Die Humboldt-Jahre sind angebrochen. Im Juni dieses Jahres konnten wir den 250. Geburtstag von Wilhelm von Humboldt feiern, am 14. September 2019 werden wir den 250. Geburtstag seines jüngeren Bruders Alexander begehren. Das Interesse an den beiden speist sich daraus, dass sie Namensgeber des Humboldt Forums sind.
Das größte und wichtigste kulturpolitische Projekt der Bundesrepublik Deutschland ist zugleich auch ein höchst umstrittenes. Weil sich hinter dem Label Humboldt nur wenig Inhaltliches, Substantielles verbirgt. Bénédicte Savoy, Professorin am Collège de France und an der TU Berlin sowie Leibniz-Preisträgerin, kritisierte jüngst in der Süddeutschen Zeitung, dass der Widerspruch zwischen den hehren Ansprüchen und der traurigen Realität offensichtlich sei. »Es sind Schlagwörter, die da verkauft werden«, so die Kunsthistorikerin im Interview mit der Süddeutschen Zeitung. »Humboldt, Provenienz, Multiperspektivität, Shared Heritage. Tiefsinnige Wörter, aber was wir brauchen, ist intellektuelles Gestalten.« Vielleicht linderte eine Orientierung am Leben und Werk der beiden die konzeptionelle Not des Humboldt Forums. Darauf hat auch Gründungsintendant Neil MacGregor verwiesen, als er seine konzeptionellen Vorstellungen im November 2016 präsentierte.
Seit Monaten findet sich auf den Bestsellerlisten ein Werk über den jüngeren der beiden Brüder: »Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur«. Andrea Wulf zeichnet die anregende, inspirierende Biographie über Alexander von Humboldt und sein intellektuelles Vermächtnis. Diesem Buch ist zu wünschen, dass es sich nicht nur gut verkauft, sondern vor allem, dass es viel gelesen wird. Es ist eine unglaublich anregende, faszinierende Biographie eines beeindruckenden Mannes. Andrea Wulf arbeitet das Vermächtnis von Alexander von Humboldt heraus, das auf drei Dimensionen verweist: Auf Humboldt, den Forschungsreisenden und den Naturwissenschaftler mit einem ganzheitlichen Zugriff; auf Humboldt, den Kritiker politischer Verhältnisse; sowie auf Humboldt, den Bildungsreformer. Diese drei Dimensionen stehen nicht lose nebeneinander, sondern sie entwickeln sich jeweils aus den jeweiligen anderen Dimensionen. Auch hier gelingt Humboldt ein ganzheitlicher Ansatz und Ausdruck.
Alexander führte ein spannendes, ein kosmopolitisches Leben. Ein Entdeckungsreisender, der die Grenzen seiner selbst wie der Umgebung, in der lebte, tagtäglich herausforderte. Physisch, intellektuell, emotional, kulturell wie habituell. Er verschob Grenzlinien, öffnete Räume und machte Zusammenhänge sichtbar, die für uns, die 200-Jahre später geborenen, zu Selbstverständlichkeiten geworden sind. Zusammenhänge, die vielleicht so sehr selbstverständlich geworden, dass wir die intellektuelle Kraft, die es benötigte, sie zusammenführen, nicht mehr erkennen. Alexander von Humboldt, jener fast Mitte des 18. Jahrhunderts Geborene, verweist weit in das 21. Jahrhundert. Seine Weitsicht macht jene umso dümmer, die hinter seine Erkenntnisse fallen.
Alexander wurde am 14. September 1769 in Berlin geboren. Er wuchs mit seinem Bruder Wilhelm in einer angesehenen, gut situierten sowie bildungsorientierten preußischen Familie auf. Der Vater verstarb früh, zurück blieb die wenig geliebte, stets fordernde und nie zufriedenstellende Mutter. Schon als junger Mensch legte AvH eine Blitzkarriere hin. Als Bergassessor erfand er den Bergbau in im Fichtelgebirge und im Frankenwald neu. Kurz nach dem Tod seiner Mutter kündigte Alexander und investierte sein Erbe in eine abenteuerliche Reise nach Südamerika. Eine Reise, die von 1799 bis 1804 dauerte, an der er sich aber sein ganzes Leben abarbeitete.
