Die Leistungsgesellschaft wirft dein Einzelnen auf sich selbst zurück und zwingt ihn, sich ständig selbst auszubeuten. Dieser zerstörerische Narzissmus hat verheerende Konsequenzen. Vertrauen schwindet, das Interesse am Anderen geht verloren und das Individuum versinkt mehr und mehr in der Leere der Erschöpfung. Der Philosoph Byung-Chul Han lässt uns die Gesellschaft, der wir uns ausliefern, verstehen.
Alles hört auf Byung-Chul Han. Seit seiner revolutionär frechen Streitschrift Müdigkeitsgesellschaft (2010), in der der Professor für Philosophie und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe mitten in den Hype des permanenten Wachstums der Leistungsgesellschaft hinein rief, dass uns die ständige Selbstausbeutung – eine Grundbedingung dieses Wachstums – zu Boden drückt, gilt Han als das Orakel unserer Zeit. Denn er kann das in Worte fassen, was alle fühlen, aber aufgrund der Komplexität niemand auszudrücken vermag. »Als ihre Kehrseite bringt die Leistungs- und Aktivgesellschaft eine exzessive Müdigkeit und Erschöpfung hervor.« So einfach, einleuchtend und lebensnah kann praktische Philosophie sein.
Praktische und handliche Philosophie – genau das scheint es zu sein, worum es dem in Seoul geborenen Denker geht. Wer sein Werk aufmerksam verfolgt, der kann feststellen, dass sein Schreiben einem Programm zu folgen scheint, dessen nächste Funktion sich noch im laufenden Betrieb ankündigt. So vertiefte Han seine Theorie der Müdigkeitsgesellschaft in Topologie der Gewalt (2011), seinem bislang umfangreichsten Text. Darin warnt er vor der »totalen Vermarktung der Welt«, weil diese die Schraube der Selbstausbeutung des Leistungssubjekts bis zu einem inneren Krieg »in der Seele eines jeden« weiterdrehe. Er forderte in der Konsequenz ein aktives Gegensteuern, ein »neinsagendes, souveränes Tun«, um einen Ausweg aus dieser Spirale der gewalttätigen Selbstausbeutung möglich zu machen.
Zum Widerstand rief Han dann auch in Transparenzgesellschaft (2012) auf. Diese auf den Punkt geschriebene Streitschrift war wie schon Müdigkeitsgesellschaft der Stachel im Fleisch eines Habitus, der der gläsernen kapitalistischen Gesellschaft als Errungenschaft verkauft wurde. Die absolute Durchsichtigkeit und Transparenz, Zeichen einer vermeintlich offenen Gesellschaft, die nichts zu verbergen habe, sei Ausdruck eines allgegenwärtigen Misstrauens und Verdachts.
»Die lautstarke Forderung nach Transparenz weist gerade darauf hin, dass das moralische Fundament der Gesellschaft brüchig geworden ist, das moralische Werte wie Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit immer mehr an Bedeutung verlieren.« An die Stelle dieser Werte tritt der Imperativ der Transparenz. Statt vertrauensvoll (nicht blind vor Vertrauen!) die Augen zu schließen, setzt die Transparenzgesellschaft auf ständige Wachsamkeit und Kontrolle.
Diese Transparenzforderung ist die fatale Konsequenz der Positivgesellschaft, in der nicht nur alles möglich und erreichbar ist – hier hört man das Echo seiner vorangegangenen Schriften – und führt zu einer »Hölle des Gleichen«, in der alles Fremde und Andersartige abgeschafft wird. An die Stelle des Geheimen, des Tiefgründigen, des Verwunderlichen tritt das Spektakel des Erwartbaren. Wenn schon alles in einem Glaskäfig ausgestellt wird, dann soll sich hinter dem Glas auch das befinden, was erwartet wird. Auf das Individuum bezogen heißt das, dass an die Stelle der Erfahrung in der Begegnung mit dem Anderen das Event des Erlebnisses mit sich selbst tritt. »Das narzisstische Subjekt verschmilzt so sehr mit sich selbst, dass es nicht mehr möglich ist, mit sich zu spielen.«
Han greift bei all dem natürlich auch auf Giorgio Agambens Konzept des Homo Sacer, der Heiligen Menschen zurück, der der modernen Welt ausgeliefert und auf sein nacktes Dasein reduziert sei. Die Welt als ein Nebeneinander von auf sich selbst reduzierte Individuen – die »Hölle des Gleichen« als Isolationskäfig, das in die Selbstvernichtung führt.
Das depressive Subjekt in Hans »Hölle des Gleichen« ist in der Rolle der Justine in Lars von Triers Melancholia zu beobachten. Die Geschichte ist Ausgangspunkt seiner Untersuchung der Agonie des Eros (2012), in dem Han die Konsequenz der Tilgung des Anderen fortschreibt. Auch hier klingt sein Programm an: Er spricht von der Unmöglichkeit der Entschuldung des Subjekts im Kapitalismus, der »nur verschuldend«, nicht entschuldigend ist, dem daraus folgenden Burnout des Individuums als Konsequenz eines Scheiterns in einer Welt mit allen Möglichkeiten (der Positivgesellschaft) und dem Umdeuten der Liebe zu einem angenehmen Happening. »Sie ist keine Handlung, keine Narration, kein Drama mehr, sondern eine folgenlose Emotion und Erregung. Sie ist frei von der Negativität der Verletzung, des Überfalls oder des Absturzes.« Die Leistungsgesellschaft, in der alles Verdienst ist, »hat keinen Zugang zur Liebe als Verletzung und Passion«, beklagt Han.
