Artbooks, Fotografie

Das ganz normale Amerika

Der Schweizer Fotograf Michael von Graffenried hat über 15 Jahre den Alltag in der amerikanischen Kleinstadt New Bern begleitet. Er zeigt den Alltag der Durchschnittsamerikaner, die eher neben- als miteinander leben.

Hat man jemals schon etwas von New Bern gehört? Wahrscheinlich nicht, dabei wurde in der 30.000 Einwohner zählenden Stadt die Pepsi-Cola erfunden. Dass die Stadt einen deutschen Wikipedia-Eintrag hat, ist aber nicht auf das Süßgetränk zurückzuführen, sondern auf die Gründung von Auswanderern aus Deutschland und der Schweiz im Jahr 1710. Die brachten auch das Stadtwappen mit, dass dem der Schweizer Bundeshauptstadt zum Verwechseln ähnlich sieht. Einziges Unterscheidungsmerkmal: dem züngelnden Bären auf gelbem Grund fehlt der rote Bärenpenis, was wohl auf die Prüderie der meist religiösen Glückssucher zurückzuführen ist.

Aber nicht der religiöse Puritanismus der Gründungsväter, sondern die Bevölkerungszusammensetzung macht New Bern spannend für heutige Betrachter:innen. In der Kleinstadt an der Ostküste leben etwa 55 Prozent Weiße und 35 Prozent Schwarze, auf die übrigen zehn Prozent verteilen sich Latinos und asiatischstämmige Menschen. Der Schweizer Fotograf Michael von Graffenried, ein direkter Nachfahre eines der Gründer der Stadt, hat zwischen 2006 und 2021 das Leben in der Stadt mit seiner Kamera beobachtet. Der Bildband »Our Town« zeichnet ein Bild von Amerika zwischen Irak-Krieg und Black Lives Matter.

Von Graffenried hat bei gesellschaftlichen Ereignissen wie Stadtfesten, Karnevalsaufzügen und Footballspielen fotografiert, bei Beerdigungen und Hochzeiten, in Parks, Schwimmbädern, auf der Straße und bei den Menschen zuhause. So bekommt man einen breiten Einblick in den Alltag der Menschen, von ihrem Leben, dem Mit- und vor allem dem Nebeneinander.

Denn das Deprimierende an diesen Aufnahmen ist: Sie belegen, dass die Vereinigten Staaten nicht erst seit Donald Trump ein geteiltes Land sind, wie es die Bilder seiner Landsleute, dem Schweizer Fotografenpaar David Braschler und Monika Fischer, haben vermuten lassen. Bei von Graffenried könnte man fast den Eindruck bekommen, dass Stereotypen gar keine Stereotypen sind, sondern Realitäten. Daher sei vorausgeschickt, dass man bei seinen Fotografien um den Aspekt Hautfarbe als deskriptives Unterscheidungsmerkmal gar nicht drum herum kommt. Polizisten sind Weiß, Nackttänzerinnen Schwarz, Die Besucher:innen einer Ausstellung komplett Weiß, die Wartenden vor der Armenküche alle Schwarz.

Gemischte Gemeinschaften sieht man hier kaum, selbst in religiösen Dingen – die Kirche hat hier eine große Bedeutung – gehen die Communities getrennte Wege. Einzig das Football-Team und das Militär scheinen als melting pot herhalten zu können. Die Trennlinien in diesem Ort verlaufen oft entlang der Hautfarben.

»Our Town« ist aber mehr als ein Beleg des strukturellen Rassismus in den USA. Die Bilder lassen sich – wenn man genau hinschaut – wie eine kurze Geschichte der vergangenen anderthalb Jahrzehnte in den USA lesen. Die Kriege im Nahen Osten hinterlassen deutliche Spuren in »We Support Our Troops«-Bekenntnissen, bei Veteranentreffen und USA-Flaggen (an einer Stelle auch die Konföderierten-Flagge) in den akkurat gemähten Vorgärten. Wenn die nicht von lateinamerikanischen Immigranten gepflegt werden, dann von Amerikanern mit rotem Basecap, dem Erkennungsmerkmal der Trump-Anhänger:innen. Es sind aber auch Biden-Anhänger zu sehen, nicht nur auf den Bildern vom Tag der Präsidentschaftswahlen. Andere Bilder zeigen desillusionierte, ins Leere starrende Menschen, man kann aus ihnen die Opiod-Krise ablesen, die vor allem das ländliche Amerika seit Mitte der Nullerjahre im Griff hält. Der Roman »Cherry« von Nico Walker bildet das eindrucksvoll ab. Andere Bilder zeigen Sturmschäden, die einer der saisonalen Orkane hinterlassen hat. Und auch die Corona-Pandemie ist auf diesen Bildern schon zu sehen.

Michael von Graffenried: Our Town. Steidl Verlag 2021. 240 Seiten. 45,00 Euro. Hier bestellen

New Bern ist eine Stadt, wie es sie wohl zu hunderten in Amerika gibt. Alles wirkt ein wenig provinziell, Traditionen werden bewahrt. Cowboyhüte, Waffenarsenal, Plastiklatschen – auf der Straßen tragen die Leute den rural chic der Vereinigten Staaten zur Schau. Die Vorliebe für die eigene Waffe geht übrigens auch nicht an der alternativen jungen Generation vorbei.

Michael von Graffenried hält das ganz normale Leben in dieser durchschnittlichen amerikanischen Kleinstadt in stillen und doch vielsagenden, stets auf einer Doppelseite abgebildeten Aufnahmen fest. Seine Bilder sagen mehr als all die Essays und Analysen, die man rund um die Präsidentschaftswahlen lesen konnte. »An Orten wie hier musst du dir das Glück schnappen, weil es nicht für alle ausreicht«, schreibt der US-amerikanische Autor Nana Kwame Adjei-Brenyah in einer seiner Erzählungen. Sie könnte New Bern gewidmet sein.