Literatur, Roman
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Gewaltiger Forscherdrang

© Thomas Hummitzsch

Das nachgereichte Debüt von Hanya Yanagihara ist ein abgrundtiefer Dschungel von einem Roman. Man hält mit diesem Buch einen mitreißenden Abenteuerroman in den Händen, den man auch als anregende Parabel auf die Eroberungs- und Zerstörungswut des Menschen lesen kann und der letztendlich ein monströses Geständnis ist.

Opa‘ivu‘eke ist u‘ivuanisch und bedeutet »Tier mit dem Steinrücken«. So werden auf U‘ivu und seinen Nebeninseln Schildkröten bezeichnet, die dort besonders verehrt werden. Denn es heißt, dass die erste aller Opa‘ivu‘ekes vor dem Beginn aller Zeiten den Gott des Wassers mit dem Gott der Sonne bekannt gemacht hat, aus deren Verbindung drei Kinder hervorgegangen sind – die Inseln U‘ivu, Ivu‘ivu und Iva‘a‘aka. Auf diese Inseln verschlägt es Anfang der 1950er Jahre den Arzt und Wissenschaftler Norton Perina, der von seinen Studien mit Mäusen im heimischen Labor gelangweilt ist. Er wird an den Anthropologen Paul Joseph Tallent vermittelt, mit dem er in die Südsee reist, wo sie gemeinsam mit Tallents Assistentin Esme Duff nach einer anderen Gesellschaft suchen, nach einem Volk, »das unserer Zivilisation unbekannt ist beziehungsweise dem unsere Zivilisation unbekannt ist«.

Auf diese Ankündigung folgt ein Abenteuer- und Forscherroman, wie er lebendiger kaum sein kann. Man begibt sich gemeinsam mit dem Forscherteam und seinen einheimischen Trägern in den scheinbar undurchdringlichen Dschungel, der voller Eigenarten und Wunder ist. Sie stoßen auf Früchte, die sich bewegen, auf Bäume, die atmen, und auf Süßwasserflüsse, die nach Ozean schmecken. Sie stoßen auf einige nackte Mikronesier, die sich geistesabwesend im Dickicht verstecken. Voller Wissensdurst befragen Tallent und Duff diese »Träumer«, doch was sie hören, verstört sie zutiefst. Denn glaubt man den Aussagen der rüstigen Ureinwohner, dann haben sie das letzte große Erdbeben in der Region vor über 120 Jahre miterlebt. Tiefer im Dschungel finden die Forscher ihr unbekanntes »Volk der Bäume«, deren Verhaltensweisen Tallent und Duff geduldig beobachten und protokollieren. Perina ist von den pennälerhaften Studien seiner Begleiter gelangweilt. Er sieht sich selbst im Dorf um und beobachtet Rituale, die seine Bewertung ethischer und moralischer Standards nachhaltig verändern. Vor allem aber entdeckt er, dass einige Inselbewohner deutlich länger leben als man erwarten sollte. Er vermutet das Geheimnis des ewigen Lebens in den heimischen Schildkröten und wird für seine Entdeckung später einen Nobelpreis erhalten.

Hanya Yanagihara. Das Volk der Bäume. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Hanser Berlin 2019. 480 Seiten. 25 Euro. Hier bestellen

»Das Volk der Bäume« ist das nachgereichte Debüt von Hanya Yanagihara, die mit »Ein wenig Leben« eines der besten und meistdiskutierten Bücher der letzten Jahre geschrieben hat. Im Mittelpunkt dieses zeitlosen New-York-Romans steht der versehrte Rechtsanwalt Jude St. Francis, dessen erschütternde Biografie in Rückblicken zusammengesetzt wird. Das Buch enthält die furchtbarsten Grausamkeiten und zugleich die zärtlichsten Liebesbeweise, die man sich vorstellen kann. Eine Mischung, die die Leserschaft tief gespalten hat. Während die einen die ebenso abgründige wie berührende Erzählung in den Bann zog, fühlten sich die anderen von den Extremen manipuliert. Ähnlich erging es Jonathan Littell mit »Die Wohlgesinnten«, A. M. Homes mit »Das Ende von Alice«, Bret Easton Ellis mit »American Psycho« oder Vladimir Nabokov mit »Lolita«.

Es gehört zur außerordentlichen Gabe der leitenden Redakteurin des Stilmagazins der New York Times, Szenen größter Grausamkeit in einem so nüchternen Ton zu beschreiben, dass man das atemlose Staunen darüber, das so etwas möglich ist, hinter jedem Wort hört. Das klingt schon in diesem bereits 2013 in den USA erschienenen Debüt an, das nicht nur ein mitreißender Abenteuerroman, sondern auch eine anregende Parabel auf die Eroberungs- und Zerstörungswut des Menschen und ein monströses Geständnis ist.

Die Erzählung hat die Gestalt der autobiografischen »Erinnerungen« des fiktiven Nobelpreisträgers Norton Perina, bearbeitet und herausgegeben von einem Freund, der den Kontakt zu dem inhaftierten Arzt hält. Denn der sitzt, wie man einer kurzen Agenturmeldung zu Beginn des Romans entnehmen kann, wegen sexueller Nötigung im Knast. Die Geschichte um diesen Fall verschleiert der zurückblickende Arzt, dessen selbstgefälliger Erzählung man auf den Leim geht. Statt von den eigenen Verfehlungen erzählt er, wie die vergessenen Südseeinseln von Hasardeuren und Pharmakonzernen zerstört werden und er aus schlechtem Gewissen nach und nach über zwanzig Inselkinder adoptiert. Darunter auch den dickköpfigen Viktor. Dieser Junge beziehungsweise Perinas fatale Hingezogenheit zu ihm und anderen Adoptivkindern werden dem Arzt zum Verhängnis und den Kindern zum Martyrium.

Dieser Beitrag erschien im Rolling Stone Ausgabe 2/2019.

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