der sozialen Konventionen führt. Er lässt sich aber darauf ein, weil er endlich der Enge des Systems entkommen und Freiheit atmen kann.
Mit Mohamed Ben Attias Inhebbek Hedi ist zum ersten Mal nach zwanzig Jahren ein tunesischer Beitrag im Wettbewerb. Die Frage, die sich mit jeder Minute des Filmes stellt, ist die nach der Höhe des Preises, den das Individuum in dieser Bausatzgesellschaft, in der alles durch Tradition und Religion vorgegeben ist, zu zahlen hat, wenn es seinem Glück nachgeht.
Hedi, verkörpert von dem jungen Tunesier Majd Mastoura, ist eine ambivalente Figur, die Schwierigkeiten hat, sich von der eigenen Einsamkeit zu befreien. Umso schwerer liegt sie auf den Schultern dieses sensiblen Mannes, der die Lethargie der ihn umgebenden Gesellschaft in besonderer Weise wahrnimmt. Verwirrend ist, dass dies zunächst keine sichtbaren Konsequenzen hat. Erst als Rim auftaucht, wird er aktiv und setzt sich mit der Frage auseinander, welches seine Rolle in der traditionellen tunesischen Gesellschaft in der Ära der Postpostrevolution ist.
Die Parallele zwischen Hedi und der tunesischen Gesellschaft ist dezent im Drehbuch angelegt und dringt durch das intensive Spiel der Figuren zugleich unübersehbar an die Oberfläche. Der Erschütterung folgt die Euphorie und schließlich die Emanzipation von dieser, um eine neue Wirklichkeit zu schaffen – so ungefähr muss man sich die Reihenfolge dieser Selbst- und Sinnsuche vorstellen, die Hedi stellvertretend für sein Land durchläuft und ebenso wie dieses den Wandel nur teilweise vollzieht.
Die Emanzipation von der Euphorie ist bei diesem Prozess ein zentraler Bestandteil, weil die Euphorie allein zwar die alte Welt in Trümmer stürzt, aber auch so schnell keine neue entstehen lässt. Genau daran krankt Denis Cotés diesjähriger Beitrag Boris sans Béatrice, es fehlt im Prozess der Läuterung, die der schöne Boris (James Hyndman) hier durchmacht, die Emanzipation von diesem Prozess, um eine neue Wirklichkeit zu gründen. Zu Beginn des Films erfahren die Zuschauer, dass seine Frau Béatrice aufgrund gesundheitlicher Probleme von ihrem Ministerposten zurückgetreten ist. Bei diesen Problemen handelt es sich um eine veritable Depression, ausgelöst von Boris Wankelmut. Denn er pflegt zahlreiche Affären, um sich von der negativen Ausstrahlung seiner Frau abzulenken.
Eines Tages erhält er einen mysteriösen Anruf von einer Art Mephisto (Denis Lavant), der ihm mitteilt, er selbst sei in seiner unumstößlichen Selbstliebe der Auslöser von Béatrice Leiden. Dieser Erschütterung folgt zunächst Trotz und eine neue Liebelei mit der attraktiven jungen Pflegerin seiner Frau, doch schließlich kommt es dann doch zur Konfrontation mit den eigenen Traumata. Da ist die Mutter, die ihm ihre Liebe nicht zeigen konnte – »Eine Mutter hat ihr Kind zu lieben!« – und die Tochter, der er selbst nie seine Liebe gezeigt hat. Und schließlich seine Frau, für die er nun das erste Mal auf Vergnügen verzichten müsste. Coté, der 2013 mit Vic + Flo ont vu un ours einen Silbernen Bären gewonnen hat, erzählt das konventionell und vorhersehbar, ohne große Überraschungen. Allerdings bestätigt er das, was schon der tunesische Regisseur Mohamed Ben Attia in der Pressekonferenz sagt, nämlich dass es uns Kraft kostet, »Ich liebe Dich« zu sagen.
Mit diesem Satz haben Roy (Michael Shannon) und Sarah (Kirsten Dunst) sicherlich kaum Schwierigkeiten, sie stehen ohne die geringsten Abstriche hinter ihrem Sohn Alton (Jaeden Lieberher). Dieser sitzt in der Anfangssequenz des Films mit einer Taschenlampe unter einem Laken und liest seelenruhig in Superman-Comics, während in den Nachrichten seine Entführung bekanntgegeben wird. Das Gefühl, das hier etwas nicht stimmt, beschleicht den Zuschauer sofort. Es wird ihn auch lange nicht mehr loslassen.
Wenig später sieht man Alton auf der Rückbank eines alten Chevrolets sitzen, sein Gesicht von einer blauen Schwimmbrille verdeckt, auf dem Kopf fette orangene Kopfhörer, die ihn von jedem Geräusch abschirmen. Am Steuer sitzt Lucas (Joel Edgerton), ein alter Freund von Roy, der seinen Sohn aus den Fängen einer religiösen Sekte befreit hat. Nun eröffnen sich mehrere erzählerische Fäden. Der Staatsschutz nimmt die Sekte hoch, weil er vermutet, dass der Guru der religiösen Fanatiker mit seinen Predigten streng geheime Informationen in verschlüsselter Form weitergibt. Dennoch gelingt es den Sektierern, zwei ihrer Mitglieder auf Roy, Lucas und Alton anzusetzen, um den Jungen als Heilsbringer und Erlöser wieder in ihren »Besitz« zu bringen. Sie müssen dafür der Polizei zuvorkommen, die landesweit nach dem »gekidnapten« Jungen sucht. Eine doppelte Verfolgungsjagd entspinnt sich, die an Steven Spielbergs Klassiker Sugarland Express erinnert. Filmische Referenzen gibt es zahlreiche, Cineasten werden in Jeff Nichols viertem Langfilm auch kaum verborgene Anlehnungen an Stanley Kubricks Shining oder Lars von Triers Melancholia finden.
Gebunden sind diese Filmzitate an die Erzählung um den geheimnisvollen Jungen mit seinen außerordentlichen Fähigkeiten. Er kann Dinge wahrnehmen, die andere nicht wahrnehmen – Sprachen, Wellen, Schwingungen, Strahlen – und verfügt über ein im wahrsten Sinne des Wortes strahlendes Augenlicht. Jaeden Lieberher ist das überzeugende Zentrum dieses Films, im Grunde selbst ein Superman, um den sich alles dreht. Wäre der 13-Jährige an dieser Mammutaufgabe gescheitert, keiner hätte es ihm zum Vorwurf gemacht. Es ist aber anders gekommen und der Junge fasziniert wie zuletzt Ellar Coltrane in Boyhood. Ihn umgibt eine Aura des Mysteriösen, des Ungewissen, auch weil man nicht ahnt, woher dies kommt und wohin das führt. Der einzige Wissende in diesem Film ist Alton – seine flirrende Aura hält die Handlung zusammen. Die Ungewissheit um seine Besonderheit produziert die große Spannung, die am Ende leider unter die Räder von Nichols utopischem Kitsch gerät.
Insgesamt ertrinkt der Film in der ergebenen Liebe von Roy und Sarah ihrem Sohn gegenüber, die die spannenden Fäden des fanatischen Aberglaubens der Sekte und einer NSA-Verschwörung – die dank eines formidablen Adam Driver als Sonder-Nerd-Ermittler Paul Sevier durchaus noch einmal hätte Fahrt aufnehmen können – an den Rand der Handlung katapultiert.
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