Während dieser Expedition entwickelte Humboldt ein neues Verhältnis zur Natur oder erfand, wie Andrea Wulfs Titel lautet, Natur neu. Er stellte sich einer Entwicklung entgegen, die versuchte, die Natur mit den jüngst entwickelten Technologien zu unterwerfen und zu kontrollieren. Auch das war ein Aspekt des neuen Zeitalters der Aufklärung. Menschen in westlichen Gesellschaften sahen der Zukunft voller Selbstvertrauen und Verbesserungen entgegen. Fortschritt war das Signum dieser Jahrhunderte. Auf die Idee, dass der Mensch dadurch die Natur zerstören könnte, kam niemand.
Am Valenciasee in den Tälern von Aragua, im Norden des heutigen Venezuelas, sah AvH als erster, dass Klimaveränderungen vom Menschen gemacht sind. Er war in der Lage zu beschrieben, wie der Mensch mit seinem Verhalten das Klima veränderte. Alexander warnte vor den verheerenden Folgen landwirtschaftlicher Techniken und von der Abholzung, unter den vor allem die künftigen Generationen leiden würden. Bei seiner späten Reise durch Russland im Jahr 1829 kam er zu dem Schluss, dass die Menschheit das Klima hauptsächlich auf drei Arten beeinträchtige: Durch Abholzung, durch rücksichtslose Bewässerung und durch die Industrialisierung, deren Konsequenzen er bereits erahnte. Noch nie hatte jemand die Beziehung zwischen Mensch und Natur auf diese Weise betrachtet. Humboldt war der Ansicht, dass sich das Leben in einem permanenten Ringen ums Überleben befindet. Er brach damit mit einer Auffassung, nach der die Natur eine gut geölte Maschine war, in der jedes Tier und jede Pflanze einen gottgewollten Platz einnahm. Im Grunde genommen entwickelte er bereits vor Charles Darwin und Herbert Spencer Überlegungen zur Evolutionstheorie und der Annahme von »survival of the fittest«, dem Überleben der an die natürliche Umwelt am besten angepasste Lebensform. Alexander von Humboldt ordnete Pflanzen nicht in taxonomischen Kategorien ein, sondern er betrachtete die Vegetation aus dem Blickwinkel von Klima und Standort. Für Humboldts Zeitgenossen ein vollkommen neuer Ansatz, der aber noch heute unser Verständnis vom Ökosystem prägt. Mit seinen Analysen und seinen stimmigen Vorhersagen wurde er zum Vater der Umweltbewegung.
Mit seinem spezifischen Verständnis der Natur blickte Humboldt auch auf die Politik. Bei seinen Reisen durch Südamerika war er Zeuge etlicher Sklavenmärkte geworden. Märkte, auf denen Menschen in einer Weise inspiziert wurden, dass sich Humboldt an die Pferdemärkte seiner Heimat erinnert sah. Dieser tägliche Anblick machte ihn zu einem entschiedenen Gegner der Sklaverei. Als er nach seiner Reise durch Südamerika in den USA eintraf, lernte er in Washington Präsident Thomas Jefferson kennen. Was für die Naturbegeisterung des Präsidenten sprach und für Humboldts Bekanntheit. »Die beiden Männer waren sich auf Anhieb sympathisch«, wie Wulf schreibt. Bei einem Thema aber waren sie konträrer Meinung, nämlich bei der Frage der Sklaverei. Humboldts Standpunkt war klar, nämlich, dass es keine überlegenen oder unterlegenen Ethnien gebe. Unabhängig von Nationalität, Hautfarbe oder Religion hätten alle Menschen denselben Ursprung. Humboldt stellte zudem die Verbindung zwischen Sklaverei und Kolonialismus her. In Kuba hatte er beobachtet, welch schlechte Grundlage die Monokultur von Cash Crops darstellten. Humboldt plädierte für eine Subsistenzwirtschaft, in der möglichst viele verschiedene Nahrungsmittel angebaut werden. Er arbeitete als Erster eine Beziehung zwischen Kolonialismus und Umweltzerstörung heraus. Für ihn waren Umweltzerstörung und Sklaverei zwei Seiten der Medaille des Kolonialismus‘: Er steht für die Ausbeutung des Menschen und natürlicher Ressourcen. Alexander hatte gelernt, dass das Gleichgewicht der Natur durch Vielfalt hergestellt wird. »Alle Wesen, vom unscheinbaren Moos bis zu den gewaltigen Eichen, vom Insekt bis zum Elefanten, haben laut Humboldt ihre Aufgabe, und zusammen ergeben sie das Ganze.« Es gibt kein Oben, es gibt kein Unten, die Natur selbst sei eine Republik der Freiheit. Diese Erkenntnis war die Grundlage seines Verständnisses von Politik und Moral.
