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»Die Parallelen zur aktuellen Zeit sind erschreckend«

Simone Fischer ist eine der wenigen Übersetzerinnen, die mit Orwells Werk betraut wurden. Im Gespräch spricht sie über ihre Arbeit an den beiden zentralen Romanen des britischen Autors, aktuelle Bezüge und darüber, wie man als Übersetzerin mit der Frauenfeindlichkeit des Autors umgeht.

Warum lohnt sich die Lektüre von George Orwells Romanen heute noch?
Orwells Werk, das gilt übrigens nicht nur für »1984«, sondern auch für »Animal Farm«, hat – leider – nichts von seiner Brisanz und Aktualität verloren. Der Albtraum eines totalitären Überwachungsstaates aus »1984« wird gerade heute mehr denn je Realität. Man denke nur an einen Staat wie China, in dem digitale Überwachungstechniken tatsächlich von staatlicher Seite aus durchgeführt werden und mittels eines Social Scoring Systems das Verhalten der Menschen nicht nur analysiert, sondern auch belohnt oder betraft wird – eine Art Erziehungsinstrument, um die Bevölkerung unter Kontrolle zu halten. Doch so weit weg müssen wir gar nicht blicken, wenn wir einmal kritisch betrachten, wie viele Menschen der westlichen Welt sich freiwillig einer Überwachung aussetzen. Sprachassistenten findet man heute schließlich bereits in sehr vielen Bereichen und Haushalten, und manch einer mag sich gar nicht bewusst sein, dass diese Geräte permanent im Lauschmodus sind. Mit diesen Geräten und auch mit ihren weiteren Daten gehen nicht wenige Menschen völlig ungezwungen und naiv um und teilen erschreckend viele Inhalte auch in den sozialen Medien. Gerade eine junge Generation, die mit dieser Technik wie selbstverständlich aufwächst, tut sicher gut daran, sich auch einmal kritisch damit auseinanderzusetzen.

Sehen Sie auch andere Parallelen zur Gegenwart?
Abgesehen vom in »1984« allgegenwärtigen Thema der Überwachung finden sich natürlich noch zahlreiche weitere Parallelen zur aktuellen Zeit, die teilweise mehr als erschreckend sind. Als Beispiel sei die Kinoszene genannt: »Gestern Abend im Kino. Lauter Kriegsfilme. Ein sehr guter, über ein Schiff voller Flüchtlinge, das irgendwo im Mittelmeer bombardiert wird. […]« Da drängen sich einem unweigerlich Gedanken zur aktuellen Flüchtlingskrise und dem Umgang mit unseren Mitmenschen auf, wo sich in eben jenem Mittelmeer, das auch Orwell erwähnt, unglaublich schreckliche Dramen abspielen und sogar Seenotretter kriminalisiert werden.
Ein weiteres Beispiel ist unser sogenanntes »postfaktisches Zeitalter« – auch und vor allem in der Politik. Gezielte Fehlinformationen, bewusster Einsatz von Lügen – das, was wir heute erleben, hat bei Orwell System: »Das Erschreckende, dachte er […] war, dass dies alles wahr sein könnte. Wenn die Partei die Vergangenheit manipulieren und von diesem oder jenem Ereignis behaupten konnte, ES HÄTTE NIE STATTGEFUNDEN – dann war das doch sicherlich angsterregender als Folter und Tod? […] Und wenn alle anderen die von der Partei verbreitete Lüge akzeptierten – wenn alle Aufzeichnungen gleich lauteten –, dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde zur Wahrheit. »Wer die Vergangenheit kontrolliert«, lautete die Parteiparole, »kontrolliert die Zukunft. Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit.«

George Orwell: 1984. Aus dem Englischen von Simone Fischer. Nikol Verlag 2021. 392 Seiten. 7,95 Euro. Hier bestellen

Kann Orwells Text auch in seiner sprachlichen Gestalt mit der Gegenwart mithalten?
Auch in sprachlicher Hinsicht finden sich Parallelen aus Orwells Werk zur heutigen Zeit. Um hier nur ein Beispiel zu nennen – von denen es zahlreiche gibt –, seien die Euphemismen erwähnt. »Kein Wort im B-Vokabular war ideologisch neutral. Sehr viele waren Euphemismen. Begriffe wie Freudlager (Zwangsarbeitslager) oder Minfried (Ministerium für Frieden, d. h. Kriegsministerium), bedeuteten zum Beispiel fast das genaue Gegenteil von dem, was sie zu bedeuten schienen.« Was hier in Neusprech ganz bewusst durchgeführt wird, erleben wir auch in unserer Sprache, in der Dinge durch den Einsatz von Euphemismen verdeckt oder beschönigt werden. Ein »Kollateralschaden« klingt doch eigentlich gar nicht so schlimm, wohingegen der Rettungsschirm recht nett anmutet. Oder?

