Allgemein, Literatur, Roman

Häuptling mit Basecap

Tommy Oranges fulminanter Debütroman »Dort Dort« wird selbst von Barack Obama empfohlen. Sein vielstimmiger Roman lebt von der immensen Authentizität der Figuren und dem unglaublichen Punch der Erzählung.

Einen Indianer stellt man sich anders vor. Statt langer Haare, Federschmuck und Lederweste trägt Tommy Orange kurze Haare, Basecap und T-Shirt. Er ist der lebende Beweis, dass das herkömmliche Bild der Nachkommen amerikanischer Ureinwohner nicht mehr als ein schlechtes Klischee ist. Bevor der 37-jährige beschloss, ein Buch über das Leben der indigenen Bevölkerung in den USA zu schreiben, arbeitete er jahrelang in einem Gesundheitszentrum für Native Americans. Die Erfahrung als Sozialarbeiter steckt tief in ihm drin, das merkt man auch seinem Roman »Dort Dort« an. Er ist, ohne belehrend zu sein, voller Informationen zur Geschichte und sozialen Situation der indigenen Bevölkerung. Diese lebt, entgegen der weit verbreiteten Annahme, mehrheitlich nicht in Reservaten, sondern unter prekären Umständen in Amerikas Städten. Orange kennt die Herausforderungen dieser Menschen aus erster Hand. Die unterschiedlichen Erfahrungen der Nachfahren der amerikanischen Ureinwohner sind organisch mit seinem Roman verbunden.

Wie in einer griechischen Tragödie eröffnet ein kollektives Wir den Roman und erzählt in Schlaglichtern von der kompromisslosen Vernichtung der indigenen Kultur. So führt dieser Prolog von den Massakern der weißen Kolonisatoren über die Reduktion der Natives auf einen gefiederten Kopf zum Fernsehtestbild, in dessen Zentrum dieser Kopf im Fadenkreuz steht. Dieser Auftakt fährt wie der Donnerschlag in den Leser, von dem Booker-Preisträger Marlon James auf dem Buchumschlag spricht. »Ich bin nicht einmal davon ausgegangen, dass das die Natives selbst wissen. Ich musste viel recherchieren, mich intensiv mit den städtischen Native-Communities auseinandersetzen, und habe eine Menge von diesen Geschichten bei meinem Job aufgeschnappt«, so Orange.

Darin erklärt Orange aber vor allem, wie die indigene Bevölkerung in den Großstädten stranden und dort als Urban Indians enden konnte. »Aus freien Stücken« seien viele gekommen, um von vorne anzufangen, Geld zu verdienen, etwas Neues zu erleben. »Wir blieben, nachdem wir im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatten. Auch nach Vietnam. Wir blieben, weil die Stadt wie Krieg klingt, und den Krieg lässt man nicht zurück, wenn man einmal dort war«, liest man da.

»Um zu verstehen, was ein in der Großstadt gestrandeter Ureinwohner ist, muss man zurückgehen zur Politik der Umsiedlung und des Völkermords. Und wenn man bis dahin zurückgeht, muss man sich auch mit zahlreichen anderen Sachen befassen: etwa damit, wie in diesem Land von Anfang an über die indigene Bevölkerung nachgedacht wurde«, erklärt Orange diesen radikalen Ton. Denn er sieht durchaus Parallelen zwischen dem Menschenbild der Nazis und dem der weißen Amerikaner. »Das ist nicht weit entfernt davon, was die Deutschen von den Juden während des Holocausts hielten. Das sind die niedrigeren Menschen und wir müssen sie ausmerzen«, sagte er in einem Interview.

