Der Berliner Schriftsteller und Bühnenautor Jakob Nolte hat mit »Schreckliche Gewalten« einen aufwühlenden und surrealen Roman über ein Geschwisterpaar in den siebziger Jahren geschrieben. Wir sprachen mit ihm über literarische Hegemonialketten, den Einfluss von Fernsehserien auf das Schreiben sowie das verführerische Angebot der Literatur.
Jakob, Du tanzt auf mehreren Hochzeiten, bist mal als Dramatiker und mal als Schriftsteller aktiv. Bevorzugst Du eine der beiden Rollen?
Prosa und Dramatik vertragen sich sehr gut zusammen und im besten Fall profitiert das Schreiben beider Gattungen voneinander. Wenn ich Prosa schreibe, kann ich dem, was ich sprachlich aufregend finde, freien Lauf lassen. In der Erzählung erlaube ich mir zu machen, was ich will. Es ist für mich die freiste Form des Schreibens. Davon profitiert umgekehrt die Dramatik, in der mein Interesse den Figuren und der Strenge des Dialogs gilt. Das heißt, ich muss mich auf die Situation und die Spannung zwischen den Personen auf der Bühne konzentrieren. Gerät man bei der Figurensprache ins Fabulieren, finde ich das mitunter unangenehm. Außerdem muss es ja dann auch noch jemand sagen. Also auf einer Bühne, und auswendig lernen. Einen Text zu hören und ihn zu lesen sind für mich zwei grundlegend verschiedene Dinge.
Und wenn Du Dich entscheiden müsstest zwischen Literatur und Theater?
Es gibt in meinen Augen keine Trennung zwischen Literatur und Theater. Bertold Brecht oder Heiner Müller werden doch auch als Literaten behandelt, obwohl sie vornehmlich Theaterstücke geschrieben haben. Es ist komisch, aber seit Peter Handke und Botho Strauss wird die Dramatik als literarische Form kaum mehr verfolgt. Selbst renommierte Dramatiker und Dramatikerinnen wie Wolfram Lotz, Katja Brunner, Sasha Marianna Salzmann, Lutz Hübner, Dea Loher oder Roland Schimmelpfennig werden über die Grenzen der Bühnen praktisch nicht rezipiert. Es sei denn, sie verfassen einen Roman. In der literarischen Hegemonialkette kommt nach der Prosa lange nichts und dann irgendwann die Lyrik, der Poetryslam und die Dramatik.
Sprechen wir über die Literatur. Dein neuer Roman »Schreckliche Gewalten« ist durchzogen von Definitionen und wissenschaftlichen Blicken. Wie wichtig war Dir dieses Durchdringen der Dinge?
Absolut wichtig. Das Buch handelt von Informationen. Was sie einem bringen und ob es so etwas gibt, wie daraus zu lernen. Ich wollte, dass der Text die Recherche am Text mit beinhaltet. Nichts ist schlimmer, als ein Buch zu lesen, von dem man die Hälfte nachschauen muss. Das ist natürlich ein Service für die Lesenden, bloß leider recht manipulativ. Man liest sprunghaft wie bei einer Internetsuche, von Tab zu Tab zu Tab. Man ist ja immer auf der Suche. Man sucht in allen Begriffen und allen Ideen nach dem Wert – dem Wert für sich, für die Welt und für die Gesellschaft.
Was bringt diese permanente Suche?
Die Hoffnung, dass sich die Lösung aller Probleme auf sprachlicher Ebene befindet, ist groß. Daran arbeiten wir ununterbrochen. Diese Hoffnung versuche ich zu reflektieren. Dagegen stehen die Stellen der Tierwerdung, in denen sich das Rauschhafte und das vom Geist Getrennte verbirgt.
Zuweilen ist das schrecklich desillusionierend, etwa wenn Du schreibst, dass die Menschen aus Kohlenstoffketten bestehen und die Liebe nicht mehr ist als ein chemischer Kurzschluss ist.
