Allgemein, Zeitgeist

Sie sollten wissen, was sie tun

© Thomas Hummitzsch

Erst kürzlich schrieb ich hier über den Missstand der hiesigen Übersetzungskritik. Ein Blick in die Literaturseiten führender Medien zur Frankfurter Buchmesse bestätigt, dass die Literatur- und Kulturredaktionen selbsternannter Leitmedien nur vereinzelt einen Blick für die Übersetzenden und ihre Leistung haben.

Die Literarische Welt

»Mensch oder Maschine. Zwischen „Fair Use“ und Urheberrechtsklau« titelt die Literarische Welt vom 12. Oktober, die für sich beansprucht, auf acht Seiten die wichtigsten Bücher der Saison vorzustellen. Nun ja, man kann über die Auswahl streiten, aber darum geht es hier nicht. Von den achtzehn Buchbesprechungen sind sieben einer Übersetzung gewidmet, unter anderem werden die neuen Bücher von Thomas Pynchon, Arundhati Roy, Ian McEwan, Joy Williams und Édouard Louis besprochen. Allen Rezensionen gemein ist, dass sie nicht auf die Übersetzung eingehen. Um dem ganzen aber noch die Krone aufzusetzen, wird die Tatsache, dass sie übersetzt sind, in den Texten nicht einmal erwähnt.

Man könnte meinen, es seien Anfänger am Werk, aber das Gegenteil ist der Fall. Richard Kämmerlings freut sich darüber, wie Thomas Pynchon die Moderne tanzt und zitiert ausführlich aus dem Roman, aber von den beiden Urhebern der Zitate, den Übersetzern Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsterem, ist keine Rede. Gleiches gilt für Wieland Freunds voller Zitate steckende Besprechung der »schnell[en], letztlich schmucklos[en] und direkt[en]« Erzählungen von Joy Williams, die Julia Wolf übersetzt hat. Jan Küveler reist mit Ian McEwan ins Jahr 2119, eine Zeit, in der literarische Übersetzungen offenbar abgeschafft wurden. Zumindest erfährt man in seinem Text nicht, das Bernhard Robben irgendetwas zum Erscheinen von »Was wir wissen können« übersetzt hat.

Und so geht das weiter. Marko Martin unterschlägt Eva Illouz‘ Übersetzer Michael Adrian, Sigrid Löffler zitiert fleißig aus Anette Grubes Übersetzung von Arundhati Roys neuem Buch, ohne das kenntlich zu machen, Tilman Krause ignoriert Sonja Fincks Übersetzungsleistung im Fall von Édouard Louis neuem Roman und Jakob Hayner unterschlägt bei aller Begeisterung für Thomas Chatterton Williams Essay »Toxische Gerechtigkeit« selbst bei den Buchangaben, dass Stephan Kleiner ihn übersetzt hat. Das schließlich bei den Buchtipps auch nur sehr erratisch die Übersetzenden in den Buchangaben auftauchen, wundert nicht.

Zurück zur Titelseite und der Frage, die Mladen Gladic da aufwirft. Der Umgang mit den deutschen Texten bewegt sich eher im Bereich »Urheberrechtsklau«. Eine Redaktion, die auf ihrer Titelseite über den Schutz geistiger Werke philosophiert und dann die Urheber der deutschen Texte ignoriert, weiß offenbar nicht, worüber sie schreibt.


Literaturseiten der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung

Hoffend auf Besserung schlägt man die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung auf, 14 Seiten für 14 große Beiträge, vom nachdenklichen Essay über Porträts und Interviews bis hin zur klassischen Kritik ist alles dabei. Abzüglich der Interviews und einer Begegnung mit Siri Hustvedt sind sieben rezensierende Texte zu übersetzten Titeln erschienen. Und doch, immerhin Susanne Romanowskis Besprechung von Olga Ravns neuem Roman »Wachskind« wartet mit Übersetzerlob auf. Auch Ravns Übersetzer Alexander Sitzmann habe hier Großes geleistet.

Die sechs übrigen Texte ignorieren die Übersetzung leider auch. Alana Tongers legt Maggie Nelson die deutschen Zitate von Cornelius Reibers Übertragung in den Mund, Anna Vollmer geht auf das Thema Sprache in Manon Garcias »Überlegungen zum Pelicot-Prozess« ein, ohne diese auf Andrea Hemminger zurückzuführen, Karen Krüger kommt in ihrem mit vielen Zitaten untermauerten Text über den Prix-Goncourt-Roman von Kamel Daoud ohne Nennung von Sabine Müller und Holger Fock als Übersetzer:innen aus. Cord Riechelmann will Bettina Abarbanells Leistung in seiner Besprechung von Josephine Johnsons Nature Writing ebensowenig würdigen wie Lorenz Füsselberger die von Sonja Finck im Falle von Édouard Louis Abschluss seines Familienfreskos.

