Literatur, Roman

Wer oder was ist noch der Mensch?

© Thomas Hummitzsch

Ben Lerner geht in seinem Roman »22:04« den Fragen nach Identität und Kollektivität in Zeiten von Anpassung und Individualismus nach. Jonathan Franzens DDR-Roman »Unschuld« ist auch eine Reflektion über die Hypokrisie im Internet-Zeitalter. Aravind Adiga hält in »Golden Boy« der indischen Gesellschaft einmal mehr den Spiegel vor.

»Golden Boy« von Aravind Adiga: Cricket ist in Indien mehr als nur ein Spiel. Für die einen besitzt der Sport »die magische Kraft, Menschen aus der Gosse zu holen«, für die anderen ist das vielversprechende Milliardengeschäft der »Sieg der Zivilisation über den Instinkt«. Einen solchen will auch Mohan Kumar einfahren. Deshalb verwettet er die Zukunft seiner beiden Söhne Radha und Manju, die als hoch aussichtsreiche Cricket-Talente auf Entdeckung hoffen, an einen windigen Geschäftsmann.

Aus dem Englischen von Claudia Wenner. C.H.Beck Verlag. 21,95 Euro
Aus dem Englischen von Claudia Wenner. C.H.Beck Verlag. 21,95 Euro

Der ehemalige Journalist Adiga hat für seinen neuen Roman viele Nachwuchsspieler und Väter interviewt, seine Figuren setzen sich aus den Erzählungen dieser Menschen zusammen. Seine Geschichte der beiden Cricket-Brüder ist eine indische Allerweltsgeschichte, unzählige Zwölf- bis Vierzehnjährige in Indien machen durch, was Radha und Manju erleben. Trainiert werden die Kumar-Brüder von Cricket-Genie Tommy Sir, der hofft, in einem der beiden Jungs das Ausnahmetalent seiner Karriere zu entdecken.

Auch Javed Ansari könnte ein solcher »Golden Boy« sein, bis der Sohn eines vermögenden muslimischen Geschäftsmanns aus dem Glücksspiel aussteigt. Er entwickelt sich von Rahdas härtestem Konkurrenten zu Manjus engster und dessen Mission gefährdender Bezugsperson. So wie Chad Harbach in seinem großen Baseballroman Die Kunst des Feldspiels die amerikanische Gesellschaft reflektierte, spiegelt Man-Booker-Preisträger Aravind Adiga (Der Weiße Tiger) im Cricket eindrucksvoll die indischen Lebensverhältnisse. In dieser Welt gibt es keine Sieger, sondern nur von der auferlegten Selbstausbeutung zerstörte Verlierer.

Jungs wie die Kumars seien viel zu jung, um all die Erwartungen zu erfüllen, die man in sie steckt, erklärte Adiga im Interview mit uns. »Für ein paar Wochen werden sie zu Sternen am Cricket-Himmel gemacht, treffen etablierte Spieler und tauchen in den Nachrichten auf, doch dann werden sie wieder vergessen. Sie denken dann, dass sie selbst daran Schuld sind, werden aggressiv oder greifen zum Alkohol. Um die indische Mittelklasse zu unterhalten, opfern wir die Existenzen dieser Jungs, die übrigens meist aus armen Verhältnissen stammen. Das ist doch eine Katastrophe. Statt sie zu Nachrichten zu machen, sollten wir sie lieber zur Schule schicken, damit ist ihnen mehr geholfen. Cricket ist zu einer Groteske verkommen, zu einem Monster, das all diese Jungs verschlingt.«


»Unschuld« von Jonathan Franzen

Wenn man den großen amerikanischen Roman neu erfunden hat, kann man danach nur den Griffel zur Seite legen oder am Weltroman basteln. Jonathan Franzen hat sich für den Weltroman entschieden. In seinem neuen Meisterwerk lässt er die Protagonisten über drei verschiedene Kontinente und durch 35 Jahre Weltgeschichte mäandern, um eine Antwort auf die sie umtreibende Frage zu finden, ob es nicht vielleicht doch ein moralisches Vergehen gibt, das aufgrund seiner Alternativlosigkeit gerechtfertigt ist.

Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell & Eike Schönfeld. Rowohlt Verlag 2015. 26,95 Euro.
Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell & Eike Schönfeld. Rowohlt Verlag 2015. 26,95 Euro.

In Zeiten von Frauenbewegung, friedlicher Revolution und Onlinespionage (er)leben Franzens Charaktere die Katastrophe namens Familie sowie den erbitterten Kampf der Geschlechter. Sie haben dabei jeweils eine minderschwere bis schwere Schuld auf sich geladen und laufen nun ihrer Sehnsucht nach Unschuld ebenso verzweifelt wie verbissen hinterher.

