Dietmar Dath schreibt mit Warp-Antrieb, der rasante Publikationsrhythmus seiner zwischen Wissenschaft, Informatik und politischer Ideenlehre verorteten Schriften macht das deutlich. Nun hat er mit »Venus siegt« einen radikalen Abgesang zu seiner universellen und werkübergreifenden Menschheitsgeschichte verfasst.
Es sind gut und gerne schon mal über eintausend Seiten, die Dietmar Dath innerhalb eines Jahres publiziert; in verschiedenen Verlage, versteht sich. Will man seine Literatur kategorisieren, landet man schnell im Klischee. Genremix durch Genrebruch könnte man sein Rezept nennen, oder sein Schreiben einfach als Widerstand gegen die »idiotischen Kriterien« der Literaturkritik deuten. Im Interview mit intellectures sagte er, dass das wesentliche Problem der Kritik darin liege, »dass die Unterschiede zwischen den bewerteten Sachen immer entlang idiotischer Kriterien gemacht werden, zum Beispiel Popliteratur versus Tiefsinn versus Genre versus… statt einfach zwischen guten und schlechten Sachen, nach deren jeweils eigenen Gesetzen.«
Er muss so etwas sagen, denn in den von ihm erdachten Welten gelten auch jeweils eigene Gesetze. Seine schräg-futuristische SciFi-Literatur mit Neigung zum Theoriesprech entführt die Lesenden in Lichtgeschwindigkeit in räumlich sowie zeitlich ferne Welten, wo »Waffenwetter« herrscht, die letzten Künste verteidigt werden oder die Abschaffung der Art Mensch verhandelt wird. Dies gilt auch für seinen neuen Roman Venus siegt – nach der Miniatursammlung Eisenmäuse. Ein verschlüsselter Sittenspiegel sein zweites Buch im kleinen Verlag Hablizel – in dem sein elitärer Erzähler Nikolas (Nick) Helander den Niedergang einer auf der Venus angesiedelten, exterrestrischen Zivilisation von perfektionierten Menschen, Robotern und künstlichen Intelligenzen beschreibt.
Dath wäre nicht der Solitär der er ist, wenn diese mehr oder minder beseelten Wesen – die Übertragung seelischen Materials ist eine der zivilisatorischen Errungenschaften in der venusischen Gesellschaft, die ihr am Ende zum Verhängnis wird – bei ihren simplen Bezeichnungen genannt würden. Hier heißen sie »Biotische«, »Diskrete« und »Kontinuierliche«, ihre Gemeinschaft ergibt das »Bundwerk«, die Vorform der absoluten gesellschaftlichen Utopie im »Freiwerk«. Dies meint den »Austausch von Wissen ohne Übervorteilung, Arbeitsteilung ohne Hierarchie«. Oder anders gesagt: »B=D=K«. Da dem ehemaligen Spex-Autoren Dath mathematische Formeln allein aber nicht genügen, sondern er mit Vorliebe das Zusammenleben in seinen Gesellschaften nach den Funktionsregeln aller denkbaren Nerd-Disziplinen gestaltet, ist selbst diese Darstellung nur eine Verkürzung dessen, was Dath eigentlich meint (und was das Gestaltungsbüro Mario Lombardo auf dem edlen Buchcover abgebildet hat).
Im ersten Drittel des Romans führt der zurückblickende Nick Helander in die jüngere Historie der Venus und damit in die Grundbeschaffenheit dieser Zivilisation ein. Unter der legendären Anführerin Maren Laukkanen konnte sich die venusische Gesellschaft vom irdischen Kolonialismus emanzipieren und ein universell einzigartiges alternatives Zusammenleben entwickeln. Mensch und Maschine sind eine Symbiose eingegangen (auch das ein Grundthema im von Stefan Mesch im freitag abschätzig gemeinten, aber hübsch klingenden Dathoversum), die allen das Leben leichter machen soll. »Wir arbeiten hier, um bestimmte Sorten des Arbeitenmüssens abzuschaffen«, heißt es da im Roman.
Technisch ist damit der Fortschritt gemeint. Écumuli schwirren durch die Luft, bilden die kommunikativen Schaumbrücken zwischen den Frameschnittstellen, über die der Großteil der Kommunikation und des Datentransfers abläuft. Zugriff auf die Schnittstellen hat das »Bundwerk« als Ganzes und der serverkonfigurierte Sicherheitsapparat CC, der für Collection=Control steht. Die Gesellschaft der Venus ist Daths Version eines volltechnisierten Überwachungsstaats, in dem die Vorratsdatenspeicherung Voraussetzung der absoluten Freiheit ist, denn nur wenn alle alles wissen, wird Exklusivität und Bevorteilung verhindert. Vor diesem Hintergrund ist es sicher kein Zufall, dass »B=D=K« in etwas geänderter Form das Akronym für den Bund Deutscher Kriminalbeamter ist. »Freiheit als Privileg, das geht eben nicht – entweder alle oder niemand, soziale Thermodynamik.«
Schon an Sätzen wie diesen wird der zwanghafte Charakter sichtbar, der einer solchen Gesellschaft innewohnen muss. Der venusische Staatsapparat im »Katzenhaus« ist längst zu einer Maschinerie der Repression verkommen. Die Vorstellung einer absolut freien Gesellschaft hat zur absoluten Unfreiheit geführt.
