Seit Jahren schreibt Prix-Goncourt-Preisträger Mathias Énard an einem West-Östlichen Diwan der Moderne. In seinen Romanen überwindet er dafür Zeit und Raum. Gemeinsam mit der Comiczeichnerin Zeina Abirached lässt er nun auch die Dimension des Wortes hinter sich. Ein Gespräch über Flucht früher und heute, die Kraft der Liebe und Ènards Begeisterung für die Neunte Kunst.
Die Rahmenhandlung von »Zuflucht nehmen« spielt in Berlin. Sie haben Teile Ihres Romans »Kompass« in Berlin geschrieben. Wie stark ist die Handlung im Comic autobiografisch motiviert?
»Zuflucht nehmen« ist alles andere als ein autobiografisches Buch – auch wenn meine Erfahrungen in Berlin eine Rolle spielen. Als die vielen syrischen Flüchtlinge in Deutschland ankamen, 2012 und 2013, lebten meine Frau und ich im Prenzlauer Berg. Wir unterstützen als Teil einer Kiezinitiative einige syrische Familien aus der nahe gelegenen Flüchtlingsunterkunft. So konnte ich natürlich das Leben dieser Familien aus der Nähe kennenlernen, erfuhr von ihren Schwierigkeiten mit den Behörden, ihren Kämpfen mit der Sprache und vielem mehr. »Zuflucht nehmen« ist nichts dennoch eine fiktive Geschichte.
Sind Sie in Berlin auch auf Annemarie Schwarzenbach, ihre Reise mit Ella Maillart und ihren Roman »Flucht nach oben« gestoßen? Was hat Sie daran gepackt?
Ich kannte die Bücher von Annemarie Schwarzenbach und Ella Maillart schon lange vorher. Schwarzenbach als Person hat mich schon immer fasziniert. Sie ist ein Spiegelbild ihrer Zeit, ohne Frage – und eine starke Frau, antifaschistisch, reiselustig, Journalistin, Schriftstellerin, Liebhaberin, Nah-Ost-Expertin, die auf tragische Weise sehr jung ums Leben gekommen ist. Die Reise, die sie gemeinsam mit Ella Maillart 1939 unternommen hat, ist spannend. Beide wollten in die afghanische Provinz Nuristan reisen – Maillart hoffte, ihre Freundin mit der Reise von den Drogen und ihrer Depression befreien zu können. Das muss man sich mal vorstellen. Was für eine verrückte Idee, eine morphinabhängige Frau ausgerechnet in den Iran und nach Afghanistan zu bringen.
Die Schwarzenbach-Geschichte spielt zwar im Mittleren Osten, erzählt aber auch vom Kriegsausbruch in Europa. Schwarzenbach und Maillart tauschen sich bei der Betrachtung des Sternenhimmels über den vor dem Skorpion fliehenden Orion aus – sicherlich auch eine Metapher ihrer Flucht vor dem Europäischen Faschismus gemeint? Worin sehen Sie hier die Parallele zur Gegenwart?
Mich hat an dieser Reise schon immer der Wendepunkt interessiert, als Ella Maillart und Annemarie Schwarzenbach mit dem Hackin-Paar in Afghanistan sitzen und erfahren, dass Hitler Polen überfallen hat. Drei der vier Menschen, die da zusammensitzen, werden diesen Krieg nicht überleben. Und das Europa, in das Ella Maillart – die einzige, die den Krieg überlebt – zurückkehrt, ist nicht mehr dasselbe, das sie verlassen hat. Damals flohen die Europäer vor Faschismus, Krieg und Zerstörung. Heute sind es die Syrer.
Die Erzählung springt zwischen der Berliner Gegenwart während der so genannten Flüchtlingskrise und der Begegnung von Schwarzenbach und Maillart im Mittleren Osten Ende der dreißiger Jahre, als in Europa der Krieg immer näher rückt, hin und her. Was war der Gedanke dabei, diese beiden Erzählungen parallel zu führen?
Die Gegenüberstellung dieser beiden Erzählungen ermöglicht ihre jeweilige Auflösung. Beide sind Liebesgeschichten, beide handeln von Wendepunkten im Leben, beide reflektieren die gleiche dramatische Situation. Berlin war eine zerstörte Stadt, heute ist sie eine Welthauptstadt, in der so gut wie jeder leben möchte. Es ist keine 70 Jahre her, da bestand diese Stadt nur aus Ruinen. Das macht mir auch Hoffnung für den Wiederaufbau der syrischen Städte und die Renaissance der syrischen Kultur.