Worauf haben Sie bei der Übersetzung besonders geachtet?
Dos und Don’ts haben wir (also der Verlag und ich als Übersetzerin) ganz bewusst im Vorfeld nicht besprochen, sondern lediglich einige Begrifflichkeiten vorab geklärt, die wir beibehalten wollten. Dazu gehört der Begriff »Neusprech« für »Newspeak«, da dieser zum einen bereits absolut gängig und zum anderen sehr gut gewählt ist, da der deutsche Begriff den Prinzipien des »Newspeak« – wie gute Sprechbarkeit, kurze Worte mit zwei oder drei Silben – entspricht.
Ansonsten haben wir uns ganz bewusst nicht an den bisherigen Übersetzungen orientiert, sondern ganz frei und unabhängig davon gearbeitet – was meiner Meinung nach auch gar nicht anders geht, denn wenn man immer mal wieder mit einem Auge auf die Arbeit der Kollegen schielen würde, wäre man viel zu beeinflusst in seiner eigenen Arbeit.

Wie unterscheidet sich Ihre Übersetzung von den älteren Übertragungen?
Es gibt natürlich diverse Unterschiede. So habe ich beispielsweise das Proletariat, das in der ersten Übersetzung mit »Proles« benannt wurde, als »Prolls« bezeichnet – sicher unter dem Einfluss des heutigen Sprachgebrauchs dieses Wortes. Des Weiteren habe ich ganz bewusst die Neusprech-Begriffe kurz und bündig gehalten, um der Orwellschen Vorlage gerecht zu werden – »Minwahr«, »Minlieb« etc. als Kurzform für die Ministerien, »Denkbrech« für Gedankenverbrechen, »Denkpol« für die Gedankenpolizei – um nur einige zu nennen. Damit wollte ich gezielt das von Orwell im Anhang erläuterte Neusprech möglichst passend ins Deutsche übertragen und bei den erwähnten Begriffen den zwei- bis dreisilbigen, stakkatoartigen und monotonen Sprachstil übernehmen.
Zudem war es mir wichtig, die verschiedenen Sprachebenen in die deutsche Sprache zu übertragen und diese auch ganz gezielt voneinander abzugrenzen – somit also nicht nur Neusprech als die Sprache der Partei, sondern auch die Sprache des Proletariats möglichst gut wiederzugeben und diese nicht zu sehr ins Hochdeutsche zu ziehen. Hier gibt es dann, wie ich festgestellt habe, erhebliche Unterschiede zur ursprünglichen Übersetzung.
Ein Beispiel aus der Proletenkneipe zum Vergleich:

Michael WalterSimone Fischer
»Ich möchte eine Pinte«, sagte der alte Mann beharrlich. »Sie könnten mir genauso gut eine Pinte einschenken. Wir kannten diese blöden Liter nicht, als ich ein junger Mann war.« in der Übersetzung von 1950.»Ich will aber en Pint«, beharrte der alte Mann. »Hättst mir ruhich en Pint zapfen können, hättste. Als ich en junger Bursche war, hat et den Kappes mit den halben Litern jedenfalls nich gegeben.«
George Orwell: Farm der Tiere. Aus dem Englischen von Simone Fischer. Nikol Verlag 2021. 120 Seiten. 5,95 Euro. Hier bestellen

