Comic

Was man sich so erzählt

Zwei Jahre lang erschienen im Berliner Stadtmagazin zitty von Reinhard Kleist in Comicform gebrachte Legenden, die durch die Hauptstadt geistern. Nun sind die insgesamt 17 »Berliner Mythen« in einem Album erschienen.

Wer schnappt in Städten die meisten Geschichten auf? Nein, es sind nicht Journalisten, sondern Taxifahrer. Ob erfolgreiche oder gescheiterte Geschäfte, Affären oder Trennungen, Weltreisen oder Umzüge – all das beginnt und endet nicht selten im Taxi. Mit jedem neuen Fahrgast fährt die Aussicht auf eine neue Legende mit. Deshalb sind viele Taxifahrer schier unerschöpfliche Quellen, mit deren aufgeschnappten Geschichten man ganze Bibliotheken füllen könnte.

Das müssen sich auch der vielfach ausgezeichnete Berliner Comiczeichner Reinhard Kleist gedacht haben, als er mit Carlsen-Lektor Michael Groenewald und zitty-Redakteur Lutz Göllner am Konzept für die zwischen 2013 und 2015 im Stadtmagazin publizierte Comicserie Berliner Mythen gesessen hat. »Wir brauchten eben jemanden, der die Geschichten verbindet«, erinnert sich Göllner. »Ich hatte die Idee eines Zeitreisenden, aber Reinhards Taxifahrer ist dann doch besser gewesen.« So kam es, dass ein gewisser Ozan als redseliger Berliner Taxifahrer bald in ganz Berlin bekannt war. Er ist die zentrale Figur in der Serie, der fast immer eine unglaubliche Geschichte zum Zielort seiner Gäste parat hat. Und wenn er mal keine hat, dann bekommt er eine von seinem Fahrgast präsentiert.

So erfährt man von der Krankenschwester Elisabeth Kursian, die in den fünfziger Jahren zwei Männer umbrachte und diese in Einzelteilen über die ganze Stadt verteilte. Oder von dem amerikanischen Piloten Gail Halvorsen, der als »Onkel Wackelflügel« in die Berliner Geschichte einging, weil er seinen Abwurf von Schokolade mit einem wackeln seiner Tragflächen ankündigte. Zu den Berliner Mythen gehört auch die unglaubliche Geschichte der »Operation Gold«, einer von einem Doppelagenten aufgedeckten Spionageaktion der Amerikaner. Da sei er beim Zeichnen aus dem Kopfschütteln nicht mehr rausgekommen, gesteht Reinhard Kleist. »Was für ein Kindergarten sich da unter der Erde abgespielt hat und wie nah das Ganze dran war, einen dritten Weltkrieg auszulösen.«

Karte_BerlinerMythen

Neben diesen gut dokumentierten Erzählungen haben die Macher aber auch einige längst vergessene Legenden akribisch recherchiert und rekonstruiert. Etwa die der jungen Frau, die am 17. Februar 1920 aus dem eiskalten Landwehrkanal gezogen und lange Zeit für eine Tochter des russischen Zaren gehalten wurde. Weniger vergessen als vielmehr verdrängt wurde die unrühmliche Geschichte des Johann »Rukeli« Trollmann, einem Boxchampion der zwanziger Jahre, dem der von Nazis durchsetzte Boxverband alle errungenen Titel aberkannte und der Jahre später bei einem der makabren Schaukämpfe im KZ Neuengamme von einem SS-Kapo hinterrücks erschlagen wurde. Eine Geschichte, die an Kleists Comic Der Boxer erinnert, in dem er die Geschichte des jüdischen Boxkämpfers Hertzko Haft erzählt.

Für manche Legenden musste das Trio Kleist-Göllner-Groenewald etwas größere Zeitreisen vollführen. Da ist die der berüchtigten Blutlichtung im Grunewald, wo die gehobenen Kreise Berlins ihre Ehrenkonflikte austrugen, oder die der Spukvilla in Tempelhof, durch die die Geister von Napoleons der Grande Armée spuken sollen.

