Literatur, Roman

Der König der Gaukler

Daniel Kehlmanns Eulenspiegel-Roman »Tyll« ist ein episches Panorama des Dreißigjährigen Krieges.

Es riecht bestialisch, als Pfalzgraf und Kurfürst Friedrich V. mit seiner kleinen Gesandtschaft das Lager des mächtigen Schwedenkönigs Gustav Adolf Wasa erreicht. Ein beißender Gestank treibt den Reitern die Tränen in die Augen, hervorgerufen von den Exkrementen hunderttausender Menschen. Es stinkt aber auch »nach Wunden und Geschwüren, nach Schweiß und nach allen Krankheiten, welche die Menschheit kannte.« Den Protagonisten in Daniel Kehlmanns neuem Roman erscheint dieser pestilenzartige Gestank sogar als »giftige gelbe Verdichtung der Luft«, die ihren Preis verlangen wird.

Zeuge dieser Ereignisse ist ein gewisser Tyll Ulenspiegel, der von Friedrich V. aus der Gefangenschaft befreit worden ist. Doch statt sich dankbar zu zeigen, begrüßt er seinen korpulenten Befreier mit hämischen Worten. »Wieso bist du so fett? Es gibt doch nichts zu fressen, wie machst du das?« Was folgt, ist nicht etwa eine saftige Schelle, sondern ein absurder Dialog, der den Ursprung des Wortes »Narrenfreiheit« nahebringt. »Wenn ich die Majestät nicht saublöd nenne«, wirft der hagere Schalk da etwa ein, »wer soll das sonst tun? Einer muss es doch.«

Till Eulenspiegel ist eine der bekanntesten Figuren in der deutschen Literatur. Die im 17. Jahrhundert herausgegebene Schwanksammlung unbekannter Herkunft fand begeisterte Leser in ganz Europa, weil der titelgebende bauernschlaue Nepper darin sowohl Adlige als auch Bauern mit Mut und Witz hinters Ohr führt. »Tyll« ist, anders als der Titel vermuten lässt, kein literarisches Porträt jener historischen Figur, sondern ein Sittenbild des Dreißigjährigen Krieges. Es ist ein Gauklerstück, für das er den Eulenspiegel aus dem 14. Jahrhundert in den zweihundert Jahre später tobenden Krieg zwischen Katholiken und Protestanten versetzt. Er stellt ihm außerdem eine illustre Schar widersprüchlicher Figuren zur Seite – angefangen bei dem um Nachsicht bittenden Henker Tilman über den brutalen Schalk Pirmin, den sprechenden Esel Origines oder das heimatlose Königspaar von Böhmen bis hin zu einigen fanatischen Jesuiten, die sich am Ende als die größten Anti-Christen offenbaren. Ihre und einige andere Schicksale führt der Autor von Erfolgsromanen wie »Ich und Kaminsky«, »Die Vermessung der Welt«, »F« oder »Ruhm« im fiktiven Lebensweg seines Tyll Ulenspiegel zusammen. Dieser wird so zum Zeugen der Ereignisse und Ränkespiele im Dreißigjährigen Krieg.

Daniel Kehlmann: Tyll. Rowohlt Verlag 2016. 480 Seiten. 22,95 Euro (Taschenbuch 12,- Euro). Hier bestellen

»Der Krieg war bisher nicht zu uns gekommen«, lautet der erste Satz des Romans. Und schon hier klingt an, dass es mit dem Frieden gleich vorbei ist. Tatsächlich regieren einige Seiten später Gewalt und Tod. Kehlmanns kaum zu greifender Erzähler aber ist, wie der titelgebende Schalk, ein Verführer. Er beschreibt einen atemberaubenden Auftritt von Tyll Ulenspiegel, der über den Köpfen einer staunenden Menschenmenge über ein Seil läuft. Es dauert nicht lang, da provoziert der teuflische Gaukler die Menge und Gewalt bricht aus. Die Handlung führt »vorbei an den sich prügelnden, sich wälzenden, einander beißenden, weinenden, schlagenden Leibern« und gipfelt in der Flucht des Provokateurs. Was entfernt an Patrick Süßkinds bacchanalisches Finale in »Das Parfüm« erinnert, symbolisiert hier die Grenze zwischen Frieden und Krieg. »Ein gutes Jahr später kam der Krieg doch zu uns«, heißt es kurz darauf und das Meucheln und Morden der Söldnerheere, die das Heilige Römische Reich Deutscher Nationen von 1618 bis 1648 im wahrsten Sinne des Wortes in ein Schlachtfeld verwandelt haben, gewinnt die Oberhand. Mit denen befasst sich Kehlmann jedoch nur ausschnittweise, er weiß, warum. Denn niemand hat die Gewaltexzesse, religiösen Heilsvorstellungen und sozialen Verhältnisse besser beschrieben als Alfred Döblin in seinem »Wallenstein«-Roman.

Man kann vom Dreißigjährigen Krieg natürlich nicht erzählen, ohne Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens Schelmenroman »Der abentheuerliche Simplicissimus Teutsch« zu erwähnen. Darin beschreibt jener einfache Allerweltbursche seine Erlebnisse im Krieg und führt das tragische Schicksal der Bauern von Anfang an detailliert vor Augen. Beim Überfall auf den väterlichen Hof wird etwa die Magd derart »traktiert«, dass sie nicht mehr aus dem Stall gehen kann und ein Knecht von den kaiserlichen Soldaten so lang mit Seilen gewürgt, dass ihm »das Blut zu Mund, Nase und Ohren heraussprang«. Diese plastische und bilderreiche Sprache findet man auch hier wieder.

Daniel Kehlmann: Kommt, Geister. Rowohlt Verlag 2016. 176 Seiten. 19,95 Euro (Taschenbuch 9,99 Euro). Hier bestellen

Der Einfluss von Grimmelshausen auf diesen Roman ist ebenso wenig zu übersehen wie der von William Shakespeare. Wer Kehlmanns gleichzeitig erschienene Frankfurter Vorlesungen (»Kommt, Geister«) kennt, den wundert beides nicht. Dort schreibt er voller Bewunderung nicht nur der »Entdeckung der Stimme« als letzter Bastion des Vertrauens im Simplicissimus, sondern schwärmt auch von Shakespeare, der uns heute noch sagt, »was es bedeutete, auf der Welt zu sein, als es uns noch nicht gab«. Beides führt der Deutsch-Österreicher meisterhaft in der Schilderung der Schlacht von Zusmarshausen zusammen. Dort setzt sein Erzähler, der mehr Stimme als Figur ist, das Blutbad eindrucksvoll ins Bild, ohne die Unmöglichkeit, davon zu erzählen, zu unterschlagen. Der lebendige Eindruck vom barbarischen Leiden und Sterben bleibt davon faszinierenderweise unbeeinträchtigt.

»Tyll« ist eine rasante Kamerafahrt, die von den Schlachtfeldern des Krieges in die diplomatischen Hinterzimmer der europäischen Königshäuser führt, wo Besitztümer verschoben und Landstriche samt Bewohnerschaft geopfert werden. Seit von Grimmelshausen hat niemand mehr so schonungslos und augenöffnend den Dreißigjährigen Krieg in all seinen grausamen, tragischen und absurden Dimensionen beschrieben. Dazu tragen auch die messerscharfen und altklugen Lektionen des Gauklerkönigs bei, der am Ende beschließt, lieber gar nicht als friedlich zu sterben. Das ist ihm gelungen.

Eine etwas kürzere Fassung dieses Textes ist im Rolling Stone 11/2016 erschienen.

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