Der 30-jährige Nick Drnaso war mit »Sabrina« als erster Comiczeichner überhaupt für den Booker Prize nominiert. Seine gezeichnete Erzählung porträtiert eine verbitterte Gesellschaft am Rande des Abgrunds.
Der 30-jährige Nick Drnaso war alles andere als ein Unbekannter, als er im vergangenen Herbst für den wichtigsten Literaturpreis der englischsprachigen Welt nominiert wurde. Schon sein Debüt Beverly war preisgekrönt, er gewann vor drei Jahren den renommierten Buchpreis der LA Times und war für gleich vier Ignatz-Awards nominiert. Mit seinem neuen Werk knüpft er nahtlos an diesen Erfolg an.
Eine junge Frau hütet das Haus ihrer Eltern. Sie wäscht ab, füttert die Katze und schläft in ihrem alten Kinderzimmer. Sie empfängt ihre Schwester, plant mit ihr einen Urlaub, hinterlässt den Eltern eine Notiz und zieht dann hinter sich die Tür zu. Lediglich die ersten zehn Seiten gönnt der amerikanische Zeichner und Autor Nick Drnaso seiner titelgebenden Figur, um sie als genügsame und in sich ruhende Person zu skizzieren. Danach verschwindet Sabrina in einem Nebel aus Andeutungen, Mutmaßungen, Gerüchten und Verschwörungen.
Als nächstes lernt man Randy kennen, einen depressiven Blondschopf, dessen Freundin vor einigen Wochen spurlos verschwunden ist. Um Abstand von den Ereignissen zu gewinnen, hat er seinen Schulfreund Calvin gebeten, ihn für eine Zeit lang in dessen Haus in Colorado aufzunehmen. Der hat zumindest genug Platz, denn seine Frau lebt mit der gemeinsamen Tochter in Florida. Um die Ehe steht es alles andere als gut, dazu scheint auch Calvins Job als Überwachungstechniker bei der Air Force beizutragen. Dort könnte er Karriere machen, aber Calvin zögert. Mitten hinein in seine Überlegungen platzt ein Video, dass an zahlreiche Redaktionen im ganzen Land verschickt wurde. Darin erklärt ein junger Mann, dass das, was man nun sehen werde, nur ein »Mittel zum Zweck sich Gehör zu verschaffen« sei. Was folgt sind die brutalen Bilder des Mordes an einer jungen Frau, einer Tat, die Journalisten als den »sadistischsten Akt sinnloser Gewalt in den USA seit Jahrzehnten« bezeichnen. Wie man längst ahnt, handelt es sich bei der Toten um Sabrina.
Was nun folgt, ist ein Totentanz der besonderen Art. Denn statt der Aufklärung eines Mordfalls nachzuspüren, widmet Drnaso seine Erzählung dem genauen Gegenteil – der Verklärung und Instrumentalisierung eines Verbrechens. Denn trotz aller Bemühungen, die Veröffentlichung des Videos zum Schutz der Familie zu verhindern, taucht es schon bald im Netz auf. Millionenfach wird es geklickt und kommentiert. Es dauert nicht lang, da tauchen erste Stimmen auf, die von auffälligen Details sprechen, die vermuten lassen, dass da etwas nicht stimme. Aus den Stimmen werden Gerüchte, die von Verschwörungstheoretikern schnell aufgegriffen werden. »Es geht um ein weiteres Stück Panikmache, die in ihrer Verderbtheit keine Grenzen kennt«, raunt einer der Vorreiter der Weltuntergangsszene in seiner Radiosendung. »Nichts geschieht einfach so, jede neue Meldung wird so gezielt hergestellt wie die Werbung, die dazwischen läuft.«
War Sabrina bis zu diesem Moment noch reine Fiktion, dockt Drnaso mit seinem Comic hier an die Wirklichkeit an. Vorbild für den selbsternannten Amateurdetektiv am Äther ist der US-Radiomoderator Alex Jones, der in seinen »Infowars« etwa behauptet, dass Amokläufe an amerikanischen Schulen ein inszenierter Teil der Kampagne gegen das Recht auf Waffenbesitz seien, dass die US-Regierung an den Ereignissen des 11. September beteiligt war oder Barack Obama kein amerikanischer Staatsbürger sei. Jones krude Theorien greift der Comic auf und der Fall Sabrina wird zu einem weiteren Puzzlestück in der Weltverschwörung, gegen die man nun aufbegehren muss.
Diese Szene, in der der Weltuntergang stets nur einen Klick weit entfernt ist, steht im Mittelpunkt von Drnasos Comic. Er muss auch gar nicht tief eintauchen, um zu zeigen, wie sich dieses System permanent selbst bestätigt. Dass dabei ein Charakter wie Calvin, dessen Verhalten selbst an das eines Preppers erinnert, ins Fadenkreuz der Verschwörungstheoretiker gerät, gehört zu den besonderen Wendungen der Geschichte.
Drnaso zweiter Comic ist angesichts eines US-Präsidenten, dessen Agenda auf Fake News und Verschwörungstheorien aufgebaut ist, hochaktuell. Allein damit erklärt sich jedoch nicht, dass es Sabrina als erster Comic auf die Longlist des begehrten Man Booker Prize geschafft hat. Vielmehr ist dieser Comic ein Porträt des emotional ausgebrannten Amerikas. Die innere Leere der Menschen spiegelt sich in der Tristesse ihrer gebeugten Haltung, der leeren Räume und grauen Landschaften.
Der reduzierte Strich erinnert an Chris Ware oder Adrian Tomine. Dazu kommt die fragmentierte Erzählform, der ständige Wechsel zwischen denen, die sich einigeln und verstummen, und jenen, die laut und aggressiv ihre Wahnvorstellungen streuen. All das zeigt eine Gesellschaft, die auseinanderfällt: in einen Teil, der sich einigelt und verstummt und in einen anderen Teil, der höchst aggressiv seine Wahnvorstellungen streut.
Es bedarf nicht viel Phantasie, sich diese Geschichte in Deutschland vorzustellen. Die Fake News, derer man sich hier bedient, tragen dann nur andere Namen. In der galanten Übersetzung von Marisch-Verleger Daniel Beskos und der Schriftstellerin Karen Köhler (die es gerade mit dem viel diskutierten Roman Miroloi auf die Longlist für den Deutschen Buchpreises geschafft hat) ist sogar einmal von »besorgten Bürgern« die Rede. Deren Welt geht ja bekanntlich am »großen Bevölkerungsaustausch« und der »Klimahysterie« zugrunde. Und je öfter sie sich das einreden, desto stärker glauben sie daran.