Helander beschreibt diese im zweiten und abschließenden dritten Teil seines Logbuchs, als das der Roman angelegt ist. Denn ein halbes Jahrtausend nach der Gründung der Venusgesellschaft ist sie von inneren politischen Kabalen und äußeren Konflikten bedroht. Die wichtigste Energieressource, das schwarze Eis, wird knapp und die Umweltzerstörung in den mit Robotern und künstlichen Intelligenzen besiedelten Industrieslums namens Rhinoclavis und Le Jeu schreitet voran. In ihrer Not befördern dort zu »Neukörpern« getunte Mensch-Maschinen und nach der Macht greifende, beseelte »Fleischpuppen« die Abschaffung der Arten durch Kybernetik. Die amtierende Diktatorin Leona Christensen kann die gesellschaftspolitische Idee der absoluten Freiheit nur noch durch die Unterwanderungs-, Bespitzelungs- und Säuberungsaktionen aufrechterhalten. Der Krieg der Arten und der Machtkampf innerhalb des Katzenhauses sind längst entflammt, als der irdische Tyrann und selbsternannte »Sternenkaiser« Arjen Samito in einem nach Welt(en)krieg klingenden »Unternehmen Osiris« nach der Venus greift, um diese im universellen Machtspiel wieder zu unterwerfen.
Nick Helander gerät zwischen die Fronten von »Verweltern«, »Neukörpern« und Irdischen einerseits und dem Regime andererseits – und damit natürlich ins Visier der venusischen Geheimdienste. Was ihm in dessen Händen wiederfährt, ist eine Mischung aus den Foltermethoden von Abu Ghraib und Anthony Burgess’ in Uhrwerk Orange zur Aufführung gebrachter Zukunftsmusik. »Die erratischen Zeiten, zu denen man das Licht einschaltete oder löschte, der Geräuschpegel aus dem umgebenden Trakt: Nichts folgte einer Regel, alles der Absicht, mein Zeit- und Raumempfinden zu zerstören.« Und etwas später heißt es über die erlittenen Qualen: »Diese Prozeduren waren das Schmerzhafteste, was ich je erlebt hatte, nicht dumpf wie die Schläge, sondern säureartig, brennend. Schläuche in den Hals, Kabel in den Anus, Nadeln in die Urethra.«
Man muss diese zivilisatorische Katastrophe aus einer kybernetischen Linguistik heben, die für Dathsche Verhältnisse – alles ist »unbegrenzt neo-everything«, wie er an anderer Stelle sagte – ein relativ durchschnittliches Maß an Wortschöpfungen, dafür aber auch relativ hohes Maß an Palaver aufweist. Dath-Neulinge werden sich schwer tun, zumal ein nicht allzu gründliches Lektorat und Textsatzfehler die Suche nach Bedeutung nicht einfacher machen. Dathisten aber können ganz der altbekannten Regel vertrauen, dass sich die meisten Wortbedeutungen über die Zusammenhänge erschließen und das ständige Geschwätz wie ein Echolot die beschriebene Kultur vermisst.
Was das Sonnensystem und seine gegeneinander ringenden Gesellschaften betrifft, kommt es in Venus siegt entgegen der vom Titel geweckten Erwartung nicht zum Triumph der Venusianer, sondern zum großen Patt, begleitet von einer universellen Technokalypse, die vor allem die Erde als vernichteten Pestplaneten zurücklässt. Als »tödlich heiße Kugel mit ihren Schwefelsäurewolken, bis auf dreißig Kilometer nah überm Boden dahintreibend, in Winden von dreihundert Stundenkilometern Geschwindigkeit, mit einem Regen, der selbst das glühende Metall, das in gezackten Brocken auf den Hängen und in den Tälern herumlag, wegwusch, auffraß, fortschmelzen konnte.« War der technische Fortschritt in Daths vorletzten Roman Pulsarnacht noch eine segensreiche Versprechung, ist er hier die brennende Lunte, die das ideologische Pulverfass unter dieser transhumanen Gesellschaft zur Explosion bringt.
[…] Stelle sei auf die Romane »Waffenwetter«, »Die Abschaffung der Arten«, »Feldeváye« und »Venus siegt«, aber auch auf den Comic »Menschen wie Gras wie« verwiesen (die Links führen zu den […]