Was denken Sie über die europäische Flüchtlingspolitik? Sehen Sie hier eine positive Entwicklung seit Ihrem Aufenthalt in Berlin?
Europa hat es versäumt, eine gemeinsame Flüchtlingspolitik zu entwickeln. Europa hat sich damit begnügt, ein paar schreckliche Verträge mit der Türkei und mit Libyen zu schließen. Mehr denn je sterben Flüchtlinge im Mittelmeer und Europa gelingt es nicht, eine gemeinsame Antwort auf diese Situation zu finden.
Wie in Ihren anderen Büchern geht es auch hier um die Begegnung von Orient und Okzident, um das Bekannte und das Fremde, um Wissen und Vorurteile. Was ist Ihnen persönlich wichtig, wenn Sie Geschichten wie diese erzählen? Und inwiefern kann Literatur einen Beitrag zu Verständigung und Annäherung leisten?
Literatur und die Künste im Allgemeinen spielen in unserer Gesellschaft eine immer wichtigere Rolle. Die Nachrichtensender zeigen uns fortlaufend die Version einer extrem zersplitterten Welt. Einzig die Literatur und die Kunst können die Welt in all ihrer Komplexität vermitteln.
Im Zentrum beider Erzählungen liegt die Zärtlichkeit einer Liebesgeschichte. Die Liebe wird quasi zur Lupe, unter der Sie die Annäherung von Orient und Okzident betrachten. Das war auch schon bei »Kompass« der Fall. Was bedeutet die Liebe für die Erzählkunst, dafür, wie wir Geschichten schreiben und lesen?
Die Liebe ist zuallererst eine Konstante des menschlichen Daseins – eine Form des Verständnisses zwischen zwei Menschen. Sich zu lieben heißt sich zu begegnen, sich zu begehren, sich zu wünschen, den Versuch zu unternehmen, sich gegenseitig zu erkennen, sich für den anderen zu interessieren. Die Liebe ist auch der Ort des Missverständnisses, der Illusion – wie in der Zauberei.
Statt Liebe macht sich inzwischen oft auch Hass breit, wenn es um die Betrachtung der einen Kultur aus der anderen geht. Woher kommt dieser Hass?
Der Hass kommt von der Angst, die aus der Unkenntnis und eine gewissen sozialen Unsicherheit hervorgeht.
Karsten verliebt sich in Neyla, die sich in Berlin noch nicht zuhause fühlt. Was bedeutet Zuhause und Heimat für Sie? Wo sind Sie zuhause?
Ich denke, dass Integration, das Gefühl von Heimat oder Zuhause Zeit brauchen. Sie sind die Früchte eines inneren Gleichgewichts zwischen dem sozialen und wirtschaftlichen Wohlgefühl, der emotionalen und sprachlichen Integration, der Gewohnheit und der Familie. Viele einzelne Elemente spielen dabei eine Rolle. Ich zum Beispiel hätte in Berlin bleiben können – ich habe angefangen, mich dort zuhause zu fühlen, begann persönliche Routinen und die innere Zufriedenheit zu entwickeln, die uns das Gefühl von Zuhause gibt. Ich hätte aber auch genauso gut in Beirut oder in Damaskus bleiben können. Ich fühle mich in Barcelona zuhause, aber auch im Westen von Frankreich.
Es gibt nach zwei Dritteln des Buches eine Karte des Europäisch-Arabischen Raumes vor dem Hintergrund des Sternenhimmels. Alle Unterschiede sind hier »ausradiert«. Wie ist Ihr Blick auf die Europäisch-Arabischen Beziehungen?
Ich glaube wirklich, und ich kenne mich auch ein bisschen aus, dass die arabische Welt nicht sehr weit von Europa entfernt ist, auf alle Fälle weniger weit als man auf den ersten Blick denkt. Es gibt keinen Riss, keine brutale Grenze, aber es gibt dauerhafte Lösungen, die über den Balkan oder Türkei führen. Die Annahme, der Islam würde eine unüberwindbare Hürde darstellen, ist in meinen Augen ein schwerwiegender Irrtum. Die echten Hürden sind politischer Natur, und sie werden künstlich auf beiden Seiten des Mittelmeeres aufrechterhalten: von Diktatoren und ihren Anhängern, die ihre Macht behalten wollen, und von Europäern, die ein Interesse daran haben, dass diese Diktaturen bestehen bleiben.
