Film

Trauriger Wal

Brendan Fraser feiert in Darren Aronofskys »The Whale« ein überwältigendes Comeback als schwergewichtiger Literaturdozent. Sein in Venedig und bei den Oscars ausgezeichnetes Spiel macht diese Parabel über den Kern des Menschlichen zu ganz großem Kino.

Charlie ist ein Riese, ein Koloss, ein Gigant. Sein Körper ist längst über sich hinausgewachsen, Fleischberge drücken ihn tief ins Sofa, von dem er es ohne Hilfe kaum mehr hoch schafft. In seiner Wohnung sind Griffe verteilt, die ihm Halt geben, weil er sich längst nicht mehr selbst halten kann. Charlie hat die Kontrolle über sich selbst verloren, seine Wohnung hat er schon seit Ewigkeiten nicht mehr verlassen. Der neue Film von Darren Aronofsky (»The Wrestler«, »Black Swan«, »Mother«, »The Fountain«) holt seine Zuschauer:innen für eine Woche in diese Wohnung, die zum Schlachtfeld von Schuld und Schmerz, Liebe und Poesie, Schönheit und Erlösung wird.

Über einen Laptop betreten wir die dunkle Höhle, in der Charlie lebt. Zu sehen ist die Bildschirmansicht eines Online-Seminars, in der Mitte ein schwarzer Screen. Aus dem dringt Charlies Stimme, der erklärt, warum Regeln wichtig sind, um klar und überzeugend zu schreiben. Langsam zoomt die Kamera in dieses Schwarz hinein und überwindet die Barriere, hinter der sich Charlie eingerichtet hat. Fortan bleibt die Handlung in der Wohnung, die wie eine Kathedrale ausgeleuchtet ist. In der Mitte steht das Sofa, auf dem Charlie wie ein gestrandeter Wal das ein ums andere Mal nach Luft japst.

Brendan Fraser spielt Charlie mit umwerfender Zartheit | © A24

Arbeit und Sex sind in Form des Laptops immer griffbereit, die gigantischen Portionen Junkfood, die er verschlingt, bringen ihm entweder Pizzabote Dan oder seine Freundin Liz, die ihn mit dem Nötigsten versorgt. Vor allem aber sorgt sich Liz um seinen Gesundheitszustand, denn der hat längst lebensbedrohliche Ausmaße angenommen. Als Krankenschwester weiß sie, dass er längst sämtliche rote Linien überfahren hat. Wenn Charlie nicht ins Krankenhaus geht, werde er in einer Woche nicht mehr leben, warnt sie ihn und setzt damit einen Countdown in Gang.

Das Ende seines Lebens vor Augen beschließt Charlie, Ordnung in das Chaos zu bringen, das ihn umgibt. Sein Rückzug in die eigenen vier Wände hat eine komplexe Vorgeschichte. Vor Jahren verließ er seine Frau Mary und seine Tochter Ellie, weil er sich Hals über Kopf in Liz’ Adoptivbruder Alan verliebt hat. Weil dessen streng religiöses Umfeld dieser Liebe aber nur Verachtung entgegenbrachte und ihn verstieß, nahm er sich das Leben.

Hong Chau verleiht als Liz dem Film eine zusätzliche Facette | © A24

Von diesem Verlust hat sich Charlie nie erholt, über ihn habe er die Kontrolle über sein Leben verloren, gesteht er Ellie, zu der er nach Jahren der Trennung wieder Kontakt aufnimmt, um sie daran zu erinnern, was für ein wunderbarer Mensch sie ist. Ellie aber will seine Zuwendung nicht. Als renitente und zornige Teenagerin zwingt sie ihn, ehrlich zu sein und den Kokon aus Schmerz und Trauer zu verlassen, den er sich angefressen hat.

Dazu kommt der junge Missionar Thomas, der plötzlich in der Wohnung steht und meint, Charlie in seinen letzten Tagen göttlichen Beistand bieten zu müssen. Thomas gehört der evangelikalen Kirche »New Life« an, die einen wesentlichen Anteil an Charlies Lebensschmerz hat. Dennoch verteufelt er – im Gegensatz zu Liz – diesen jungen Sinnsucher nicht, sondern reagiert mit einer bewundernswerten Offenheit auf dessen hilflose Renitenz.

Ty Simkins als evangelikaler Missionar Thomas | © A24

Aronofsky gibt all diesen komplexen Figuren, ihren verflochtenen Beziehungen und psychologisch nuancierten Geschichten immer wieder Raum. Er gibt diesem bedrückenden Kammerspiel damit nicht nur Tiefe (Gravitas ist ja genug vorhanden), sondern bringt auch frische Luft in die stickige Wohnung. Gedreht ist der Film im engen 4:3-Format, so wird auch auf der Ebene der Quadrierung sichtbar, dass Charlies Existenz für dieses Leben zu groß ist.