Zugleich gibt es aber auch einen langen Monolog über die Liebe und ihre heilende Kraft. Diese Widersprüche versuche ich zu bewahren. Dennoch finde ich den Blick von außen interessant. Der legt uns manchmal komische Gedanken nahe. Etwa den, das wir auch Tiere sind, also organische Lebewesen, die sich fortpflanzen, die ihre Spezies erhalten und sterben. Beim Blick auf die Zivilisationsgeschichte könnte man meinen, dass es nicht gerade selbstverständlich ist, wie wir leben – mit Häusern, öffentlichem Nahverkehr und Kunst. Es hätte auch ganz anders kommen können. Wenn andere Gewalten geherrscht hätten. Die Kulturgeschichte der Menschheit ist natürlich viel komplexer, aber ich finde es reizvoll, sich diese Schemata anzuschauen.
Zu Beginn des Romans heißt es, dass noch kein Mensch seinem Schicksal entfloh, menschlich zu sein. Was heißt es für Dich, menschlich zu sein?
Der Mensch ist immer in dem Kontext dieser Kulturgeschichte, die wir mitschleppen. Dem können wir uns nicht entziehen. Dieser Kontext kann besser oder schlechter sein, sehr schön oder tödlich. Etwa wenn man als Person of Color in New York einem weißen Rassisten begegnet, der einen dann mit einem Schwert ersticht, wie es gerade in dem Fall um Timothy Caughman passierte. Sein Körper hat im Kontext der gesellschaftlichen Umstände eine Gefahr für ihn bedeutet, was schrecklich ist, unfassbar sogar. Es ist eine Handlung der Zerstörung, die am Ende einer langen Kette von Zerstörungen steht. Dieses ständige Im-Kontext-Sein – der Geschichte, der Identität, der Zivilisation –, dem sind wir ununterbrochen ausgesetzt. Das heißt letztendlich für mich, menschlich zu sein.
Du bist 1988 geboren, »Schreckliche Gewalten« spielt im Wesentlichen zwischen 1968 und 1980, wenngleich zahlreiche Bezüge zu den schrecklichen Gewalten des 20. Jahrhunderts in Armenien, in Deutschland und in Japan hergestellt werden. Woher kommt Deine Faszination für die siebziger Jahre?
Neben den dramaturgischen Gründen für die Geschichte sind die siebziger Jahre für mich eine Metapher für das, was aus den 68ern geworden ist. Die Frage nach Utopie und Dystopie ist für mich am klarsten in dieser Zeit formuliert. Die Sowjetunion war noch nicht an ihrem Ende, Afghanistan hatte diese fünfjährige Phase als Republik und in Europa waren linke Terrorgruppen aktiv. Das ist doch eine interessante Konstellation. »Schreckliche Gewalten« ist aber auch ein Buch über den Terrorismus, eine Erkundung der Frage, was Terrorismus eigentlich ist. Dafür sind die siebziger das zentrale Jahrzehnt. Dazu kommt, dass für mich diese Zeit sehr prägend war, ihre Literatur, ihre Filme und ihre Musik. Wenn man sich nicht in einem Zeitstrahl befinden, sondern sich aussuchen könnte, wann man in welchem Alter leben würde, dann wäre ich gern in den neunziger Jahren Teenager gewesen und in den Siebzigern zwanzig bis dreißig. Wo dreißig bis vierzig sein wird, weiß ich noch nicht so genau.
Sowohl in Deinem Debüt »Alff« als auch jetzt in „Schreckliche Gewalten“ finden sich Motive von Horror und Grusel, von Märchen und Fabeln. Was fasziniert Dich an diesen Erzählweisen?
Mich reizen einfach konstruierte Geschichten, deshalb mag ich wohl auch Märchen und Fabeln. Eigentlich ist fast alles Einfache gut.