Aus dieser Perspektive erklärt sich auch Humboldts harsche Kritik an der spanischen Herrschaft in Südamerika. Er warf den Spaniern vor, zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen Hass zu säen. Sie beuteten die Rohstoffe der Kolonien aus und zerstörten die Umwelt. Zugleich wurden die Indianer brutal von christlichen Missionaren behandelt. Die europäische Kolonialpolitik, ihre Gier nach Reichtum und ihre falsche Moral richte Südamerika zugrunde. Humboldts harte und vehementen Anklagen gegen Kolonialismus und Sklaverei speisten sich aus seiner Erkenntnis, wie eng alles mit allem verflochten war: Klima, Böden und Landwirtschaft mit Sklaverei, Demografie und Wirtschaft. Er machte sich für die Selbständigkeit der Kolonien stark. Dass er eine enge Freundschaft zu Simon Bolivar, dem Unabhängigkeitskämpfer für Südamerika, unterhielt, sei nur am Rande erwähnt. Auch ihm widmet die Autorin ein eigenes Kapitel. Humboldts harte Kritik am Kolonialismus zahlte er mit einem großen Opfer: Sein Wunsch, Indien zu bereisen, ging nie in Erfüllung. Die britischen Autoritäten verweigerten ihm die Expedition in den Subkontinent.
Aus politischen Gründen hielt sich Alexander von Humboldt liebend gern fern von Berlin auf. Sehr zum Missfallen seines älteren Bruders, dem preußischen Patrioten, sehr zum Missfallen aber auch des Königs von Preußen, der ihm eine jährliche Pension zukommen ließ, Alexanders einzige finanzielle Einnahmequelle. So fand Alexander von Humboldt sich im Mai 1827 im Alter von 57 Jahren in Berlin wieder. Er war in ein Land zurückgekehrt, das sich in einen Polizeistaat verwandelt hatte, in dem das Militär dominierte und das entschieden antiliberal war. Humboldt hatte nur begrenzten politischen Einfluss, er war aber fest entschlossen, seiner Geburtsstadt das zu geben, was er in Paris, London und auf seinen Reisen entdeckt hatte: den Geist intellektueller Neugier. Er stürzte sich in die Forschung und popularisierte sie zugleich. Er wollte, ganz im Sinne der Aufklärung, den Menschen helfen, sich ihrer eigenen Verstandeskräfte zu bedienen. Er hielt Vorträge, Vorträge, die anders waren, die lebendig waren, aufregend, unterhaltsam und in ihrer Art vollkommen neu. Da er kein Eintrittsgeld nahm, demokratisierte er damit die Wissenschaft. Wissenschaft war nun für alle da, wie Andrea Wulf schreibt: »Seine Zuhörer kamen aus den unterschiedlichsten Schichten – von Mitgliedern der königlichen Familie bis zu Kutschern, von Studenten bis zu Dienstboten, von Gelehrten bis zu Maurern – und die Hälfte waren Frauen.«
Mit seinem Zugang von Transparenz, Offenheit und Popularisierung revolutionierte Humboldt die Wissenschaften. Im September 1828 lud er Hunderte von Wissenschaftlern aus ganz Deutschland und Europa zu einer Konferenz in Berlin ein. Eine Konferenz, zu der Menschen zusammenkamen und miteinander diskutierten. Nicht nacheinander vortrugen. Ihm schwebte ein interdisziplinärer Austausch vor, bei dem Forscher, indem sie ihr Wissen teilten, neues lernten und erfuhren. Er stellte der Konferenz das Motto voran: »Entschleierung der Wahrheit ist ohne Divergenz der Meinung nicht denkbar.« Ein Motto, das heute noch viele Wissenschaftskonferenzen versuchen einzulösen, selten nur mit Erfolg. Geschweige denn andere Teile unseres Bildungssystems. Auch deshalb ist Alexander von Humboldt als Bildungsreformer so interessant. Er suchte das Dialogische, nicht das Neben- und Nacheinander. Humboldt verband Naturwissenschaften, Kultur, kulturelle Praktiken und Politik zu einem Gesamtbild globaler Strukturen. Dafür steht auch sein Opus Magnum, Kosmos – Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Alexander von Humboldt schuf damit ein Werk, in dem er alles zusammenbrachte, was die professionelle Wissenschaft auseinanderhalten wollte.
