Comic

Roulette des Lebens

Über fünfhundert Seiten avantgardistische Comiclektüre – mit zwanzigjähriger Verspätung erscheint mit »Der Schwindler« Pascal Rabatés Durchbruch als Comiczeichner. Dieser stilistisch betrachtete Ausreißer im Gesamtwerk des Franzosen ist das eindrucksvolle Porträt eines eigensinnigen Glücksritters im zaristischen Russland und zugleich ein schonungsloses Psychogramm der postrevolutionären russischen Gesellschaft.

Pascal Rabaté ist 1961 in Tours geboren. In den 80er Jahren studierte er an der Kunsthochschule in Anvers, um sich am Ende seines Studiums mitten in der Comicszene wiederzufinden. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Workoholic. Zählt man seine seither entstandenen Arbeiten durch, kommt man, ohne Rücksicht auf mehrbändige Ausgaben, auf fast 40 Titel seit Anfang der Neunziger Jahre, das ist also im Schnitt gut ein Titel pro Jahr. Seine Arbeiten schwanken zwischen Komik und Tragödie, historischer Verarbeitung und Zeitkritik.

Zwischen 1998 und 2001 veröffentlicht Pascal Rabaté vier Alben, in deren Mittelpunkt ein gewisser Semjon Iwanowitsch Newsorow steht. Es ist die Adaption des Romans Ibykus von Alexej Tolstoi. Für den zweiten Band wurde er in Angoulême den Preis für das beste Album ausgezeichnet. Es ist sein Durchbruch, seither hat er zahlreiche Comicpreise für seine Arbeiten erhalten. Zuletzt waren 2014 und 2016 Comicalben von ihm in der Auswahl für den großen Preis von Angoulême.

In Deutschland taucht der Comiczeichner Pascal Rabaté erstmals im Jahr 2006 auf. Sein bewegender Angler-Comic Flüsse und Bäche, der lange vor dem Publikumshit Die Alten Knacker von Wilfried Lupano und Paul Cauuet die Würde im Alter, letzte Wünsche und das Glück am Lebensende thematisiert, erhielt einige Kritikerpreise.

Titelsammlung

2008 erschien bei Carlsen das bemerkenswerte Album Plastikmadonna, seine erste Zusammenarbeit mit David Prudhomme. Diese Zusammenarbeit – Rabaté der Szenarist und Prudhomme der Zeichner – ist nicht nur überaus produktiv, sondern auch befruchtend. Die Arbeiten der beiden sind erzählerische Ausnahmewerke. Ihr Teamdebüt handelt im Kern vom Konflikt zwischen Émilie und Édouard Garnier, sie eine gläubige Katholikin, er Kommunist aus Leib und Seele. Als Émilie aus Lourdes eine Plastikmadonna mitbringt und diese auch noch anfängt, eine rote Flüssigkeit zu weinen, wird es nicht nur skurril, sondern turbulent. Rabaté schöpft hier erzählerisch aus dem Vollen seiner familiären Prägung, der Comic ist gewissermaßen auch eine Hommage an seine Großeltern. Auch die Plastikmadonna schaffte es in die Auswahl der Hauptpreise in Angoulême.

Vor drei Jahren erschien bei Reprodukt die wunderbare Sommerurlaubsgeschichte Rein in die Fluten. Bei allen, die schon einmal am Meer Urlaub gemacht hat, werden bei diesem überwältigenden Bilderstrom unzählige Erinnerungen wach. Wie bei einer Kamerafahrt nimmt dieser Band einen mit durch einen typisch französischen Sommerurlaub, wobei die Aufmerksamkeit des Zeichners immer weiter schwenkt, sich mit Zoom in Situationen hineinbegibt, kurz verweilt, sich an einem Detail aufhängt und über dieses Detail in die nächste Szene führt. Wer diesen Comic in der Hand hat, wird sich nicht wundern, dass es das Duo Prudhomme-Rabaté auch mit diesem Band auf die Longlist in Angoulême schafte.

Sein neuestes Werk in Frankreich ist das Doppelalbum La Déconfiture“, in dem er der Irrfahrt eines Soldaten an der deutsch-französischen Front zu Beginn des Zweiten Weltkriegs folgt. Im März 2019 wird der Comic unter dem Titel Zusammenbruch als Gesamtausgabe bei Reprodukt erscheinen.

Da man auf einem Bein schlecht stehen kann, ist Pascal Rabaté seit einigen Jahren nicht nur als Comiczeichner, sondern auch als Filmemacher aktiv. Diesen beruflichen Split teilt er sich mit anderen Comicgrößen wie Marjane Satrapi, Riad Sattouf oder Joann Sfar. Nach Dokumentationen und Kurzfilmen konnte er 2010 seinen ersten Spielfilm drehen, eine Adaption seines Comics Bäche und Flüsse. Sein größter kommerzieller Kinoerfolg war die Komödie Ni à vendre ni à louer. Ein gutes Beispiel zur Wechselwirkung zwischen Comic und Film, denn in dem Film sind Anleihen zu erkennen, die an den späteren Comic Rein in die Fluten erinnern.