Der feinsinnige und witzige Charlie liebt das Leben und seine Versprechungen, zugleich aber versteckt er sich davor. Er fürchtet nicht nur die Reaktionen auf seine Gestalt, sondern auch die Fehler, die er selbst gemacht hat. In seiner Existenz liegt der Versuch einer Läuterung, deren Scheitern er sich eingestehen muss. Ausgehend von einem Text über Melvilles »Moby Dick« macht er sich auf die Suche nach einer tiefen Wahrhaftigkeit und konfrontiert sich mit seinen Ängsten und Hoffnungen. Aus ihm spricht Walt Whitman, der in seinen »Grasblättern« (in der hervorragenden Übersetzung von Jürgen Brôcan) schrieb: »Ich bin Hafen für Gut und Böse, ich erlaube zu sprechen auf jede Gefahr; Natur ohne Zaum mit ursprünglicher Kraft.«

Mit ursprünglicher Kraft spielt auch Brendan Fraser, bekannt seit den 90ern für seine Auftritte in Filmen wie »Gods and Monsters« von Ian McKellen und als Rick O ‚Connell in Stephen Sommers »Die Mumie«-Verfilmungen, diese Rolle. Er gibt diesem Koloss eine umwerfende Menschlichkeit, zeigt ihn ironisch, zärtlich und verletzlich. Sein Spiel lässt den zentnerschweren fatsuit und die makellose Maske, die seine immense Körperlichkeit bilden, vergessen und bringt Charlie in all seiner Ambivalenz auf die Leinwand. Die körperlichen Ausmaße seiner unter Fressattacken und Atemnot leidenden Figur kontert er mit dem emotionalem Gewicht seiner Performance, die in jeder Geste, jedem Blick und jedem Wort deutlich werden.

Das stößt nicht nur auf Begeisterung, wie die taz berichtete. Adipositas-Organisationen warfen dem Film vor, in der physischen Darstellung dieses Elends fatphobia zu schüren. Das ist natürlich Unsinn, weil der Film nicht Faulheit, Trägheit oder Bequemlichkeit zur Ursache von Charlies Physis macht, sondern diese als Resultat eines schleichenden Kontrollverlusts darstellt. Denn das beeindruckende an »The Whale« ist, dass er von der Präsenz und Oberfläche dieses überdimensionalen Körpers in die Tiefe der menschlichen Seele geht und wir dieser Bewegung soweit folgen, dass wir diesen fetten Körper gar nicht mehr wahrnehmen, selbst wenn er gezeigt (nicht ausgestellt!) wird.

Sadie Sink als wütende Tochter Ellie | © Niko Tavernise

Das liegt auch an Brendan Fraser, dessen Schauspiel gigantisch ist. Seine Verkörperung dieses zeitgenössischen Leviathans ist eine Once-In-A-Lifetime-Performance, die in Venedig und bei den Oscars völlig zu Recht ausgezeichnet wurde. An seiner Seite brillieren »Stranger Things«-Star Sadie Sink als zornige Teenager-Tochter, die ihre Wut glühend vor sich her trägt, sowie Hong Chau (»Downsizing«) in der Rolle von Liz, die sich ergeben um Charlie kümmert und zugleich an seiner Selbstaufopferung verzweifelt. Ty Simpkins und Samantha Morgan ergänzen diesen sehr harmonisch aufeinander abgestimmten Cast.

»The Whale« ist eine emotionale Achterbahnfahrt, schroff, ehrlich und poetisch. Und als sei das nicht genug, ist es ganz nebenbei auch noch ein Porträt der Hillbillys, denen J.D. Vance seinen eindrucksvollen autobiografischen Essay »Hillbilly-Elegie« gewidmet hat. Menschen wie Charlie, die sich einigeln, zurückziehen, keine Krankenversicherung haben (auch wenn die Geschichte hier komplexer ist) und jeden Tag kämpfen, um über die Runden zu kommen.

Warum manche aus dem Film aber in sprachlich tumben Bildern »ein emotional schwer überladenen Riesenklops« (Spiegel Kultur) machen, ist rätselhaft. Da scheint doch eher die Einordnung des Perlentauchers hilfreich, der »The Whale« in die Nähe von Sitcoms rückt. »Die Verbindung von szenischem Minimalismus im klassischen 4:3-Format, teils absurd überzeichneten Figuren und einem dezent ins wahnwitzige abgleitenden Plot (sowie außerdem die Obsession mit Sprache, insbesondere in Form ominöser, mit Bedeutung überfrachteter Essays) ist nicht ganz weit weg von einer Serie wie “Seinfeld”. Tatsächlich ist “The Whale” letztlich genau wie “Seinfeld” die Chronik einer Selbsteinschließung.« Die Emotionalität bleibt aber eine Herausforderung: »Geradezu unverschämt, wie nah der Film am Wasser gebaut ist.« Die FAZ spricht nicht umsonst von einem »Drahtseilakt«, den Fraser beeindruckend bewältigt.

Darren Aronofsky: The Whale. Mit Brendan Fraser, Sadie Sink, Hong Chau. Plaion Pictures.

Wie auch immer man Darren Aronofskys neuen Film sieht, Brendan Frasers Spiel ist hier eine Klasse für sich. Es führt aus dem Ozean der Trauer in ein erlösendes Licht und hält – ohne Kitsch, aber mit Pathos – die Hoffnung an das Gute im Menschen aufrecht. Am Ende muss sich Charlie noch einmal ehrlich machen und damit dem nachkommen, was er von seinen Studierenden verlangt: Die Wahrheit für sich sprechen zu lassen.

Eine kürzere Version des Textes ist im Rolling Stone 5/2022 erschienen.

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