Literatur, Roman

Schlangenlinien im Schwitzland

Blick in T.C. Boyles Werk | © Thomas Hummitzsch

Im neuen Roman von T.C. Boyle gerät die Natur ins Kippen und beißt zurück. In »Blue Skies« spielt Amerikas Kultautor mit Elementen von Ökothriller, Science Fiction und klassischer Tragödie und beweist einmal mehr seine Klasse.

Thomas Coraghessan Boyle war schon immer seiner Zeit voraus. 1982 debütierte er mit »Wassermusik«, einem Roman über Kolonialismus und Größenwahn. Zwei Jahre später erschien mit »Grün ist die Hoffnung« sein Kommentar zum Umgang mit Marihuana, weitere drei Jahre darauf sein Epos »Worlds End« über die Eroberung des amerikanischen Kontinents auf Kosten der indigenen Bevölkerung. Seither folgten über ein Dutzend weitere Romane, in denen es um kulturelle Identitätskonflikte (»Der Samurai von Savannah«), Migration (»América«), individuelle Freiheiten (»Drop City«, »Dr. Sex«, »Die Frauen«), Umweltschutz und das Wüten des Menschen auf dem Planeten (»Ein Freund der Erde«, »Wenn das Schlachten vorbei ist«, »Die Terranauten«) geht.

Das immer rasantere Kippen des Ökosystems zieht sich wie kein anderes Thema durch das Schaffen des Kaliforniers. Unzählige seiner Kurzgeschichten, die gesammelt regelmäßig zwischen den Romanen erscheinen, sind Fragen des Artensterbens, der Wasserversorgung oder dem Dasein unter Extrem(wetter)bedingungen gewidmet. Und auch durch seine Romane zieht es sich wie ein roter Faden. Im Gespräch mit Spiegel-Autor Arno Schmidt räumte er kürzlich ein, dass sein SciFi-Roman »Ein Freund der Erde« die gleichen Themen verhandle. »Der Verlust der Wälder und der Biodiversität, Klimakrise, die sozialen und politischen Folgen dieser Entwicklung – das alles hat uns viel schneller erreicht, als ich damals dachte.«

Damals meint das Jahr 2000, in dem der Roman erschien. Es ist daher etwas seltsam, nun zu behaupten, »Blue Skies« wäre Boyles Kommentar zum rasant fortschreitenden Klimawandel, denn mit den Folgen der Erderwärmung setzt er sich seit Jahrzehnten auseinander. Und doch ist der neue Roman genau das, ein Klimawandel-Roman. Aber einer, wie man ihn bislang noch kaum gelesen hat.

Das Genre erfreut sich zunehmendem Interesse, zuletzt haben die Katastrophenromane »Das Ministerium der Zukunft« von Kim Stanley Robinson und »Der Anfang von Morgen« von Jens Liljestrand für Aufsehen gesorgt. Boyles neuer Roman unterscheidet sich von Pageturnern wie diesen weder im Tempo noch im Sog, aber in der Anlage. Es geht dem amerikanischen Kultautor nicht um die Ausgestaltung eines Katastrophenszenarios, sondern um das ganz normale Leben unter den Bedingungen der Katastrophe, die wir uns gerade schaffen.

Blue Skies erzählt von den Schicksalen einer amerikanischen Durchschnittsfamilie in einer nicht allzu fernen Zukunft, in der Insektennahrung ganz selbstverständlich auf die Teller kommt und Mensch und Maschine mehr und mehr miteinander verschmelzen. Viel entscheidender sind in diesem Übermorgen aber die herrschenden klimatischen Bedingungen und ihre Folgen. »Die eine Hälfte der Welt stand unter Wasser, die andere war ausgedörrt, und es gab eine Missernte nach der anderen. Menschen hungerten, sogar hier in Kalifornien. Überall waren Flüchtlinge.«

In Berlin sprach T.C. Boyle mit Florian Werner über die Bedeutung von Musik in seinem Leben und Werk | © Thomas Hummitzsch

Würden in einer solchen Welt noch Hochzeiten oder Geburtstage gefeiert? Natürlich, ruft der musikbegeisterte Kalifornier in seinen roten Chucks (auf die der 74-Jährige auf seiner Deutschland-Tournee aus orthopädischen Gründen verzichtet) und lässt uns eintauchen in die Welt von Ottilie und Frank, die mit Catherine und Cooper zwei höchst unterschiedliche Kinder in die Welt gesetzt haben.

Während Entomologe und Umweltaktivist Cooper in der Nähe des elterlichen Hauses geblieben ist, um mit seiner Freundin Mari die kalifornischen Wüstenlandschaften nach Insekten zu durchforsten und ehrgeizig an seiner Wissenschaftskarriere zu basteln, lebt die etwas einfache Catherine auf der anderen Seite des Landes in einem Stelzenhaus an Floridas Küste und lässt es ruhig angehen. Ihr Partner Todd ist ein Bacardí-Markenbotschafter und schmeißt im Auftrag seiner Firma exzessive Partys für die Reichen und Schönen dieser Welt. Weil Catherine auch Teil dieser Welt sein will, legt sie sich eine Schlange zu, mit der sie für Klicks vor ihrer Kamera posiert.

