Die Amerikanerin Kelly Reichardt ist mit dem ungewöhnlichen Trapper-Film »First Cow« im Wettbewerb vertreten. Das Western-Genre wird auf der 70. Berlinale auch in anderen Beiträgen neu interpretiert.
Otis Figowitz ist keine Gestalt, die man sich im Wilden Westen vorstellt. Er ist ängstlich, schüchtern und zart besaitet, kein Wunder also, dass er nur als Cookie, als Koch, einer Pelzjäger-Truppe durchs wilde Oregon zieht. Aber selbst das bekommt er nicht gut hin. Statt die Männer mit Fleisch zu versorgen, hilft er Tieren lieber auf die Beine und pflückt im Unterholz Pilze. Dabei stößt er auf den nackten Chinesen (!) King Lu, der mit seinen Begleitern aneinandergeraten und entsprechend auf der Flucht ist. Cookie hilft dem fremden Einwanderer und schmuggelt ihn mit seinem Trupp bis in den nächsten Ort.
King Lu (Orion Lee) und Cookie (John Magaro) sind beide nicht für das harte Leben zur Zeit des Goldrauschs gemacht, also tun sie sich zusammen und bauen sich eine kleine Farm auf. Dort richten sie sich wie ein altes Ehepaar ein, ohne zu wissen, wie es weitergehen soll. Da lässt sich der Bürgermeister der Siedlung, der Brite Chief Factor, eine Kuh liefern, um seinen englischen Tee mit Milch verfeinern zu können. Es ist die erste Kuh in der Gegend, wo es bislang nur Elche, Eichhörnchen und Lachse gibt. Davon haben die Siedler genauso die Nase voll wie vom Brot, dass aus Wasser und Mehl gemacht wird.
Hier kommt nun der Clou des Drehbuchs, dass Kelly Reichardt nach einem Roman von Jonathan Raymond geschrieben hat. Cookie hat einstmals als Bäcker gearbeitet, auch er kann das wässrige Brot nicht mehr sehen. Und er weiß, dass Milch eine hilfreiche Zutat ist, will man etwas Leckeres Backen. Angestachelt von King Lu stiehlt er sich nachts zur Kuh des Bürgermeisters, um für ein paar leckere Quarkkeulchen Milch zu klauen. Als sie am nächsten Tag die frischen Leckereien probieren, kommen sie auf die Idee, ihre Backwaren auf dem örtlichen Markt zu verkaufen. Fortan schleichen sie sich jede Nacht auf die Wiese des Bürgermeisters, um dessen Kuh zu erleichtern. Das ist natürlich ein heikles Spiel, denn jederzeit könnten sie auffliegen. Ihr Glück ist, dass die Raubeine, die die Neue Welt erobern, keine Ahnung vom Backen haben. Brenzlig wird es erst, als Chief Factor einen Kuchen bestellt, um seinen Widersacher zu beeindrucken.
Ein Chinese und ein – zumindest vom Namen her – mutmaßlich jüdischer Zeitgenosse im Wilden Westen ist natürlich eine ungewöhnliche Geschichte. Dass man so einen Western aber noch nie gesehen hat, liegt vor allem an der Quarkkeulchen-Nummer, deren lieblicher Geschmack selbst die härtesten Kerle zum Strahlen bringt. Das gibt dem Ganzen eine wunderbar komische Note.
Doch natürlich fliegen Cookie und King Lu auf, sofort ist die halbe Siedlung hinter ihnen her. Dass das nicht gut ausgeht, weiß man von Anfang an, denn der Film beginnt in der Gegenwart. Da stößt eine Frau beim Spaziergang mit ihrem Hund am Ufer des Yukon-Rivers auf zwei im Schlamm vergrabene Skelette.
Dass Cookie und King Lu mit ihrer Masche nicht durchkommen, ist am Ende nur konsequent, wenngleich auch ein wenig zu bedauern. Denn zwei so skurrile Figuren hat man im Western seit Sam Hawkins nicht mehr gesehen.
Ohnehin wird der Western bei der 70. Berlinale neu justiert. Der in Südafrika lebende US-Amerikaner Teboho Edkins spielt in seinem Dokumentarfilm »Days of Cannibalism« mit den klassischen Mitteln eines Western. In den Weiten Ost-Lesothos hat er den Alltag der dort seit Jahrhunderten lebenden Viehzüchter festgehalten und wie deren eingespielter Alltag durch die Einwanderung von chinesischen Glückssuchern durcheinandergerät. Es geht um Kommunikations- und Anpassungsschwierigkeiten auf beiden Seiten und um die Frage, wie man Traditionen vor dem Siegeszug des Kapitalismus bewahrt.
Dass auch in Edkins Dokumentation Chinesen eine Rolle spielen, ist der kapitalistischen Wirklichkeit geschuldet, kein Kontinent wird von den Chinesen so aggressiv besiedelt wie Afrika. Dass der Film am gleichen Tag Premiere feiert wie Kelly Reichardts »First Cow«, ist sicher keiner, hatte der neue künstlerische Leiter der Filmfestspiele Carlo Chatrain doch angekündigt, jeden Tag eine Geschichte erzählen zu wollen.
Die Neuinterpretation des Westerns wird mit dem Debütfilm des griechischen Regisseurs Georgis Grigorakis noch fortgesetzt. »Digger« erzählt die Geschichte von Nikitas, dessen Hütte im Wald Films fast von einer Schlammlawine begraben wird. Der Erdrutsch ist Folge des rücksichtslosen Raubbaus an der Natur, denn in den Wäldern, in denen der Bauer zurückgezogen lebt, gräbt ein internationales Konsortium mit seinen »Monstern« nach Erzen. Nikitas ist die letzte Bastion. Nur weil er sein Grundstück nicht verkaufen will, kann der gesamte Berg nicht abgetragen werden. Als sein Sohn Johnny das erste Mal nach zwanzig Jahren mit seinem Motorad auftaucht, gerät das Leben des widerspenstigen Bauern in Bewegung.
Wer meint, dass man in Griechenland keinen Western drehen kann, ignoriert, dass die Winnetou-Filme zu nicht unwesentlichen Teilen im ehemaligen Jugoslawien gedreht wurden. Die weiten südosteuropäischen Landschaften eignen sich vorzüglich für Cowboy-Fantasien. Hier wird das Sujet aber in einen dichten Wad verlegt. Es ist daher eher die Idee des Lonesome-Cowboy, mit der Grigorakis clever spielt und so mit einem schon fast totgesagten Genre eine Geschichte aus der europäischen Gegenwart erzählt.
[…] sondern schon immer gibt. Auch im Wilden maskulinen Westen. Asiatische Cowboys – why not. Mit Kelly Reichardts Trapper-Film »First Cow« hat es diese Idee schließlich auch schon ins Kino […]
[…] und Nora zu besuchen. Die ist inzwischen mit dem jüdisch-amerikanischen Schriftsteller Arthur (John Magaro) verheiratet und lebt mit ihm East Village in New York. Als sich die beiden Freunde aus Kindertagen […]