Film

Die Freiheit der Kunst

Der Chinese Liu Jian rückte kurz vor dem Start der Berlinale noch mit seinem Animationsfilm »Art College 1994« in den Wettbewerb des Festivals. Er erzählt darin anhand einer Handvoll Figuren von den Debatten um Kunst, Politik und Gesellschaft am Campus der Chinese Southern Academy of Arts.

Während die Hochschule noch ganz im Zeichen der traditionellen, und damit linientreuen Kunst politische Vorlesungen hält, diskutieren die Studierenden längst über andere Ansätze. Die Klassik hat ausgedient, die Moderne mit ihren vielversprechenden Ansätzen scheint vielen deutlich attraktiver.

Die beiden Freunde Xiaojun und Dai haben für ihren Malkurs ein überdimensionales Gemälde angefertigt, stoßen damit aber auf Widerstand. Es entspricht nicht der vertrauten Propagandakunst, sondern ist ein satirisches Tableau der Gesellschaft. Jene, die 2017 Liu Jians letzten Film auf der Berlinale »Have A Nice Day« gesehen haben, dürften das Gemälde aus den Kulissen seiner Gesellschaftssatire wiedererkennen. Dass dieses Gemälde im Laufe des Films zerstört und Auszüge daraus entsorgt an der Wand lehnen, ist womöglich als Anspielung auf den Umgang mit Künstler:innen und ihren Arbeiten in China zu verstehen.

Xiaojun und Dai stehen im Mittelpunkt des Films. Der pummelige Dai kann mit moderner Kunst nicht wirklich etwas anfangen, aber wenn damit Geld zu machen ist, nimmt er sie gern mit. Der langhaarige Xiao liest westliche Bücher und hört Nirvana, zweifelt an der akademischen Ausbildung und träumt von einer Kunst, die mit den gesellschaftlichen Veränderungen mithalten kann. Er ist nicht der einzige, der den Traum der neuen Freiheit träumt. Der aufmüpfige Youcai verschwindet von der Uni und macht sich mit politischer Konzeptkunst einen Namen, die zielstrebige Hong schmeißt ihre musikalische Ausbildung, um Sängerin in einer Bar zu werden. Wieder andere wie die schüchterne Lili oder der linientreue Yingjun stehen den neuen Entwicklungen skeptisch gegenüber und bleiben bei den althergebrachten Ansätzen.

»Art College 1994« ist ein bewegtes Zeitbild und Sittengemälde, das autobiografisch geprägt ist. Yian schloss 1993 sein Studium der chinesischen Malerei am Nanjing Art Institute ab. Auf der Seite china-underground.com heißt es, dass die Idee zum Film 2016 entstanden sei, als er seine Alma Mater besucht habe. Der Film sei aber »kein nostalgischer Rückblick, sondern vielmehr eine Feier der Schönheit des Lebens und der Kunst in jedem jungen Menschen und in jeder alten Seele. Ich möchte, dass es ein lautes, aufrichtiges Lied ist, das zu jedem jungen Geist spricht und seinem Mut und seiner Vitalität Beifall zollt.«

Art College 1994 von Liu Jian | © Nezha Bros. Pictures Company Limited, Beijing Modern Sky Culture Development Co., Ltd

Wie schon in »Have A Nice Day« bewegen sich die Figuren nicht flüssig, sondern leicht verzögert – ein Effekt der eingesetzten 3D-Technik. Die Zeichnungen sind mit Liebe für die Details (insbesondere der Natur) ausgeführt, den Wandel der Zeit bildet der Film vor allem subtil im Hintergrund ab. Xiaos Vorliebe für Nirvana symbolisiert den Einzug der westlichen Musik, Romane wie »Lady Chatterly« und »Madame Bovary« für die Öffnung des Landes gegenüber der europäischen Klassik. An den Wänden der Studierendenzimmer hängen weitere Anspielungen an die westliche Moderne: Plakate von Marilyn Monroe, der Ausschnitt eines Magritte-Bildes und das berühmte Foto von Einstein mit der Aufschrift »Imagination is more important than knowledge«.

Das Problem dieses Films besteht in seiner Naivität. Die gesellschaftlichen Veränderungen, die die neue Kunst doch aufgriefen soll, werden gar nicht abgebildet. So bleibt es rätselhaft, vor welchem Hintergrund hier die großen Fragen der Kunst diskutiert. Muss die Kunst etwas leisten und wenn ja, was genau? Soll sie die Gesellschaft verbessern oder darf sie sie auch herausfordern? Und was ist die Kunst überhaupt verglichen mit der Freiheit? Diese großen Fragen werden hier in die Luft geworfen. Sie schlagen, wie der Käfer am Anfang des Films, mit dem Rücken auf den Boden auf und bleiben dort hilflos liegen.