Besonders krass fällt die Ignoranz der Übersetzer in Hernán D. Caros Doppelbesprechung von Gustavo Faveron Patriaus Roman »Unten Leben« und Jorge Barón Bizas Klassiker »Die Wüste und ihr Samen« aus. Kultromane in Lateinamerika, die nun »endlich auf Deutsch« erscheinen, heißt es noch vielversprechend im Teaser. Dass Manfred Gmeiner und Frank Wegner mit ihrer Arbeit dafür gesorgt haben, wird mit keinem Wort erwähnt.


Literaturseiten der Süddeutschen Zeitung

Es ist viel Luft nach oben, ich setze meine Hoffnung auf die Süddeutsche Zeitung. Zwölf Buchmesse-Seiten, 28 Buchbesprechungen, elf von übersetzten Titeln. Die Bilanz: Christiane Lutz benennt als einzige den Übersetzer Henning Ahrens in ihrer Kritik von David Szalays neuem Roman. Auf die Übersetzung geht sie danach nicht weiter ein, wohl aber auf den sprachlichen Stil. Carolin Gasteiger erwähnt zumindest, dass Allessandro Barricos metaphysischer Western »Abel« »in deutscher Übersetzung« erscheint, Annette Kopetzki als diejenige, die den deutschen Text beigesteuert hat, mag sie aber nicht benennen.

Danach geht es leider weiter wie bei den anderen Medien. Suzan Vahabzadeh bekommt in ihrer Sammelbesprechung von Reproduktionsromanen die Information nicht unter, dass Ursula Gräfe die »Schwindende Welt« von Sayaka Murata übersetzt hat. Christoph Gurk unterschlägt, dass Silke Kleemann im Deutschen für die »atemlose Literatur« von Ariana Horowicz sorgt und Moritz Baumstieger, dass die Texte in Joe Saccos Comic »Indien. Öl ins Feuer« von Christoph Haas übersetzt wurden. Beim Jugendbuch von Jenny Valentine wird Klaus Fritz als Übersetzer nicht erwähnt und sogar bei den bibliografischen Angaben unterschlagen.

Bei den besprochenen Sachbüchern werden durch die Bank die Übersetzenden unterschlagen. Franka Reinhart hatte hier erst kürzlich diese Erfahrung geteilt, die sich hier durch die Bank bestätigt. Jens-Christian Rabe lässt Martina Wiese im Fall von Steven Pinker außen vor, Marie Schmidt unterschlägt Eva Bonné bei Lea Ypi, Michael Moorstedt das Übersetzerteam (Henning Dedekind, Rita Gravert, Norbert Juraschitz, Frank Lachmann, Moritz Langer) hinter dem Tiktok-Buch von Emily Baker-White und Thore Rausch hat James Poniewoziks Trump-Analyse »Alle Scheinwerfer auf mich!« dank Sean Carty und Clara Schilling auf Deutsch lesen können, erwähnt das aber nicht.

Auf dem Titel der Literaturseiten der Süddeutschen Zeitung bespricht Felix Stephan mit vielen Zitaten den neuen Roman von Yishai Sarid, selbstverständlich auch ohne Nennung von Übersetzerin Ruth Achlama. Ein Satz aus Stephans Text sticht hervor. »Niemand liest mehr Zeitungen und Kritiken schon gar nicht.« Nun, das würde sich möglicherweise ändern, wenn die Verantwortlichen für diese Zeitungen und Kritiken zumindest mal handwerklich… ach, was soll man eigentlich noch sagen?


Buchmessebeilage der Frankfurter Rundschau

Ich bin kein Übersetzer, aber schon mich verärgert das massiv. Wie frustrierend muss das erst für jene sein, deren Tun man da die ganze Zeit unterschlägt? Man möchte ihnen in einer tröstenden Geste die Literaturbeilage der Frankfurter Rundschau unter die Finger schieben, die im Vergleich zu Welt, FAZ und SZ Übersetzende geradezu verwöhnt.

Zwölf Seiten, 20 rezensierende Beiträge, neun davon mit Übersetzungsbezug. Und in denen wird die Übersetzung nicht nur thematisiert, sondern auch gelobt. Sylvia Staude bedankt sich gleich zweimal in ihrer Besprechung von Pynchons »Schattennummer« bei den Übersetzern Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsterem. Wilhelm von Sternburg gibt in seiner Besprechung von Teréz Rudnóys Zwangsarbeiter-Erzählung »Der Tag, an dem sie freikamen« dem Übersetzer Lacy Kornitzer das letzte Wort und Annette Hug wird in Andrea Pollmeiers Besprechungen dreier Romane zum Gastland-Auftritt gleich mehrfach lobend genannt.

