Zweifelsohne gibt es Bücher, die verzaubern. Aber kann man das auch über eine Lesung sagen? Einige Gedanken zur Premiere von Anna Giens neuem Roman »Paris・Rot« im Roten Salon der Berliner Volksbühne.
Vorwort: Kritiker:innen sind auch Menschen. Beziehungsweise: Kritiker:innen sind auch Menschen! Sie sind eitel und verführbar, vielleicht sogar mehr als andere.
Vor einer Woche erreicht mich auf Instagram ein Foto, mit dem mich Anna Gien zur Buchpremiere ihres neuen Romans »Paris・Rot« einlädt. Neben einem kurzen Ankündigungstext und dem Buchtitel ist die Autorin in einem schwarzen Kleid mit Knopfleiste auf dem Boden liegend zu sehen. Das Bild erfüllt nicht wenige Kriterien der Verführung. Gien spielt mit darauf mit Vorstellungen von Sinnlichkeit, ohne dass man sie darauf festlegen könnte.
»Assoziationskino« nennt Gien an anderer Stelle diese Funktionalitäten, »Diskurstheater« das Spiel mit dem Spektakel. Gemeinsam mit der Autorin Marlene Stark schrieb sie schon in dem Roman »M«, der gerade als handliches Paperback neu aufgelegt wurde, über den männlichen Blick, der die Welt dominiert. In ihrer Einladung ermächtigt sich die 32-jährige Berlinerin dieses Blickes, spielt damit und führt mit charmanten Lächeln vor, welche Macht er (selbst im digitalen Raum) hat, wenn sie ihn als Instrument einsetzt.
Eisiger Wind zieht durch Berlins Straßen, als Gien am Montagabend ihr neues Buch präsentiert. Das »Assoziationskino« ist dabei fest mit eingeplant. Das Setting könnte nicht perfekter sein. Der Verlag lud in den Roten Salon der Berliner Volksbühne, Gien tritt in einem flammend roten Kleid auf die Bühne, um ihren Roman »Paris・Rot« vorzustellen. Es fehlte eigentlich nur noch das »Gitchie, gitchie, ya-ya, da-da« aus »Lady Marmelade«, dem Titelsong von Baz Luhrmanns Musicalfilm »Moulin Rouge«, um hier alles auf ROT zu stellen.
»Ein Mädchen mit vielen Namen hat Zuflucht gefunden in einem Zimmer des Hotel D’Avalon. Nach einem Ereignis der Zerstörung wurde sie zurückgelassen – und alles, was ihr bleibt, ist ihr Traum von einer anderen Welt: Paris«, heißt es auf den Seiten des März Verlags zum Roman. Dessen erstes Kapitel endet mit dem Satz »Dies ist die Nacht, in der Paris vor den Fenstern dieses Zimmers unterging.«
Es geht offenbar um ein Mädchen in Paris, das eine Art Weltuntergang überlebt. Was ist das? Klimaroman? Dystopie? Oder Geschichtsroman? Ich weiß es nicht. In dem Moment, in dem Anna Gien die ersten Worte aus ihrem Roman liest, habe ich noch keine einzige Zeile gelesen. Dieser Text ist deshalb keine Literaturkritik, sondern ein Erfahrungsbericht., der von der Wirkung gelesener Worte sowie ihrer Autorin und Interpretin handelt.
Im ersten Teil der Lesung gesteht die Ich-Erzählerin, dass sie immer zu früh und zu spät an den Orten in der Stadt sei, von deren Untergang in diesem Roman die Rede sein wird. Im Gegensatz zu ihrer Protagonistin, die – glaubt man den Kapitelüberschriften im Buch – vielleicht Madeleine, Camille, Ophélie oder Ora heißt, ist Anna Gien immer genau richtig, nicht nur im Rhythmus der Syntax, sondern auch im Vibe des Abends, der weniger Lesung als vielmehr immersives Spektakel ist.