Die selbstironische Purity »Pip« Tyler etwa hat sich des Vergehens schuldig gemacht, das eiserne Schweigen ihrer manisch-depressiven Mutter über ihre Herkunft mit dem Verlassen ihres Dunstkreises zu beantworten. Bei einem Praktikum beim »Sunlight Project«, der Enthüllungsfabrik des deutschen Whistleblowers Andreas Wolf, hofft sie, die ihr verwehrten Hinweise zu ihrem Vater und ihrer Familie zu finden. Dieser ruhmsüchtige König des Enthüllungsgeschäfts ist ein Neffe von Markus Wolf, dem ehemaligen Chef des DDR-Auslandsgeheimdienstes. Als ehemaliger Dissident deckt dieser vermeintliche Saubermann »die unendliche Vielfalt der menschlichen Schlechtigkeit« auf und stellt zugleich sicher, dass seine eigenen schmutzigen Geheimnisse im Dunkeln der Bits und Bytes verborgen bleiben. Und tatsächlich könnte sich Wolf vollkommen sicher fühlen, wäre da nicht dieser eine schwache Moment im November 1989 gewesen, als er dem amerikanischen Reporter Tom Aberant von dem unentdeckten Verbrechen erzählte, dass er Jahre zuvor aus Liebe begangen hat. Natürlich hat auch der Journalist Leichen im Keller, die ihm keine Ruhe und Wolfs Geständnis fast vergessen lassen.

Wie schon in Die Korrekturen und Freiheit führt uns der sprachgewaltigste amerikanische Gegenwartsautor hinab in die finsteren Verließe der menschlichen Seele, wo an der individuellen Unzulänglichkeit die größten Hoffnungen zerschellen und das eigene Schuldbewusstsein eine alles Vertrauen vernichtende Paranoia gebiert. »Nichts, was ein Mensch aus Liebe tut, kann falsch sein«, heißt es im Roman. Falsch vielleicht nicht, aber verheerend!


»20:04« von Ben Lerner

Abschied von Atocha hieß der hochgelobte Debütroman des New Yorker Schriftstellers Ben Lerner, in dem er einen amerikanischen Nachwuchskünstler im spanischen Exil über sein Dasein als Autor nachdenken ließ. Stilistisch brillant und federleicht erzählt wurde diese mit autobiografischen Zügen ausgestattete Satire auf die Postmoderne zum Geheimtipp der literarischen Bohème. In seinem neuen Roman dreht Lerner weiter am Rädchen der selbstreferentiellen Metafiktion.

Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag. 19,95 Euro
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag. 19,95 Euro

Sein Ich-Erzähler Ben ist ein junger Autor aus Brooklyn, der für seinen ersten Roman viel Kritikerlob erhielt und nach der Publikation einer Erzählung im New Yorker-Magazin über seinem zweiten Roman brütet. Die Hoffnungen und Erwartungen der literarischen Welt sind hoch, noch bevor er ein Wort geschrieben hat. Lerners aufstrebender Erzähler könnte am literarischen Firmament leuchten, wenn der zweite Roman den überraschenden Erfolg des ersten bestätigen würde. Seine Agentin legt ihm nahe, die vieldiskutierte Erzählung zu einem Roman über literarische Hochstapelei auszuarbeiten, weil es einfacher sei, »die Idee für dein nächstes Buch zu versteigern, als das, was du dann tatsächlich schreibst«. Dies versucht Lerners Erzähler zunächst leidlich. Er fälscht literarische Korrespondenzen und ahmt Walt Whitmans nationalpoetologische Grasblätter nach. Bald aber beschließt er, seine Erzählung »nicht zu einem Roman über literarischen Betrug, über das Fälschen der Vergangenheit, sondern zu einer tatsächlichen Gegenwart voller mehrfacher Zukünfte zu erweitern«.

Diese literarisierte Gegenwart hält man mit 22:04 in der Hand. Es ist die Geschichte eines Alter Egos, dem die eigene, mannigfaltig bedrohte Existenz immer wieder ein Strich durch das Schreiben macht. Die Verlockung, den Autor Lerner für den Erzähler Ben zu halten, ist entsprechend groß. Bestechend ist vor allem die zwischen Ironie und Zynismus schwankende Prosa. Ben Lerner wagt es, die Grenzen des Sagbaren zu überschreiten, um das Verständnis der komplexen Wirklichkeit zu erweitern. Die neurotische Selbstreflektion des Künstlers ist eingebettet in die intellektuelle Interpretation der New Yorker Gegenwart, mittels der er Querverbindungen zu Teju Coles Stadtsoziologie, Naomi Kleins Globalisierungskritik und Susan Sontags Kulturästhetik herstellt. Vor allem aber wirft Lerners unaufgeregte Sebald’sche Prosa die Frage nach Identität und Kollektivität in Zeiten von Anpassung und Individualismus auf. Das ist große Literatur.