Sprechen wir über den Comic. Wie fanden Sie und Zeina Abirached zueinander? Was mögen Sie an ihrem Stil und warum passt er gut zur Geschichte?
Ich kannte die Arbeiten von Zeina Abirached und hatte schon seit langem Lust, etwas für einen Comic zu schreiben. Zeina und ich haben viele Gemeinsamkeiten. Da ist Beirut, die arabische Sprache, die Begeisterung für Comiczeichner wie Hergé und so weiter. Das Szenario für »Zuflucht nehmen« haben wir gemeinsam geschrieben. Am Stil von Zeina mag ich diese offensichtliche Simplizität und den Sinn für Komposition, ihre Fähigkeit, mit der Grafik zu spielen und Lösungen zu finden, die die Codes der Neunten Kunst sprengen.
Wer von Ihnen hatte die Idee, aus der Geschichte einen Comic zu machen? Was hat Sie an der Idee so fasziniert?
Ich bin an Zeina herangetreten und habe ihr vorgeschlagen, zusammen zu arbeiten. Die Herangehensweise bei einem Comic ist natürlich eine vollkommen andere als beim Roman. Bilder sprechen auf eine ganz andere Art und Weise. Die Worte treten hinter das Bild zurück. Natürlich kann ich auch mit einem Roman all das erzählen. Aber die Art und Weise, wie erzählt wird, ist im Comic eine andere. Und wir haben es natürlich mit einem anderen Publikum zu tun.
Haben Sie eine Affinität zu Comics?
Seit ich klein bin, lese ich mit großer Begeisterung Comics. Für die Tageszeitung Le Monde habe ich sogar eine Weile als Comickritiker gearbeitet. Mit Pierre Marquès habe ich auch vor Jahren schon einmal einen Comic gemacht, der allerdings nicht ins Deutsche übersetzt wurde.
Welche Comics oder Zeichner haben Sie geprägt?
Natürlich sind die großen Meister meiner Kindheit und Jugend, Zeichner wie Hergé, Hugo Pratt oder Jean Giraud immer noch sehr wichtig für mich. Das gilt aber auch für Zeichner und Szenaristen wie François Schuiten, Christophe Blain oder David B, die aktuell aktiv sind. Ich liebe aber auch die – wenn man sie so nennen möchte – deutsche Comicszene: Ulli Lust, Nicolas Mahler oder Barbara Yelin zählen hier zu meinen Favoriten. Das faszinierende an der Comicszene ist, dass sie heute viel diverser und facettenreicher ist als damals. Man findet inzwischen alle Genres, selbst die dokumentarische Form.
Hatten Sie beim Betrachten der Zeichnungen von Abirached Momente, die Sie selbst auch überwältigt haben? Wo Sie dachten, das kann man nicht erzählen, das muss man zeichnen?
Oh, natürlich – es sind einfach zwei unterschiedliche Medien. Als mir Zeina die ersten Seiten zeigte, war ich war beispielsweise begeistert davon, wie es ihr gelungen ist, eine richtige Tonspur mit lautsprachlichen Signalen in ihren Zeichnungen zu verankern. Es war völlig unmöglich, sich vorher ein ungefähres Bild ihrer grafischen Lösungen zu machen. Und jede einzelne Zeichnung ist von einem überraschenden Zauber.
Zu Beginn heißt es, dass man sich dem Buddhismus nicht anvertraut, sondern dass man bei ihm Zuflucht sucht. Wo finden Sie persönlich Zuflucht – vielleicht auch vor den Verhältnissen, in denen wir gerade leben?
Ich finde sie sehr schön, diese Zuflucht im Buddhismus. Da bittet sie niemand, zu glauben, sondern zu experimentieren. Der Buddhismus spricht nicht den Glauben an, sondern die Erfahrung. Diese Zuflucht ist kein ferner abstrakter Ort. Es liegt an jedem einzelnen, sich für diesen Ort zu entscheiden; man muss ihn nicht suchen. Dieser Unterschied ist entscheidend. Nicht nur für mich, sondern auch für uns alle. Der echte Fluchtpunkt ist der Andere, der Gegenüber. Die echte Zuflucht vor der Gewalt ist der Glaube an den Anderen. Es gibt diese Zuflucht, weil in mir auch der Andere ist und ich ein Teil des Anderen bin. Wir alle teilen diese Zuflucht. Man muss nur zugreifen.
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