Comic

Die verführerische Kraft des Schauspiels

© Thomas Hummitzsch

Der amerikanische Comiczeichner Nick Drnaso hatte mit »Sabrina« als erster Comiczeichner überhaupt eine Nominierung für den Booker Prize erhalten. In seinem neuen Comic blickt er erneut in den Abgrund der Gesellschaft.

Manchmal ist es nicht viel mehr als Verzweiflung oder Langeweile, die Menschen zusammenführt. Wie in dem Schauspielkurs, der Nick Drnasos neuer Arbeit ihren Titel gibt. Da ist Angel, eine junge Frau, die wir zunächst als ungebetenen Gast kennenlernen, der nicht weiß, wann er zu gehen hat. Sie steht allein im Leben, fühlt sich einsam. Im Kurs hofft sie (wie einige andere auch), Anschluss zu finden und neue Kontakte zu knüpfen. Mit ihrer ungefilterten Ehrlichkeit eckt sie aber immer wieder an. Als sie dann aber verschwindet und auch bei ihrem Job nicht mehr auftaucht, machen sich andere plötzlich Sorgen um sie, während sie das Gefühl hat, sich endlich mal um sich selbst zu kümmern.

Eine andere Teilnehmerin ist Rayenne, eine junge Mutter, die mit ihrem dreijährigen Sohn Marcus latent überfordert ist. Was auch daran liegt, das Marcus Gespenster sieht und entsprechend angstgetrieben durch die Welt geht. Um an dem Kurs teilzunehmen, muss Rayenne immer wieder jemanden finden, der sich um den Jungen kümmert, bis sie ihn eines Tages mit in den Kurs bringt.

Gloria und Beth besuchen den Kurs gemeinsam, Beth lebt bei ihrer Großmutter, seit ihre Mutter von einem Tag auf den anderen auf Nimmerwiedersehen verschwand. Beide verbindet ein Trauma, was Gloria permanent Schuld gegenüber ihrer Enkelin empfinden lässt, während Beth im Leben nicht so richtig auf die Beine kommt.

Nick Drnaso: Acting Class. Aus dem Englischen von Karen Köhler und Daniel Beskos. Verlag Blumenbar 2022. 268 Seiten. 28,- Euro. Hier bestellen.

Ein weitere Besucher des Kurses ist Tom, der ein massives Selbstwertproblem mit sich herumträgt, dass im Laufe der Geschichte zu einem fatalen Gewaltausbruch führen wird. Rosie und Dennis sind ein paar, aber auch sie haben ihre Issues. Von dem Schauspielkurs erhoffen sie sich, andere Perspektiven auf ihre Wünsche und Probleme entwickeln zu können, um besser darüber ins Gespräch zu kommen.

Lou, Danielle und Neil sind drei weitere Protagonist:innen, die an der »Acting Class« in der Volkshochschule einer amerikanischen Kleinstadt teilnehmen. Geleitet wird der Kurs von John Smith, einem grauhaarigen Mann, der zwar viel Einfluss im Laufe dieser Geschichte nimmt, von dem die Kursteilnehmer:innen (und damit auch wir) so gut wie gar nichts erfahren. Relativ schnell wird aber klar, worauf John in seinem Kurs setzt. Statt große Erklärungen zu machen und über die Kunst Schauspiels zu philosophieren, holt er die Teilnehmer:innen aus ihrer vertrauten Sicherheit und lässt sie in spontanen Übungen miteinander in Kontakt treten. Dabei sollen sie entweder in selbst gewählte Rollen schlüpfen oder in Traumreisen andere Welten imaginieren.

Der Comic – umgesetzt in reduzierten Zeichnungen mit klaren Linien, wie Chris Ware oder Adrian Tomine ihre Geschichten bauen – lässt uns dabei in die Köpfe der einzelnen Protagonist:innen schlüpfen und lässt uns so an diesem Impro-Laientheater aus Innenperspektive teilhaben.