Im Werbevideo zum Roman wird deutlich, dass Boyle einmal mehr einen seiner Romane an einen populären Song angelehnt hat, hier an Irving Berlins »Blue Skies«

Zwischen der ausgetrockneten Erde im Westen der USA und den überfluteten Stränden im Südosten pendelt die Erzählung hin und her. Problemlos könnte Boyle aus dieser Konstellation eine Katastrophenerzählung stricken, aber das entspräche nicht seinem humanistischen Blick auf die Welt. Der Kalifornier interessiert sich für die Menschen, ganz egal, ob sie Teil des Problems oder Teil der Lösung sind. Sein Klimawandel-Roman handelt nicht zuvorderst von den großen Naturkatastrophen (die es gibt), sondern von den kleinen und großen menschlichen Dramen, die sich in einer immer lebensfeindlicheren Welt ereignen. Von scheiternden Hochzeitspartys und folgenreichen Zeckenbissen, überbordender Tierliebe und ihren fatalen Konsequenzen, aber auch von Missernten, Waldbränden und Stromausfällen.

»Sind wir nicht Menschen«, frag-behauptete Boyle in seinen letzten Stories provokant, in denen seltsame Ameisen und anderes Getier die Zukunft unsicher machten. Auch hier wimmelt es vor mehr oder weniger bedrohlichem Getier, neben Schmetterlingen, Hunden und Katzen, die den Alltag begleiten, treiben hier auch Wanzen, Zecken und Schlangen ihr Unwesen. So zeichnet etwa der unscheinbare Biss einer sich ausbreitenden neuen Zecken-Spezies Cooper für den Rest seines Lebens, während seine Schwester Catherine in Florida ihre Begeisterung für Schlangen entwickeln wird, um das Jahre später bitter zu bereuen.
Ottilie und Frank, die als Heuschrecken-Züchter und Hobby-Imker zur umweltbewussten Minderheit in Boyles Heimat gehören, werden ebenso fassungs- wie hilflos die Schicksalsschläge ihrer Kinder und Enkel bezeugen, während um sie herum die Welt mehr und mehr in Flammen aufgeht.


Eine Kammer hoch im Norden, gefüllt mit Pflanzensamen aus aller Welt. Tommy wächst in der kargen Landschaft Spitzbergens mit zwei Brüdern bei seiner geliebten Großmutter auf. Als wichtigste Lebensweisheit gibt sie ihm mit: In einer großflächig zerstörten Welt ist die Saatgutkammer ein Schatz, der mit allen Mitteln beschützt werden muss. In eindrucksvollen Bildern und mit viel Wärme erzählt Maja Lunde von der Bedeutung des Familienzusammenhalts und von unserem Umgang mit der Natur. Wie wurde der Mensch zu einer Spezies, die alles verändert hat? Und sind wir selbst eine bedrohte Art?

Maja Lunde: Der Traum von einem Baum. Aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein. BTB-Verlag 2023. 560 Seiten. 24 Euro. Hier bestellen.


Zeitgleich zum neuen Boyle-Roman erscheint Maja Lundes »Der Traum von einem Baum«, mit dem sie ihr Klima-Quartett abschließt. Die Norwegerin betont darin die Bedeutung der Familie für das Überleben in einer großflächig zerstörten Welt. Ähnlich kann man »Blue Skies« lesen. Denn in der hier gezeichneten Zukunft spielen neben den existenziellen klimatischen Herausforderungen die allzu menschlichen Sorgen des Alltags die wichtigste Rolle. Boyle fängt sie in der souveränen Übersetzung von Dirk van Gunsteren mit genauem Blick, visionärem Gespür und schwarzem Humor ein.

Etwa wenn die Hochzeit von Catherine und Todd in Umständen versinkt, unter denen die Cateringfrau »das Essen nicht servieren« kann oder Ottilie durch ein Meer gestrandeter Welse schlingert, um zur Niederkunft ihrer Tochter zu eilen, während ein Hurrikan das Land unter Wasser setzt. Mit derlei Horror-Szenarien demonstriert Boyle ganz nonchalant die verbissene Fähigkeit des Menschen, auch unter völlig anderen Vorzeichen durchzuhalten und sich anzupassen.

Ein Anhänger der Anpassungstheorie ist er deshalb aber nicht. Der Mensch bastelt qua Existenz permanent an seinem Untergang, kommentierte er im Spiegel. »Wir sind als Spezies erledigt, meiner Meinung nach. Was kann der Einzelne tun? Das scheint mir doch etwas hoffnungslos. Aber allein die Tatsache, in eine Gesellschaft wie der unseren hineingeboren zu sein, zerstört die Erde. Einfach weil wir da sind. Weil wir essen, was wir essen. Energie verbrauchen. Auto fahren. Heizen.«

T.C.Boyle: Blue Skies. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Hanser Verlag 2023. 400 Seiten. 28,- Euro. Hier bestellen.

Weil der Mensch das aber nicht lassen kann, zeichnet er seine Heimat als ein stinkendes Schwitzland, in dem sich ein fauliger Geruch breit macht, weil die Wasserrationen nur für eine kurze Dusche pro Woche reichen und die tropische Feuchte den Schimmel in jede Ecke drückt.

Boyle braucht nicht die großen apokalyptischen Bilder, um von der menschlichen Existenz in extremen Umständen zu erzählen, denn die unter Wasser gesetzten Straßen oder die brennenden Wälder in Kalifornien sind längst Wirklichkeit. Er zeigt aber eindrucksvoll, in welche Sackgassen die Ausweichbewegungen führen, mit denen wir uns selbst belügen. Eine Lösung hält er nicht parat, aber er gibt seinen Leser:innen die Chance, endlich mal das Problem zu verstehen.

Eine kürzere Version des Textes ist im Freitag 20/2023 erschienen.