In einer Welt, in der alles positiv besetzt ist, in der alles »gefällt« und »ge(google)plust« wird, fehlt das Unbekannte und Unsichtbare, das Verführerische und Verlockende, das Mehrdeutige und Inszenierte. Vorhanden ist das Plakative und Profane, das Bekannte und Obszöne, das Eindeutige und Vorgeführte. Es fehlt die Unterbrechung des Positiven, das kurze oder lange Augenschließen – und damit all das, was Erotik und Begehren ausmacht. Schon in Transparenzgesellschaft schrieb Han: »Die erotische Spannung entspringt nicht der permanenten Ausstellung der Nacktheit, sondern der ‚Inszenierung eines Auf- und Abblendens’.« In der Durchsichtigkeit der gläsernen Gesellschaft geht die Fantasie als Grundlage jedes Begehrens verloren.
Vor allem fehlt der Andere, der durch die ständige Ich-Bezogenheit in der narzisstischen Müdigkeits- und Transparenzgesellschaft abhanden gekommen ist. Und mit dem anderen geht das Objekt des Begehrens als Ausdruck des Eros verloren. Es droht das »Ende des Begehrens«. Und auch hier braucht es wieder das bewusste gegensteuern. Denn die Agonie des Eros, der Niedergang des Begehrens ist nur dann aufzuhalten, wenn sich das Individuum aus der permanenten Selbstkontrolle und Leistungsbereitschaft begibt. Im wahrsten Sinne des Wortes braucht es ein »schwach werden«, um die Kraft der Liebe empfangen zu können. »Dieses Gefühl ist allerdings nicht die Eigenleistung des Einen, sondern die Gabe des Anderen.«
Doch wie viel Zeit ist das müde Leistungssubjekt bereit, an den Anderen abzutreten? Wie viel Ich-Zeit gibt man auf, um die »Hölle des Gleichen« zu verlassen, dem Anderen zu begegnen und Begehren möglich zu machen? Diese Fragen scheinen Hans Schriften zu verbinden. Eine Antwort findet man in der als eBook erschienenen Schrift Bitte Augen schließen (2013). Der Unterschied zwischen der »Ich-Zeit« und der »Zeit des Anderen« besteht darin, dass sich erste selbst beschleunigen lässt, während sich die zweite als Gabe dieser Einflussmöglichkeit entzieht. »Sie entzieht sich auch der Arbeit und Leistung, die immer meine Zeit beansprucht. Die Zeitpolitik des Neoliberalismus schafft die Zeit des Anderen ab, denn sie ist nicht effizient.«
Effizienz ist hier im Sinne der Leistungsgesellschaft zu verstehen, die, wie wir inzwischen wissen, in die Erschöpfung und Müdigkeit führt, die die Augen einfach nur noch zufallen lassen. Diese Effizienz muss aus unseren Köpfen heraus, um das Individuum aus der Selbstbeschäftigung heraus in die Gemeinschaft zu holen. Die Gemeinschaft, die sich in der »Zeit des Anderen« als eigene Gabe und Geschenk der Anderen äußert und damit die Einsamkeit und Isolation des Individuums im gläsernen Käfig beendet. »Allein die Zeit des Anderen erlöst das narzisstische Ich aus der Depression und Erschöpfung.«
Das narzisstische Ich, von dem Han hier spricht, ist Ausgangspunkt eines weiteren Essays von Byung-Chul Han sein. Im Zentrum von Im Schwarm steht die Frage der Souveränität im digitalen Zeitalter, in dem das narzisstische Ich nicht nur sich selbst permanent ausstellt, sondern auch über die Macht verfügt, andere bloßzustellen. »Souverän ist, wer über die Shitstorms des Netzes verfügt«, heißt es in der Ankündigung des Buches, in der auch schon vom Ende der Politik die Rede ist. Wer aber der Meinung ist, dass der Karlsruher Medientheoretiker ein Internet- und Digitalskeptiker sei, der muss sich eines besseren belehren lassen. Vor wenigen Tagen erschienen seine Gedanken zur Krise der Demokratie unter dem Titel Digitale Rationalität und das Ende des kommunikativen Handelns (2013), eine überaus optimistische Skizze einer »Schwarmdemokratie«, die niemanden ausschließe und kein Wissen außen vor lasse. Parteien und ihre Programme werden demnach von der »digitalen Rationalität« des Schwarms abgelöst. Wie man allerdings alle zum Teil des Schwarms macht und ob sich dieser Schwarm tatsächlich nur durch die Masse der Daten und nicht doch auch durch die rhetorisch am besten aufbereiteten Argumente überzeugen lässt, bleibt unbeantwortet.
Die Bücher sind alle erhältlich bei Matthes & Seitz Berlin.