Welche Passage hat Sie beim Übersetzen mit Blick auf die Gegenwart besonders bewegt?
Es gibt sehr viele Szenen, die einem nahe gehen, vor allem, wenn man sich so intensiv mit ihnen beschäftigt, wie man es beim Übersetzen tut. Ganz unabhängig von der Gegenwart waren das bei mir – wie sicher bei vielen Lesern auch – die Begebenheiten, wo es darum geht, was Menschen anderen Menschen antun. Nicht nur bei den ganz offensichtlichen Szenen, beispielsweise der Folterszene mit dem Rattenkäfig, wo die panische Angst, das Entsetzen so greifbar sind, dass man sie geradezu selbst spüren kann, oder bei der Spiegelszene, in der Winston das »graufarbene, skelettartige Ding«, das er in der Gefangenschaft geworden ist, erblickt. Auch das Denunziantentum im Roman, wo sogar schon Kinder andere Menschen und selbst ihre Eltern verraten, ist erschreckend – und wie ich finde leider auch erschreckend aktuell. Und auch die allgegenwärtige Angst im Alltag, die ständigen Überlegungen darüber, wie man sich verhalten muss, was man sagen darf, dass man noch nicht einmal in den eigenen vier Wänden unbeobachtet ist, die Gruppenzwänge, das selbstverständliche Hinnehmen von Begebenheiten und auch »neuen Wahrheiten« – ohne diese zu hinterfragen – oder auch das Mitläufertum finde ich nach wie vor sehr aufrüttelnd – und auch hier leider wieder mit einigen Parallelen zur Gegenwart.

Sie sind neben Heike Holtsch die einzige Frau sind, die in diesem Jahr eine Orwell-Übersetzung vorlegt. Warum gibt es diesen Gender-Gap im Verhältnis männlicher und weiblicher Übersetzer:innen.
Es ist im Übersetzungsbereich gar nicht so unüblich, dass Werke, die von einem Mann geschrieben wurden, auch durch Männer übersetzt werden und weibliche Autorinnen auch weibliche Übersetzerinnen bekommen. Oftmals ist dies damit begründet, dass einem sowohl die Sprache als auch die Gefühlswelt unseres eigenen Geschlechts schlicht und einfach näher und geläufiger ist – was auch durchaus nicht von der Hand zu weisen ist. Vielleicht haben daher die meisten Verlage sehr bewusst männliche Übersetzer ausgewählt. Meine ganz persönliche Meinung ist aber, dass man sich bei einer Übersetzung frei machen sollte von jeglichem geschlechtsspezifischen Sprachgebrauch und auch vom persönlichen Sprachstil (obwohl dieser sicher immer bis zu einem gewissen Grad einfließt) und stattdessen die Sprache des Originalwerks möglichst gut in die Zielsprache übertragen sollte – unabhängig davon, wer es verfasst hat. Man muss sich jeweils auf das Werk und seine Sprache einlassen, was für Übersetzer völlig normal ist, da wir häufig in sehr vielen unterschiedlichen Genres unterwegs sind und uns daher permanent mit neuen Welten, Themen und eben auch Sprachstilen auseinandersetzen müssen. Deswegen bin ich überzeugt davon, dass Männer genauso gut Frauenliteratur und Frauen Werke männlicher Autoren übersetzen können, da es schließlich unsere Aufgabe ist, uns auf die Sprache des jeweiligen Autors einzulassen.

Finden Sie Orwells Literatur sehr männlich?
Was Orwells Sprache und Frauenbild, ja sogar Frauenfeindlichkeit angeht, so ist dies ja bereits ausführlich in der Wissenschaft diskutiert worden. Und auch hier geht man als Übersetzer wieder anders mit einem Text um als ein Leser oder auch ein Literaturwissenschaftler, der das Werk analysiert. Wir werten nicht, wir sitzen nicht über dem Text und machen uns Gedanken darüber, ob hier zum Beispiel ein Mann schreibt, der ein völlig anderes Frauenbild als man selbst hat. Stattdessen nehmen wir uns selbst zurück und übertragen den Text, so wie er vom Autor verfasst wurde, in die Zielsprache, damit er für den heutigen Leser in einer aktuellen Sprache verfügbar ist, die dennoch genau das transportiert, was der Autor ausgedrückt hat – und nicht das, was wir als Übersetzer denken oder empfinden. Denn würden wir eine Wertung in den Text bringen, würden wir ihn verfälschen, und das ist niemals Ziel einer Übersetzung.

1 Kommentare

  1. […] Anaconda und Nikol kann man nicht allzu viel verlangen, wenngleich hier einzuräumen ist, dass Simone Fischer viel richtig macht und so manche der anderen Übersetzungen in den Schatten stellt. Von Reclam muss man trotz […]

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