Photo by Gabriela Custódio da Silva from Pexels
Photo by Gabriela Custódio da Silva from Pexels

Orange gehört zur neuen Generation indigener Autoren, zu der auch Jake Skeets oder Cherie Dimaline zu zählen sind. Seinen Roman setzt er aus zwölf unterschiedlichen Perspektiven zusammen und feiert auf diese Weise die Vielfalt indianischen Lebens. Da sind etwa Opal Viola Victoria Bear Shield und ihre Halbschwester Jacquie Red Feather, die als Kinder von Native-Aktivisten in den siebziger Jahren die Insel Alcatraz besetzten; eine Zeit, die nicht spurlos an ihnen vorübergegangen ist. Ihre innere Distanz zur Native-Identität schlägt bei ihren Kindern und Enkeln ins Gegenteil um. Und während der junge Filmemacher Dene Oxendene indigene Lebensgeschichten mit der Kamera festhalten will, verbindet Tony Loneman sein Native-Dasein mit einer fatalen Perspektivlosigkeit. Die Geschichten dieser und anderer Figuren kulminieren beim Big Oakland Powwow, dem lokalen Kulturfestival der indigenen Bevölkerung, auf tragische Weise.

Jede seiner Figuren singt hier auf ihre Weise, als vielstimmiger Chor erklingt so vielleicht sogar die gesamte indigene Bevölkerung. Das gibt dem Roman nicht nur eine immense Glaubwürdigkeit, sondern auch einen unglaublichen Punch. Denn es wird nicht die romantisierte, all die Traumata ignorierende Geschichte der Indianer erzählt, sondern die der brutalen Reduktion der Ureinwohner Amerikas auf einen stummen, gefiederten Kopf, der erst den Buffalo Nickel ziert und in den dreißiger Jahren im Fadenkreuz als Fernseh-Testbild herhalten musste. »Doch wir sind, was unsere Vorfahren taten. Wie sie überlebten. Wir sind die Erinnerungen, die wir nicht mehr haben, die in uns leben, die wir spüren, die uns so singen und tanzen und beten lassen, wie wir es tun, Empfindungen aus Erinnerungen, die unerwartet in uns aufflackern und uns durchtränken wie Blut eine Decke, Blut aus einer Wunde von einer Kugel, die uns ein Mann in den Rücken geschossen hat, wegen unserer Haare, unseres Kopfes, weil ein Kopfgeld ausgesetzt war oder auch nur, um uns loszuwerden.«

Orange ist Sohn eines Cheyennen und einer weißen Amerikanerin, seine Figuren tragen autobiografische Züge. »Ich kann Ihnen eine Liste mit Details geben, die meinem Leben entnommen sind. Aber es gibt nicht eine Figur, die mir ähnlicher ist als eine andere.« Als Leser folgt man neugierig ihren verzweigten, langsam aufeinander zu laufenden Geschichten. Einen vielstimmigen Roman zu verfassen, in dem auch mehrere Generationen zu Wort kommen, sei sein Weg gewesen, gegen »die monolithische Vorstellung eines Natives« anzuschreiben, erklärte Orange dem britischen Guardian.

Mit seinem Debüt, an dem er sechs Jahre schrieb, hat er es auf so ziemlich jede englischsprachige Bestenliste geschafft.  Ethan Hawke, Darren Aronofsky, Margaret Atwood und Barack Obama gehören zu seinen begeisterten Lesern. Quasi über Nacht ist er mit »Dort Dort« zum Häuptling der jungen indigenen Autorengeneration geworden, die mit ihrer überwältigenden Prosa die tradierten Bilder indianischen Lebens zerschmettern.

Tommy Orange
Tommy Orange: Dort Dort. Aus dem Englischen von Hannes Meyer. Hanser Verlag 2019. 288 Seiten. 22 Euro. Hier bestellen

Der kryptische Titel erklärt sich damit jedoch nicht, sondern ist eine Anspielung auf die  amerikanische Schriftstellerin Gertrude Stein. Während seiner Recherchen stieß er in ihrem Debütroman »Drei Leben« auf eine Passage, die ihn nicht mehr loslässt. Sinngemäß schreibt Stein, dass es die Stadt ihrer Kindheit nicht mehr gebe, weil vieles abgerissen und neu gebaut worden war. Das Dort ihrer Kindheit, dieses »Dort dort« war nicht mehr da. Dafür steht es jetzt auf dem Titel von Oranges Debüts. »Ich habe schnell erkannt, dass es eine Parallele zwischen den Ebenen von Gertrude Steins Erzählung und der Erfahrung als Native gibt. Ich habe da so eine Resonanz wahrgenommen«, erinnert er sich.

