Comic

Selbstfindungstrip nach Italien

Der französische Comiczeichner Alfred erzählt in »Come Prima« von zwei Brüdern, die nach Jahren der Trennung eine Reise nach Italien unternehmen und sich dabei selbst finden. Mit diesem preisgekrönten Album beweist sich Alfred als souveräner Meister seines Genres.

Zehn Jahre sind vergangen, die sich Fabio und Giovanni nicht gesehen haben. Dann plötzlich stehen sich die beiden Brüder gegenüber. Giovanni trägt eine Urne unterm Arm, darin die Asche ihres Vaters. Mit dieser Szene beginnt die grandiose Comic-Roadnovel Come Prima des Franzose Lionel Papagalli alias Alfred, hierzulande für das mit dem Max-und-Moritz-Preis ausgezeichnete Album Warum ich Pater Pierre getötet habe bekannt. Sein neuer Comic – beim diesjährigen Comicfestival im französischen Angoulême als Bestes Album ausgezeichnet – spielt Ende der 1950er Jahre in Frankreich. Dort findet Giovanni seinen Bruder nach Monaten der verzweifelten Suche in einem Boxclub. Gerade hat Fabio seinen Meistertitel aus dem Vorjahr verloren, da eröffnet ihm sein Bruder, mit ihm gemeinsam die Asche des Vaters in die italienische Heimat zurückbringen zu wollen. Weil Fabio Geld braucht und hofft, etwas erben zu können, lässt er sich darauf ein.

Die beiden Brüder könnten unterschiedlicher kaum sein. Der eine ist mit 17 Jahren von zuhause abgehauen, der andere hat versucht, die Lücke zu füllen, die der Bruder hinterlassen hat. »Die weiten Reisen, das bin ich. Die Frauen, das Abenteuer… das bin ich«, sagt der Draufgänger Fabio von sich selbst. Giovanni hingegen war »nur ein verängstigtes Kind«, wie es im Comic heißt, der es sich im langen Schatten seines Bruders eingerichtet hat. Die gemeinsame Fahrt in die Heimat ist eine Reise in die Vergangenheit – auch in die faschistisch belastete Geschichte Italiens, die die Familie Foscarini nicht verschont hat – sowie eine Suche nach sich selbst und dem anderen.

Auch wenn es so viel zu sagen gäbe, herrscht am Anfang eisiges Schweigen zwischen den Brüdern. Bis es zu einem ersten Eklat kommt. Ab diesem Zeitpunkt stürzt die Vergangenheit auf die beiden Brüder ein, der zu begegnen schmerzhafter ist, als beide gedacht haben. Auf ihrer Fahrt werden sie zu »Gefangenen ihres eigenen Wegs«, an dessen Ende Licht zu sehen ist. Es gibt auf diesem Weg viel zu verstehen und zu begreifen. Zugleich widerfährt ihnen auf dieser Reise so viel, dass sie kaum mit dem Verarbeiten der Ereignisse hinterherkommen. Die zahlreichen Erinnerungen stellen sich einerseits zwischen die beiden Brüder, führen sie andererseits aber auch näher zueinander. Jedem Schritt zurück folgen zwei Schritte nach vorn, jede Auseinandersetzung führt schlussendlich auch zu mehr Verständnis.

Ob Barus Autoroute du Soleil oder Ulli Lusts Coming-of-Age- und Selbstbefreiungstrip, von dem sie in Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens erzählt – die Tradition der Road-Novel als Erzählung einer Selbstsuche hat im europäischen Comic einen festen Platz. Mit Come Prima fügt Alfred dieser Reihe eine fulminante Erzählung hinzu, in der die beiden sympathischen Helden viel begreifen und sich verändern.

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Alfred: Come Prima. Aus dem Französischen von Volker Zimmermann. Reprodukt Verlag. 224 Seiten. 34,- Euro. Hier bestellen

Der Comic ist in einer seltenen Souveränität gezeichnet. Die zarte Poesie des Textes spiegelt sich in den warmen Farben der Zeichnungen wieder, in denen – angefangen vom Datum auf dem Siegerpokal der Boxmeisterschaften aus dem Vorjahr bis hin zu den zirpenden Grillen im südfranzösischen Sommer – einfach jedes Detail stimmt. Flashbacks im Plakatdruckstil der 1920er Jahre lassen die stets wache Vergangenheit aufblitzen, unterbrechen die Haupterzählung oder dringen in sie ein. Sie erzählen vom plötzlichen Verschwinden Fabios und dessen dramatischen Folgen. Als Ikone dieses Traumas taucht dabei immer wieder der Dampf des Schiffes auf, mit dem er nach Afrika übergesetzt ist und das am Horizont verschwindet. Diese Sequenzen sind nur ein Beispiel der kühnen Komposition, die uns schon auf den ersten Seiten begegnet, wenn Alfred der ersten Begegnung der Brüder den vorher verlorenen gegangenen Boxkampf gegenschneidet und so den Effekt eines Boxkampfs evoziert. Schon hier beweist sich Alfred als großer Künstler.

Seine detailreiche Zeichnungen sind von großer psychologischer Tiefe, die ihren Höhepunkt in der Begegnung zwischen Giovanni und seiner Jugendliebe Maria hat. Maria hängt gerade weiße Laken auf, als Giovanni nach Jahren der Abwesenheit zwischen die Tücher tritt. Sie macht ihm Vorwürfe, erinnert sich aber zugleich an sein Trauma, das sie ihm noch einmal vor Augen führt. Und während ihres Monologes legen sich die weißen Tücher über das Gesicht von Giovanni. Bis er irgendwann ganz dahinter verschwindet, so wie er hinter den Vorhängen der Geschichte, seiner Biografie und seinem Trauma, verschwunden ist. Dazu kommen stilistische Anleihen – in den dynamischen Szenen bei Baru, in den Traumsequenzen bei Joann Sfar und in den atmosphärischen Zeichnungen des vor Hitze flimmernden südeuropäischen Sommers bei Cyril Pedrosa. Come Prima ist ein Glanzstück der Neunten Kunst, das man in seiner Bibliothek nicht mehr missen möchte.

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