Thomas Stuber überzeugt im Wettbewerb mit seinem formidabel besetzen Supermarkt-Epos »In den Gängen« und öffnet die Herzen der Zuschauer für die fleißigen Hände des Kapitalismus.
»Getränke kommen gut mit den Süßwaren aus, aber nicht mit Tiefkühl.« »Die Paletten sammelt Klaus nachher mit der Ameise ein.« »Lass dich nicht beim Naschen erwischen, sonst kannst du deinen Mantel gleich wieder abgeben.« Es sind Betriebsgeheimnisse wie diese, in die Bruno (Peter Kurth) seinen neuen Helfer Christian (Franz Rogowski) einweiht. So mürrisch, wie er ihn begrüßt, so schnell schließt er den stillen Frischling in sein Herz. Und obwohl sich der Neue beim Gabelstapler-Fahren anstellt, wird Bruno seinem Chef Rudi (Andreas Leupold) schon bald stecken, dass der Christian ein Guter ist.
Zu diesem Zeitpunkt hat man schon die sensationellste Szene des Films verpasst. Es ist ein spektakulärer Gabelstaplerwalzer, den Thomas Stuber in den Gängen des noch im Dunkel liegenden Großmarkts aufführen lässt. Vergleichbar ist diese Szene vielleicht nur mit dem berührenden Kuhglockenkonzert, das Paolo Sorrentino in seinem Geniestreich »Ewige Jugend« zur Aufführung bringen lässt.
Bruno ist so etwas wie die graue Eminenz des Großmarkts, in dem Christian neu anfängt. Überhaupt ist in dieser heiligen Halle des Konsums eine bunte Truppe illustrer Figuren versammelt, die in den Jahren der gemeinsamen Arbeit eine zusammengeschweißte Einheit gebildet hat. Neben den Uralt-Freunden Bruno und Rudi sind das Paletten-Klaus (Michael Specht), Pasta-Irina (Ramona Kunze-Libnow), Tiefkühl-Wolfgang (Henning Peker), Zigaretten-Jürgen (Matthias Brenner) und die Süßwaren-Marion (Sandra Hüller). Sie teilen sich die Gänge des Großmarkts auf. Die Regeln, die zwischen ihnen gelten, sind nirgendwo aufgeschrieben, aber alle haben sie verinnerlicht. Paletten-Klaus hat freie Fahrt in den Gängen, Zigaretten-Jürgen holt das Schachbrett raus, wenn Bruno in sein Büro kommt und dessen Fünfzehn (gemeint ist die 15-minütige Zigarettenpause) ist legendär.
Franz Rogowski, der in Christian Petzolds Transit einen eher misslungenen Berlinale-Auftritt hatte, glänzt in der Rolle des Neulings. Dabei kommt ihm der verschwiegene Charakter seiner Figur entgegen. Denn Christian ist einer, der eher beobachtet und diese Großmarktfamilie auf sich zukommen lässt. Seine Zurückhaltung passt zur Haltung der hier versammelten Wendeverlierer, die alle ihre verkorkste Geschichte mit sich herumschleppen, über die sie lieber alle hinwegschweigen, als darüber zu reden. Es weiß ohnehin jeder, dass bei den anderen im Leben nichts so läuft wie es in einer perfekten Welt sollte. Aber welche Welt ist schon perfekt. Deshalb schlagen sich alle irgendwie durch, keiner beklagt sich. Die innere Einsamkeit von Klaus, Jürgen und wie sie alle heißen kann man förmlich greifen. In der kitschigen Palmentapete im Aufenthaltsraum bekommt sie ihren festen Platz.
In den Gängen erzählt die Geschichte dieser in Zeit und Raum verlorenen Charaktere, die eine gemeinsame Vergangenheit teilen, sich an die Gegenwart klammern und doch keine Zukunft haben. Degradiert zu Lagerarbeitern ist ihr Ziel, Würde zu bewahren in einer Welt, die aus ihrer Sicht längst den Anstand verloren hat. Die Lebensmitteltonnen stehen Pate für ihren Zweifel am herrschenden System.
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Diese Gesellschaft der Nachtaktiven, die vor dem Aufgang der Sonne in den Gängen verschwindet und erst nach ihrem Untergang wieder aus diesen hervorkriecht, kann sich aufeinander verlassen. Sie passen aufeinander auf, ohne sich zu viel aufeinander einzulassen. Bei ihnen findet Christian sein neues Zuhause, ohne sich entblößen zu müssen. Und in Marion eine zarte Hoffnung.
Thomas Stuber hat den mit Abstand gefälligsten deutschen Wettbewerbsbeitrag vorgelegt, der in seiner konventionellen Erzählweise überzeugt. Die Rollen sind großartig besetzt, Franz Rogowski brilliert als in sich gekehrter Frischling. Die Weisheit »Stille Wasser sind tief« war selten so passend, wie bei dieser Figur. In den Gängen ist ein Lehrstück über den modernen Kapitalismus und die Verlorenheit des empathischen Menschen in ihm. Wer davon etwas verstehen will, sollte diesen Film sehen.
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