Manchmal reißt das Leben noch einmal Tore auf, die längst verschlossen schienen. So ist es auch bei den vier Figuren in Kerstin Hensels herzerwärmender Erzählung »Regenbeins Farben«.
Drei Frauen stehen auf einem Friedhof, über ihren Köpfen donnern Flugzeuge in ferne Sehnsuchtswelten. Sie selbst träumen sich nicht weit weg, sondern in die Arme des Witwers, der nicht fern von ihnen am Grab seiner Frau steht. Mit einer Friedhofsszene beginnt auch die Novelle »Regenbeins Farbe« von Kerstin Hensel und kurz fragt man sich, wie ein Text, der auf einem Friedhof beginnt, noch an Leben gewinnen soll. Doch diese Sorge ist schnell vergangen, denn die Charaktere, um die es in dieser Geschichte geht, sind überaus lebendig.
Dabei handelt es sich um die ehemalige Kunstprofessorin Ziva Schlott, die Industriellengattin Lore Müller-Kilian, die Fotografengattin und Malerin Karline Regenbein sowie den Kunstliebhaber und Galeristen Eduard Wettengel. Er ist es auch, der die Aufmerksamkeit der drei Frauen auf sich zieht, und zwar von Anfang an. Sein Name ist dabei Programm, denn wenngleich er von einer der Witwen als »Wettengelchen« verballhornt wird, ist der Galerist die Mensch gewordene Wette, auf die die drei Witwen ihre Hoffnung setzen. Denn die weckt Sehnsüchte und die Hoffnung auf eine zweite Chance, ein alternatives Leben und neue Liebe. Zumindest bei den Frauen, was dem Galeristen durchaus schmeichelt.
Die Lyrikerin Kerstin Hensel fängt in ihrer sprachlich funkelnden Novelle »Regenbeins Farbe« diese magische Zeit des Werbens und Neuanfangens ein, nicht ohne die Vorgeschichte zu erzählen. Und die Vorgeschichte beginnt mit den Männern und der Frau, die sie regelmäßig auf dem Friedhof besuchen. Diese Geschichten erzählt Kerstin Hensel in kleinen Rückblenden, jeweils konzentriert auf eine ihrer vier Figuren. Dabei erfährt man auch, dass Ziva Schlott das »Wettengelchen« einst an der Uni unterrichtet und gefördert hat, warum Lore Müller-Kilian eine wichtige Kundin des Galeristen ist und dass dieser auch schon Karlines verstorbenen Mann, den erfolgreichen Fotografen Rüdiger Habich, vertreten hat. Wettengels Vita bleibt lange Zeit ein Rätsel und wird erst spät aufgedeckt, damit die Lesenden nicht klüger sind als Hensels Witwen.
Der Text konzentriert sich vor allem auf Karlines Ehe, wenn es darum geht, die Vorleben der Figuren zu beleuchten. Denn ihr dahingeschiedener Mann war ein Künstler, den man als neurotisch bezeichnen würde: selbstverliebt, selbstzerstörerisch, rücksichtslos. Dass man als Malerin mit Neigung zur Bescheidenheit neben einem solchen Mann nicht zum Strahlen kommt, ist wenig verwunderlich. Doch nun, da Rüdiger Habich das Zeitliche gesegnet hat, eröffnet sich Karline eine neue Chance. Angetrieben von ihren Kunstfreunden wird eine Werkausstellung in Wettengels Galerie geplant, für die sie auch noch ein Gemälde anfertigt, dass das Verhältnis der vier Charaktere untereinander selbst noch einmal in ein neues Licht rückt.
Die in Karl-Marx-Stadt geborene Kerstin Hensel zeichnet ihre Figuren mit viel Liebe, Großmut und Witz. Etwa wenn sie Lore Müller-Kilians Alltag als Industriellengattin mit den Worten beschreibt »Lores Tag ist lang, voller Lücken, in denen Sehsüchte nisten« oder die energische Kunstprofessorin Ziva Schlott auf die Frage, ob sie gestürzt sei, antwortet: »Ja, in den Jungbrunnen! Das Dumme ist nur, es war kein Wasser drin.« Mit solch lakonischen Sätzen bekommt man schnell ein Gefühl für das innere Gerüst von Hensels Figuren.
Diese Hingabe für die jeweiligen Charakterzüge balanciert die radikale Offenheit aus, mit der die vier miteinander ins Gericht gehen. Dazu hat Hensel das sprachliche Repertoire, um diese lebenssatte Geschichte mit wenigen Pinselstrichen zu zeichnen. Leider hatte sie aber wohl keine abschließende Idee, wie das Gesamtkunstwerk aussehen sollte, was dazu führt, dass die Geschichte zum Ende hin erzählerisch abfällt.
Und auch, wenn hier drei Frauen um einen Mann buhlen, ist diese Erzählung eine der Emanzipation – sowohl im humanistischen als auch im feministischen Sinne. Denn wenn Karline einmal mehr Talent attestiert wird, horcht sie in sich hinein und entdeckt neben dem Gefühl des Geschmeichelt-Seins auch die Empörung über die Chuzpe ob dieser Formulierung. Denn »Talent wird jedem Kind bescheinigt, sobald es Kringel malen kann, oder einer Hausfrau, die sich das öde Leben bunt aquarelliert. Frauen, die Großes leisten, besäßen Talent, Begabung oder eine besondere Fähigkeit. Männern hingegen spräche man Genie zu.«
Nur konsequent, dass Hensel die beste Leseempfehlung für diese kleine, aber herzerwärmende und in bunten Farben gezeichnete Erzählung der Kunstprofessorin Schlott in den Mund gelegt hat. Diese eröffnet die Vernissage zu Karlines Werkschau mit den Worten: »Kunst lehrt uns, die Wirklichkeit zu verstehen, indem wir sie verlassen. Begeben Sie sich in diese Nebenwelt mit ihren extremen Gestalten, verstiegenen Ideen, zartesten Empfindungen, brutalster Zurückweisung, vollendeter Schönheit und Hässlichkeit. Zumutungen sind es, denen wir uns aussetzen müssen, um uns zu verändern.«
Und auch wenn dieser Roman alles andere als eine Zumutung ist, passt diese Empfehlung wie die Faust aufs Auge. Zumal der herrlich verschrobene und schonungslos ehrliche Umgang, den Hensels Quartett miteinander pflegt, zuweilen doch an eine Zumutung grenzt. Eine, an der man als Leser:in mit den Figuren wächst.