Andere Teile ihrer Comicserie, wie etwa die Fluchtgeschichte einer Mitarbeiterin des Berliner Tagesspiegels, wurden den Macher zugetragen. Sie ist eine der wenigen, die dem Taxifahrer im Laufe der Serien zufliegen und nicht umgedreht. Diese Erzählung von einer Liebe, die keine Grenzen kennt, steht exemplarisch für die vielen Fluchtgeschichten aus der geteilten Stadt. Kleist berichtet, dass er oft nach den kleinen persönlichen Geschichten hinter den Fakten gesucht habe. Er habe dabei festgestellt, »dass der Weg über das Menschliche dazu führen kann, dass man besser versteht, was in der Stadt passiert ist. Man begreift plötzlich, was so eine Flucht bedeutet oder wie der Kalte Krieg den Alltag eines Schuljungen verändert.«

Kleist-Boxer-Olympia

Die von Kleist illustrierte Berliner Legendenbildung umfasst auch Geschichten aus dem Musik-Business. Der Zeichner ist bekennender David-Bowie-Fan, natürlich musste auch eine Geschichte in die Serie, die sich um die Pop-Legende und die Hansa-Studios dreht. »Da ist natürlich ganz viel Legendenbildung dabei, aber das ist ja  auch das Schöne daran. Wenn die Legende spannender ist als die Wahrheit, druck die Legende«, erklärt der Zeichner. Zweifellos legendär ist die Geschichte des bis heute ungelösten KaDeWe-Raubes anno 2009, die Kleist aus der Perspektive der mutmaßlichen Täter und der Ermittler erzählt. Zu keiner anderen Geschichte der Serie gab es ein solch breites Medienecho, wie bei diesem in sechs Teilen erschienen Mythos.

Mit Kleist fand Göllner einen der besten Zeichner Deutschlands, der mit seiner Hauptstadtvariante der Walking Dead, der Vampirsaga Berlinoir, bereits einiges Vorwissen bezüglich der Legendenbildung in der Hauptstadt mitbrachte. Aktuell ist Kleist mit seinem Comic Der Traum von Olympia in aller Munde. Darin schildert er das tragische Schicksal der somalischen Sportlerin Samia Yussuf, die als Flüchtling bei der Überfahrt im Mittelmeer ertrank. Für die ergreifende Rekonstruktion ihrer Geschichte ist er auf der Leipziger Buchmesse mit dem Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis 2016 sowie dem LUCHS-Kinderbuchpreis 2015 ausgezeichnet worden, den Die Zeit und Radio Bremen vergeben. Vor wenigen Tagen wurde außerdem bekannt, dass er für Der Traum von Olympia auch den Gustav-Heinemann-Friedenspreis 2016 für Kinder- und Jugendbücher erhält. Zudem ist er beim Deutschen Kinder- und Jugendliteraturpreis, der im Herbst vergeben wird, mit dem Flüchtlingscomic auch noch im Rennen.

Berliner Mythen
Reinhard Kleist: Berliner Mythen. Carlsen Verlag 2016. 96 Seiten. 14,99 Euro. Hier bestellen

In einem Fall beteiligen sich die Macher der Mythen-Comics selbst an der Legendenbildung. Es ist eine einseitige Geschichte, die im Jahr 2064 spielt. Da sieht man, wie ein ergrauter Ozan einen Gast zum »Zentralen Flughafen« nach Tegel bringt und sich an die witzige Idee eines neuen Hauptstadtflughafens erinnert.

Zwischen 2013 und 2015 sind die gezeichneten Berlin-Legenden in der zitty erschienen. Dann wurde die Serie eingestellt. Dabei hätte es noch ausreichend Stoff gegeben, wie Göllner mit Verweis auf angebliche Sexpartys im Jagdschloss Grunewald oder Rucksackatombomben unter dem Flugfeld Tempelhof durchblicken lässt. »Berlin ist eine ziemlich geschichtsvergessene Stadt«, sagt Göllner und ergänzt, dass er gern »mehr durch die Jahrhunderte gesegelt« wäre, um noch ältere Geschichten vor dem Vergessen zu bewahren. So aber bleibt es bei den im gleichnamigen Comicband versammelten 17 Berliner Mythen, die so nicht in Vergessenheit geraten.

Ein wenig Hoffnung bleibt am Schluss dennoch. Reinhard Kleist räumt ein, dass er überlege, eine der Geschichten als lange Graphic Novel auszuarbeiten. »Ich kann aber noch nicht sagen, welche das ist.« Wir sind gespannt.

Eine kürzere Version dieses Textes ist auf den Comicseiten im Berliner Tagesspiegel erschienen.

2 Kommentare

  1. […] Texte bedienen sich bekannter, übersehener und erfundener Hauptstadtlegenden. Das erinnert an die gezeichneten Berliner Mythen, die im vergangenen Jahr erschienen sind. Das Comicalbum versammelt die von Reinhard Kleist für […]

  2. […] Berliner Zeichner, der neben Portäts von Fidel Castro und dem jüdischen Boxer Hertzko Haft auch Berliner Mythen – und dort übrigens auch schon David Bowie – ins Bild gesetzt hat, erzählt die Ziggie-Stardust-Jahre anhand zahlreicher Anekdoten, denen man seine Bewunderung, […]

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