Das ist aus zweierlei Gründen spannend. Zum einen entwickelt sich dabei jede Übung zu einer Art Seelenstriptease, bei dem die tiefsten Sorgen und Ängste, aber auch die größten Hoffnungen und Wünsche der Teilnehmenden zutage treten. Zum anderen entwickelt sich dabei der zunehmend dubios wirkende Kursleiter John zum Manipulator, indem er das Schauspiel zum Mittel der schonungslosen Ehrlichkeit erklärt und die Geschichten in die Extreme führt.

Unweigerlich entstehen dabei Verbindungen und Beziehungen, die in den jeweiligen Szenen und darüber hinaus eine unerwartete Dynamik bekommen. Sie reichen von quasi-sexuellen Begegnungen bis hin zu Mord- und Totschlag, handeln von einengender Einsamkeit und befreiender Weltflucht.

Man könnte all diese Geschichten als Hirngespinste abtun, wäre da nicht Drnasos grafische Inszenierung dieser Geschichte. Er erzählt dieses Über- und Nebeneinander der jeweiligen Lebenswirklichkeiten und Fantasien der zehn Protagonist:innen übergangslos, so dass die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwimmt. Bald wissen weder die Kursteilnehmenden noch die Leser:innen dieser Geschichte, wo die Grenze verläuft und ob sie sich gerade in der echten oder der imaginierten Welt bewegen. Entsprechend weiß man bald schon nicht mehr, was inszeniert und was echt ist.

Nick Drnaso ist ein Meister der Verführung, wie er schon in »Sabrina« bewiesen hatte. Dort erzählte er die Geschichte eines Verbrechens, um es dann mit den Mitten von Verschwörung und Fake unter den Trümmern des Informationskriegs zu begraben. Zugleich ist dieser Comic ein Porträt des emotional ausgebrannten Amerikas. Die innere Leere der Menschen spiegelt sich in der Tristesse ihrer gebeugten Haltung, der leeren Räume und grauen Landschaften.

Der 33-jährige Nick Drnaso war alles andere als ein Unbekannter, als er 2018 für den wichtigsten Literaturpreis der englischsprachigen Welt nominiert wurde. Schon sein Debüt »Beverly« war preisgekrönt, gewann den renommierten Buchpreis der LA Times und war für vier Ignatz-Awards nominiert. Eigentlich höchste Zeit, dass diese Geschichte über eine Gruppe von Teenagern mit Ängsten und Sehnsüchten in einer deutschen Übersetzung erscheint.

»Acting Class« schließt nahtlos an »Sabrina« an, in beiden Alben herrscht Beklemmung und Tristesse. Das Inventar ist nicht dazu da, die Offenheit der Welt zu zeigen, sondern dient einzig und allein der Auskleidung der Sackgassen, in die sich die Figuren verirrt haben. Dabei spielt er mit dem Horror Vacui der Leser:innen (und irgendwie auch mit dem der Protagonist:innen), die diese rätselhafte Leere dieser Welt mit Bedeutung füllen. Sie sind geneigt, in den seltsamen Szenen und Improvisationen die wahren Charaktere der Figuren zu vermuten. So entsteht bei der Lektüre dieses Comics der Eindruck, man würde einer Gruppentherapie beiwohnen.

Dazu tragen auch die lakonischen Dialoge bei, die – wie schon bei »Sabrina« – von der Autorin Karen Köhler und Mairisch-Verleger Daniel Beskos ins Deutsche übertragen wurden. Dabei haben sie der Versuchung widerstanden, die zuweilen recht rätselhaften Äußerungen der Protagonist:innen in schnell erfassbare Bedeutungseinheiten zu überführen. So dringt das Spiel der Irreführung, das auf der erzählerischen und grafischen Ebene konsequent betrieben wird, bis auf die sprachliche Ebene durch. Wie bedeutend das ist, wird erst am Schluss klar, wenn die Geschichte noch einmal einen besonderen Turn bekommt. Aber davon sollte sich jede:r Leser:in selbst überzeugen.

Das bisherige Werk von Nick Drnaso

Nick Drnaso ist der Kafka der Neunten Kunst. Seine Arbeiten spiegeln allegorisch den Wahnsinn, in dem wir uns bewegen. Sein neuestes Album »Acting Class« ist ein Spiegelkabinett der menschlichen Seele, in dem man sich mit jeder Seite mehr und mehr verläuft.