Diese Parallele lässt Orange durch die Figur des jungen Filmemachers Dene Oxendene im Roman erklären: »Für die Ureinwohner dieses Landes, des ganzen amerikanischen Doppelkontinents, ist das alles neu bebautes, vergrabenes Ahnenland, Glas und Beton und Draht und Stahl, unwiederbringliche, bedeckte Erinnerung. Es gibt dort kein Dort.«

Das lokale »dort«, die urbane Umgebung, in der die indigene Bevölkerung in den USA inzwischen mehrheitlich lebt, lässt jedoch keinen Platz für die nostalgischen Orte der kollektiven Identität, für die »Empfindungen aus Erinnerungen«, die das zweite »Dort« bilden. Wie also mit den Traditionen der eigenen Community umgehen, die älter als das Trauma der Vernichtung und zugleich von diesem durchtränkt sind? Mit dieser Frage setzt sich Oranges Roman auseinander. Dafür taucht die Erzählung tief in den erbarmungslosen Alltag der Urban Natives ein. Die Erfahrung von Gewalt, Armut und Drogen spielen dabei eine zentrale Rolle, immer wieder keimen Hoffnungen auf, noch öfter platzen Träume. Dies spiegelt sich auch in den Figuren und ihren Lebenswegen. So lernen wir etwa zu Beginn Tony Lonemann kennen, einen jungen Mann mit fötalem Alkoholsyndrom, der beim blutigen Finale eine zentrale Rolle spielen wird. Seine Geschichte bildet den roten Faden, auf den Tommy Orange in souveräner Manier nicht nur weitere Geschichten indianischen Lebens fädelt, sondern diese auch ins Fadenkreuz der brutalen amerikanischen Identitätspolitik rückt.

Oranges größte Sorge sei gewesen, dass die eigene Community mit seinem Buch nichts anfangen könnte. Das Gegenteil ist der Fall. Inzwischen ist er einer ihrer wichtigsten Botschafter. Und erreicht zugleich all jene, die nicht auf der Ebene der persönlichen Erfahrung andocken können. Indem er sie mit den tief in der amerikanischen Alltagskultur verankerten Denkmustern konfrontiert, die bis heute die indigene Kultur auf einen gefiederten Kopf, den es zu jagen gilt, reduzieren. »Die Kugeln sind schon lange unterwegs. Seit Jahren.«

4 Kommentare

  1. […] Die Porträts werden nämlich von kurzen Aussagen ergänzt, in denen sich die fotografierten Personen zur aktuellen Situation im Land, zum amtierenden Präsidenten und zu ihren Ängsten, Sorgen und Hoffnungen äußern konnten. In Kombination mit den Bildern ertappt man sich dann selbst, wie man nicht selten dem Vorurteil des Erscheinungsbildes erliegt. Etwa wenn der smart aussehende Investor aus New York Trumps Politik als »fantastisch« preist und trotz der streitbaren Persönlichkeit zu dem Schluss kommt: »Ich kann mit ihm als Idiot leben, und dass er unausstehlich ist und engstirnig und womöglich ein Lügner, solange seine Politik so bleibt, wie sie ist.« Oder der ehemalige US Marine und ehemalige Vorsitzende der Navajo Nation nicht Trumps diskriminierende Politik beklagt, sondern sich fragt, wo der Stolz und die Selbstbestimmung der amerikanischen Ureinwohner hin ist. Deren größte Probleme seien ohnehin nicht der amtierende Präsident, sondern Drogenmissbrauch, Alkoholismus, Selbstmord und häusliche Gewalt, die nun auch bis in die Reservate vorgedrungen seien. Tommy Orange hatte zu diesem Thema unlängst einen umwerfenden Roman geschrieben. […]

  2. […] Normalität aber durchaus als ein solches zu lesen. Wollte man Vergleiche ziehen, dann läge der zu Tommy Oranges Roman »Dort, Dort« nahe, ein Gegenwartsroman, der anhand der Ereignisse rund um ein Powwow – ein inszeniertes […]

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