Gesellschaft, Politik, Sachbuch

Russland auf der Couch

In wohl gesetzten und zugleich scharfen Worten setzt sich der russische Autor Viktor Jerofejew mit seiner Heimat auseinander und bringt dem Leser Russland so greifbar nah, wie selten jemand zuvor.

Russland war einst das Traumziel der europäischen, künstlerischen Avantgarde. Moskau und Sankt Petersburg waren einstmals Zentren europäischer Intelligenz und kritischen Denkens. Inzwischen hat die allgemeine Beklemmung Russland längst fest im Griff. Zwischenzeitlich schien die politische Atmosphäre unter Ex-Präsident Dimitri Medwedew nicht mehr ganz so angespannt, wie unter der harten Hand Wladimir Putins, der inzwischen wieder mit eiserner Faust das Land führt.

Während dessen erster Präsidentschaft sind die unumstößlich klugen, gewitzten und um keinen Deut geschönten Texte des russischen Autors Viktor Jerofejew entstanden, die unter dem Titel Russische Apokalypse vorliegen. Einer Täuschung erliegt, wer meint, dass seine pointierten Essays aus diesem Grund unter diesem Titel erschienen sind. Zwar waren während der ersten präsidialen Amtszeit Putins diverse Untergangsszenarien an den russischen Himmel gezeichnet worden, doch Jerofejews Beobachtungen sind zu weiten Teilen völlig unabhängig vom ehemaligen KGB’ler auf dem Präsidentensessel.

Nichtsdestotrotz hat Putin dem modernen Russland seinen Stempel aufgedrückt. »Ich lebe in einem sich zersetzenden Leichnam«, heißt es daher gleich zu Anfang der Jerofejew’schen Reise auf die dunkle Seite Russlands, einem Seelentrip durch die politische und Geistesgeschichte einer Gesellschaft, die an den Verlockungen der Moderne zu zerbrechen droht. Jerofejew bedient sich dabei der historischen Verhältnisse, um das gegenwärtige Russland begreifbar zu machen. Alles was Russland daher heute zu seiner Rechtfertigung noch vorbringen könne, sei, »dass es sich früher noch schlimmer aufgeführt hat«, schreibt er.

BV_Jerofejew_Apokalypse_U1_bp:Jerofejew, de profundis U1
Viktor Jerofejew: Russische Apokalypse. Aus dem Russischen von Beate Rausch. Berlin Verlag 2009. 254 Seiten. 22,- Euro. Hier bestellen

Unweigerlich kommt bei Sätzen wie diesem die Frage auf, für welches Land dieses Argument nicht gelte? Ist es nicht ein Resultat der Errungenschaften von Aufklärung, Fortschritt und Moderne, dass die gegenwärtigen Verhältnisse die historischen Schatten verblassen lassen? Jerofejew würde dies sicher verneinen. Nicht die Verhältnisse, sondern die Menschen, die die Zeit mit Leben füllen, werfen Licht und Schatten und lassen manches frühe Elend vergessen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass auch die sozialen, gesellschaftlichen Verhältnisse in Jerofejews Texten eine wichtige Rolle spielen. So schreibt er sich von den institutionellen Rändern Russlands hinein in die russische Seele.

Hat man anfangs noch das Gefühl, der russische Autor schreibt ausschließlich über die mentale Lage seiner Heimat, beschleicht den Leser zunehmend das Gefühl, dass es der globale Zeitgeist ist, um den Jerofejews Essays aus verschiedenen Richtungen kreisen.

Und doch findet er immer wieder zu seiner Heimat und den Menschen in Russland zurück. Während sich andere Gesellschaften in den vergangenen Jahrhunderten emanzipiert haben, sei die russische in ihrer Duckmäuserhaltung geblieben, meint Jerofejew. Denn »besteht der russische Staat etwa nicht aus Menschen, also aus uns selbst? Verkaufen wir uns denn nicht selbst für dumm? Wie konnte es passieren, dass der Staat sich ungestraft erlauben kann, unzulänglich zu sein, und dabei immer neue Generationen von Untertanen verschlingt?« Statt Thomas Hobbes Leviathan herrscht in Russland Sozialdarwinismus. Was für Stalin die Ukrainer waren, sind für die Jelzins, Putins und Medwedews die Staaten des Kaukasus. Der Reflex der russischen Bevölkerung ist der Gleiche geblieben. Stillschweigen, solange man selbst verschont bleibt. Der viel versprechende Kapitalismus ist so zu einer Utopie des Leidens verkommen, der missliebige Personen – Journalisten, Geschäftsleute und Politiker – geopfert werden müssen.

So schreibt Jerofejew über Russland und die Russen, wie es schonungsloser kaum sein kann. Aus dem Herzen des Landes sticht er mit Worten seinen rasiermesserscharfen Dolch direkt ins russische Herz.

Wie viele tausend Seiten wurden in den vergangenen Jahren über den Rückfall der russischen Verhältnisse in Autokratie und Diktatur geschrieben. Jerofejews Texte werfen die Frage nach deren Sinngehalt und Wert auf. In einem Land, in dem jede Gewaltanwendung als »Phänomen metaphysischer Ordnung« erlebt wird, ist es fraglich, ob es jemals eine innere Befreiung davon gegeben hat.

Anna Politkowskaja beschrieb diese metaphysische Ordnung in ihrem Politischen Tagebuch mit den Worten: »So ein Land zu fürchten gibt es Grund genug.« Seit ihrem gewaltsamen Tod haben nur wenige Russen soviel Ehrlichkeit gewagt, wie Jerofejew es tut. Es bleibt zu hoffen, dass nicht auch er unter die Räder der metaphysischen Ordnung gerät.