Rabate@Berlin-17

Nun endlich erscheint mit Der Schwindler der Comic, mit dem Rabaté 1998 der Durchbruch gelungen ist. Es ist die Adaption des oben genannten Romans, in dessen Zentrum mit einem gewissen Semjon Iwanowitsch Newsorow ein durchaus streitbarer Charakter, ein Wendehals, wie er im Buche steht. Es ist die Geschichte von einem, der auszog, sich durch das Leben zu lügen, um seine Schäfchen ins Trockene zu kriegen. Von einem, der mit seinen Musen in Champagner badet, der es aber auch so bunt treibt, dass er brutal unter die Räder gerät. Und vor allem ist es die Geschichte von einem, der immer wieder aufsteht. Im Laufe dieser wechselvollen Geschichte, die zeitlich rund um die russische Oktoberrevolution angesiedelt ist, agiert er als Buchhalter, Kunsthändler, Glücksspieler, Großgrundbesitzer und Geheimagent, als Dandy, Lebenskünstler und verlorener Weltenbummler. Für all das hat er sich verschiedene Identitäten zugelegt, um den Kopf aus den Schlingen zu nehmen, in die der Egoist immer wieder gerät.

In dieser Wendigkeit ist Newsorow eine absolut zeitlose Figur; einem Glücksritter im Internetzeitalter könnte ähnliches widerfahren wie diesem geheimnisvollen Mann. In ausdrucksstarken expressionistischen Tuschezeichnungen in schwarz, grau und weiß folgt der Comic dem Schicksal des Russen, den es aus dem zaristischen Petrograd bis ins ferne Istanbul vertreibt. Neben dem faszinierenden Porträt dieses Mannes entsteht nebenher noch ein Zeit- und Sittengemälde der russischen Gesellschaft im Umbruch, in der Armut und Elend grassieren, während die Futuristen und Anarchisten weltvergessen auf den Tischen tanzen und einflussreiche Männer aus Politik und Militär an einer neuen Gewaltherrschaft stricken.

Rabate@Berlin-19

Schon in dieser frühen Arbeit wird Rabatés Leidenschaft für cineastische Perspektiven deutlich. Er arbeitet hier mit Totalen und Nahaufnahmen, Vogelperspektiven und Überblendungen, zoomt in Szenen hinein und wieder heraus, arbeitet mit Schuss und Gegenschuss. So bekommt diese Geschichte auf der grafischen Ebene eine außerordentliche Tiefe, als Leser bekommt man ein Gefühl für die bedrückende Atmosphäre der Zeit und das Raumgefühl der Figuren, die sich mal auf den Seiten (und in der Welt) verlieren und dann wieder in die Enge getrieben werden. Zugleich unterscheidet sich diese Arbeit in Stil und Herangehensweise fundamental von Rabatés bislang vorliegenden Alben. So düster und ernst geht es in keiner seiner anderen Geschichten zu.

Der Schwindler ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Schwergewicht, zwei Kilogramm bringt der Mammutband auf die Waage. Er ist es aber auch im übertragenen Sinne, insbesondere aufgrund der avantgardistischen Herangehensweise, die man eher im Programm des Berliner avant-verlags vermuten würde als bei schreiber & leser, der eher Mainstreamcomics für Erwachsene aus dem anglo-amerikanischen und franko-belgischen Raum herausgibt. Dieser Band ist im Programm des Verlags ein ziemlicher Stand-Alone und eine kleine Sensation.

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Pascal Rabaté: Der Schwindler. Aus dem Französischen von Resel Rebiersch. Verlag Schreiber & Leser 2018. 544 Seiten. 39,80 Euro. Hier bestellen

Dass es zwanzig Jahre vom Erscheinen des ersten Ibykus-Albums in Frankreich bis zur Publikation dieses in der Übersetzung von Resel Rebiersch vorliegenden Sammelbandes gebraucht hat, hat nichts mit der Qualität dieser außerordentlichen Arbeit, sondern nur mit ihrem Umfang und den Rahmenbedingungen des deutschen Comicmarktes zu tun. Denn es ist in Deutschland immer noch ein verlegerisches Wagnis, 500 Seiten avantgardistische Neunte Kunst zu veröffentlichen. Dafür braucht es Mut, wenn nicht sogar Übermut. Es ist allen Beteiligten zu wünschen, dass dieser Mut – ähnlich wie bei dem großartigen und in seinem Aufwand noch einmal deutlich anspruchsvolleren Mammutprojekt Eternauta im bereits erwähnten avant-verlag – mit Anerkennung und Beachtung belohnt wird.

1 Kommentare

  1. […] wiederholt die iranisch-französische Comickünstlerin und Filmemacherin Marjane Satrapi, die mit »Persepolis« und »Huhn mit Pflaumen« bereits zwei ihrer mehrfach ausgezeichneten Comicarbeiten verfilmt hat, […]

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