Aber auch hier werden einige Übersetzer:innen unterschlagen. Sylvia Staude, gerade noch gelobt, versäumt, Anne Thomas als Übersetzerin von Lilia Hassaines Thriller »Tödliche Transparenz« zu benennen und Niko Fröba geht als Übersetzer des philippinischen Romans »Ein ziemlich böses Mädchen« von Jessica Zafra unter.

Beim Sachbuch unterschlägt Michael Hesse seinen Namensvetter Michael Adrian als Übersetzer von Eva Illouz und in seiner sehr kurzen Annotation von David Gräbers Essayband »Die ultimative heimliche Wahrheit der Welt …« fanden Helmut Dierlamm, Werner Roller, Katrin Behringer und Hans Freundl als Übersetzende keinen Platz. Bei den Kinderbüchern werden die Übersetzenden lediglich bei den Buchangaben benannt, da hier eher Zeichnung und Idee thematisiert werden, ist das zumindest redaktionell nachvollziehbar.


Literatur-Spezial der Zeit

Am Ende ein Schwergewicht mit den Bücherseiten der Wochenzeitschrift Die Zeit. 20 Seiten mit 22 Rezensionen, davon lediglich sieben mit Übersetzungsbezug. Geradezu vorbildlich schreibt Timo Posselt über die Shakespeare-Leidenschaft von Judy Dench und Brendan O’Hea. Die deutsche Übersetzung sei »genauso launig, wie man sich Gespräche in der Orangerie von Denchs Haus vorstellt«, schreibt er und man versteht recht gut, was er meint. Da weiß jemand seine Werkzeuge einzusetzen.

Bemerkenswert ist auch Iris Radischs Besprechung der »glänzenden Neuübersetzung« von George Sands »Nanon« durch Elisabeth Edl, in der die Übersetzerin auch selbst zu Wort kommt. Man hätte gern erfahren, was da genau so glänzend übersetzt ist, stattdessen liefert Raddisch Handlung und historische Einordnung.

Katharina Borchardt bringt gleich acht Bücher zum Gastland in einem Text zusammen und geht dabei zumindest auf die Frage der Übersetzung ein. Sie benennt Annette Hug als einzige literarische Übersetzerin aus dem Sprachraum, die anderen Romane seien aus europäischen Sprachen übersetzt. Ein nachvollziehbares Verfahren. Ihre Kollegin Ann-Kristin Tlusty versäumt es zumindest nicht, Helga von Beuningen als Übersetzerin von Liz Spits »Autobiografie meines Körpers« zu benennen.

Und doch, fragt man sich auch hier, warum es keine Minimalstandards gibt. Etwa wenn ausgerechnet Kulturkorrespondent Volker Weidermann in seiner Rezension Sonja Finck als Übersetzerin von Édouard Louis unterschlägt, wenn Dirk Peitz mit Thomas Pynchon »reine Lektürefreude« erfährt, aber an keiner Stelle erwähnt, dass er diese Freude Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsterem zu verdanken hat. Ach, und da wäre noch T.C. Boyle, dessen neuer Roman erstmals zuerst in deutscher Übersetzung und zu einem späteren Zeitpunkt (im Frühjahr) im Original erscheint. Das Thema Übersetzung läge bei diesem an mancher Stelle »rhetorisch verpatzten« Roman auf der Hand, Daniel Haas entscheidet sich dagegen.


Fazit

Was bleibt am Ende so kurz nach dem Weltübersetzertag und kurz vor der Frankfurter Buchmesse? In allen konsultierten Medien werden literarische Übersetzungen prominent besprochen, benannt wird die Übersetzung aber nur in Ausnahmefällen. Wenn sie benannt oder thematisiert wurde, dann meist von weiblichen Rezensentinnen.

Lediglich zwei von fünf Zeitungen können sich einen seriösen Umgang mit der literarischen Übersetzung auf die Fahnen schreiben. Dass in den nicht-belletristischen Sparten Übersetzende grundsätzlich nicht in den Rezensionen benannt werden, ist ein bedenklicher Umstand.

Ob Kritiker:innen das Handwerkszeug fehlt, ob Unwissen oder Achtlosigkeit hinter der Ignoranz der Urheber der deutschen Texte stehen – man weiß es nicht genau. Egal was es ist, es spricht in vielen Fällen nicht für die Professionalität der Verfasser dieser Texte. Dabei sollten sie wissen, was sie tun.