Mit diesem Zugang zur Welt, zum Kosmos, beeinflusste dieser »größte Mann seit der Sintflut«, wie ihn der preußische König Friedrich Wilhelm IV. nannte, etliche derjenigen Forscher, die unser Wissen und das Verständnis zu unserer Welt revolutionierten. Charles Darwin zum Beispiel. Henry David Thoreau, George Perkins Marsh, Ernst Haeckel und John Muir. All diesen Urvätern und Urahnen der Natur- und Umweltgeschichte widmet Andrea Wulf ein eigenes Kapitel. Für die Autorin beruht Humboldts Ruhm nicht auf einer bestimmten Tat oder Erfindung, sondern auf seine Sicht der Welt. »Sein Naturbegriff hat sich wie durch Osmose in unser Bewusstsein geschlichen. Fast entsteht der Eindruck, seine Ideen seien so selbstverständlich, dass der Mensch hinter ihnen verschwunden ist.«
Ein ganzheitlicher Zugang, statt sinnentleerte Spezialisierung in differenzierte Disziplinen. Schule ist für viele Schülerinnen und Schüler doch auch deshalb so langweilig, weil sie den Sinn der einzelnen Fächer nicht erkennen. Weil sie den Zusammenhang des Erlernten nicht erfahren. Welch Aufgabe für das Humboldt Forum!
Bénédicte Savoy benennt in dem bereits erwähnten Interview einige intellektuelle Missstände des Humboldt Forums. Nach der Lektüre des Buches von Andrea Wulf fragt man sich, warum 18 Jahre nach Beschluss, das Berliner Schloss zu rekonstruieren und das Humboldt Forum aufzubauen, eine konzeptionelle Leere zu konstatieren ist. Die Autorin hat in beeindruckender Weise Humboldts Kosmos und Vermächtnis dargestellt. Humboldts Vermächtnis beinhaltet den Respekt vor jedem Leben auf dieser Welt, jedes ist wichtig. Es beinhaltet eine Gleichwertigkeit allen Lebens. Keines ist wichtiger als das andere, nur zusammen kann sich die Welt als Organismus entwickeln. Dieser Respekt impliziert den Mut, auf Missstände, die die Geschichte hervorgebracht hat, zu verweisen und an Lösungen zu arbeiten. Gleichwertigkeit impliziert Gleichheit im politischen Sinne. Das Elitäre auch für die Nicht-Elitären. Die radikale Öffnung für alle. Was auch eine Demokratisierung der Bildung impliziert, so wie sie Humboldt praktiziert hat. Dies aber zwei Jahrhunderte nach Humboldt. Wir müssen sein Vermächtnis ins 21. Jahrhundert übertragen, ins Heute übersetzen, das Humboldt Forum als Schule begreifen, als »Schule im Schloss«, das Gewöhnliche im Außergewöhnlichen. Das ist die Legacy des Humboldt Forums. »Bildung ist ein tägliches Tun, ein Erfinden, ein Sich-Anpassen an die Bedürfnisse jüngerer Generationen. Man könnte dort ein Feuerwerk der Intelligenz zünden. Und übrigens: Intelligenz ist sexy. Man könnte aus dem Potential in Berlin, aus der Lust vieler junger Leute etwas machen, was sexy ist«, so Bénédicte Savoy. Nehmen wir sie ernst, nehmen wir Alexander von Humboldt ernst.
Noch ist das Humboldt Forum das Werk alter Männer. Weil sie das Schloss des Preußenkönigs wiederhaben wollten. Weil sie die Sammlungen von Dahlem nach Mitte bringen wollten. Dafür haben sie die Idee des Humboldt Forums in die Welt gesetzt. Es hörte sich besser an, als das, was sie eigentlich wollten. Es ist nun Zeit, das zu tun, was Alexander von Humboldt getan hätte. Er hätte Menschen motiviert sich daran zu beteiligen, es als ihres zu begreifen. Er hätte es als demokratischen Ort der Weiterbildung verstanden. Nicht von oben herab, sondern von unten herauf. Geben wir das Humboldt Forum denjenigen, mit denen wir am wenigsten rechnen. Denen, an den Peripherien dieser Stadt. Den sozial Ausgegrenzten. Den nicht-Heimischen in dieser Stadt. Den Fremden. Den Menschen außerhalb Berlins, Deutschlands, Europas. Den Nicht-Elitären. Den Klugen. Denen, für die Intelligenz, Wissen und Bildung immer noch sexy klingt. Kein Humboldt Forum der grauen Gremien, sondern ein Humboldt Forum, das die Vielfarbigkeit, die Vielfältigkeit, die Widersprüchlichkeit, die Widerwärtigkeit der Geschichte der Welt widerspiegelt. »Entschleierung der Wahrheit ist ohne Divergenz der Meinung nicht denkbar.«
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