Der Text trägt in ein dystopisch-surreales Paris, wo es – glaube ich meinen hektisch-verträumten Notizen – »dunkelrot geschminkte Münder«, die sich begegnen, »Brüste wie Geisterbahnen« und »zerstörte Fassaden« gibt. Und in der die Erzählerin mit einem »Prinzessinnengefühl« irgendwie am »Nullpunkt der Dinge« angelangt. Das klingt skurril genug, um zu ahnen, dass man es hier nicht mit einem der vielen Midcult-Romane zu tun hat, sondern mit einem avantgardistischen Text, der etwas wagt.
Ob er das Versprechen hält, kann ich nicht sagen, das Bedarf der aufmerksamen Lektüre, aber der gelesene Text hat einen unverkennbaren Drive, einen Sound, der sich im Ohr festhakt, der Spuren hinterlässt und nachwirkt. Bestärkt wird das durch einen akustischen Zufall. Denn während von der Volksbühne die Bässe von Florentine Holzingers »Göttlicher Komödie« durch die Wände dringen, versinkt man im angrenzenden ROTEN Salon in Giens Lesung. Das Dröhnen von nebenan springt auf die untergehenden Pariser Stadt- und Seelenlandschaften über, deren Brummen man plötzlich zu hören meint.
In »Paris・Rot« soll es auch um das Begehren der Ich-Erzählerin gehen, der Untertitel »Ein dunkler Traum von der Erotik der Einsamkeit« verweist auch auf Paris als Stadt der (käuflichen) Liebe. Ein Porträt dieses Gewerbes hat ebenso dystopisches Potenzial wie der Weltuntergang. Es kommt aber anders.
Ein »Whorewow Dictionary«, das Gien abschließend mit dem amerikanischen DJ und Musikproduzenten Eric D. Clark dialogisch inszeniert, spielt vergnügt mit der Kultur der Bezeichnung willfähriger Damen und da taucht dann doch noch ein verklausulierter Hinweis auf »Lady Marmelade« auf. »Gutschiwutschi, Dada, Yaya, cry me a river ah-ah, with your cum covered sexy back, you glitzy Whorewowow«, heißt es da. Ob das schon bittere Ironie oder noch ein höchst ambitioniertes Spiel mit Aspekten von Sinnlichkeit und Feminismus ist, bleibt offen.
Mit Musikschnipseln und an die Wand geworfenen Bildern, die Anna Gien mit einem Rotstift während der Lesung umgestaltet, macht sie aus dem Roten Salon eine Stunde lang eine transzendente Zeitkapsel, die nicht einen Moment, sondern jeden Moment in sich einschließen will. Immer wieder schaffen Einspieler neue Atmosphären, während Anna Gien von der Bühne herab charmant ihr Publikum bezirzt. Sie spielt mit den Haaren, wirft verträumte Blicke, kurzum: Anna Gien zeigt sich als Meisterin des Assoziationskinos. Das Publikum verfolgt gebannt diese literarische Verführung.
Der gelesene Text verspricht Tiefe, in den Passagen schwingt etwas Archaisches und organisches mit. Er wirkt wie ein Spiegel der Welt, der das Innere nach außen und das Äußere nach innen wendet. Eingewebt sind immer wieder französischsprachige Wendungen, die assoziativ den Handlungsort Paris und die große französische Kultur aufgreifen. Der Rote Salon wirkt längst wie Rimbauds »Trunkenes Schiff«, die Zuhörer gleiten unwiderstehlich in diese unbedingte Geschichte.
»Ist das noch Proust oder schon Baudelaire?« lese ich, der Trance dieses Abends entkommen, skeptisch in meinen Notizen. Was auch immer in mir vorgegangen ist, als ich das notiert habe, unbeeinflusst von Giens Inszenierung war es nicht. Und doch muss ein Text schon tragen, um derlei Gedanken und einen solchen Taumel hervorzurufen. Das, was am Montagabend in Berlin zu hören war, trägt!
Wenn dieser Text keine Kritik ist, was ist er dann? Vielleicht der Versuch, die Sinnlichkeit dieses Abends zu fassen zu bekommen, ohne sie übereilt als manipulativ zu diskreditieren. Denn vielleicht war das auch einfach nur eine geschickte Form von Assoziationstheater, auf der Basis von einem Text, der viel verspricht.