Das brichst Du in Deinem neuen Roman aber auf. Da gibt es einen Einschub, der ohne Vorwarnung einsetzt. Fast 50 Seiten später endet er genauso plötzlich, wie er begonnen hat, und der unterbrochene Satz läuft weiter. Unter einfach konstruiert verstehe ich etwas anderes.
Aber es ist doch klar lesbar, es ist realistisch. Dinge geschehen halt so. Das Buch funktioniert als Kommentar auf das Narrativ in dem wir leben. Es ist heute nicht ungewöhnlich, dass man anfängt, die Folge einer Serie zu schauen, mittendrin aufhört, einen netten Abend verbringt, jemanden kennenlernt, noch einen netten Abend verbringt und schließlich nach zwei Tagen nach Hause kommt, den offenen Tab am eigenen Rechner entdeckt und die Folge der vor Tagen begonnenen Serie zu Ende schaut. Mir ist das zumindest schon passiert. Und ich finde es spannend, das ernst zu nehmen, und diese Wirklichkeit in meine Art, Geschichten zu erzählen, einzubinden. Dieses Öffnen von Klammern und immer weiteren. Für noch eine Perspektive und noch eine und noch eine. Wovon sich jede darauf auswirkt, wie wir die Welt wahrnehmen. Ein anderes Beispiel ist Werbung. Ich habe gelernt, dass Geschichten nicht kohärent erzählt werden, sondern unterbrochen von kurzen anderen Geschichten, die affirmativ von Produkten berichten. Das Erzählen, was ich als Kind kennengelernt habe, war komplett korrumpiert. Ich versuche das zu reflektieren und für meine Literatur zu nutzen.
In der Zeit wurde dieses Erzählen in Klammern als anstrengend kritisiert. Muss Literatur, die die Komplexität der Welt einfängt, auch anstrengend sein?
Nein, Literatur muss nicht anstrengend sein. Ich finde es auch nicht anstrengend. Die kohärent durcherzählten Geschichten funktionieren für mich im Schreiben eben nicht mehr, weil ich eine Lebendigkeit suche, die sich für mich in den anderen Erzähltechniken nicht einstellt. Beim Lesen schon, aber nicht beim Schreiben. Ein Text sollte ein Verhältnis zur Wirklichkeit haben. Das kann anstrengend sein, muss es aber nicht. Was es muss, ist, im Verhältnis zu dem zu stehen, was sonst ist. Ich bin aber auch nicht der komplette Schmökertyp. Für mich ist Literatur nicht dazu da, den ganzen Nachmittag zu schmökern.
Wofür ist Literatur dann da?
Literatur erlaubt es, andere Gedanken zu haben. Je länger man einen Text verfolgt, desto weniger denkt man selbst. Indem man im Kopf ausspricht, was Figuren und Charaktere denken, hat man tatsächlich andere Gedanken. Gedanken, die man selbst nie hätte haben können. Das kann unglaublich von der Last der eigenen Gedanken befreien. Und es ist wichtig, weil es Empathie ermöglicht und man etwas dabei lernen kann. Wenn ich morgens aufstehe, dann lese ich erst einmal eine Stunde, um nicht mit meinem eigenen Grant durch die Gegend zu laufen. Lesen heißt für mich nicht, eine andere Person zu sein, aber doch zumindest die Perspektive einer anderen Person nachzuempfinden. Das ist eine Transferleistung, die die Grundlage für Miteinandersein darstellt. Dafür ist Literatur da. Sie macht ein Angebot: Hast Du Lust über Folgendes nachzudenken? Nicht Folgendes anzuschauen oder anzuhören, sondern darüber nachzudenken. Dieses Angebot ist doch herrlich.
[…] Randt, der gemeinsam mit dem Berliner Schriftsteller Jakob Nolte (hier im Interview über seinen Roman »Schreckliche Gewalten«) die aufregende Publikationsplattform »Tegel Media« betreibt, schreibt sich mit diesem Buch, liest […]
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