Der langjährige Hanser-Verleger und Literat Michael Krüger stellte in Berlin seine Lieblingsbücher vor und schwelgte vor allem in der jüdisch-osteuropäischen »Literatur der Beiläufigkeit«. Besonders angetan zeigte er sich von Danilo Kiš, Robert Walser und Franz Kafka sowie von Mercè Rodoreda und Botho Strauß.
»Ich höre die Güterwagen,
die durch dein Leben fahren,
Zwischen den Schwellen
Höre ich deine Stimme,
die noch nicht weiß,
daß wir uns an sie erinnern müssen.«
Diese Zeilen sind dem Gedicht »Zur Erinnerung« aus dem aktuellen Lyrikband des ehemaligen Hanser-Verlegers Michael Krüger entnommen. Umstellung der Zeit hat er seine Gedichte überschrieben; kein Zufall, steckt er doch selbst mitten in dieser Umstellung. Seit dem letzten Jahr ist er offiziell »Nicht-Mehr-Verleger« der renommierten Münchener Hanserverlage. Zugleich bleibt er aber auf Lebenszeit »der legendäre Verleger«, wie es auf dem Ankündigungsplakat der Berliner Buchhandlung Uslar & Rai heißt. Diese hatte den in Berlin aufgewachsenen Verleger eingeladen, über seine Lieblingsbücher zu sprechen. Vor ihm hatten dies unter anderem schon der Journalist und Autor Roger Willemsen, der Verleger Klaus Wagenbach, die Schriftstellerin Eva Menasse und der Filmkritiker (Kinoking) Knut Elstermann getan.
Die kleine Veranstaltungsreihe »Die Lieblingsbücher von …« gehört zu den schönsten, die es in Berlin gibt. Und das heißt einiges auf dem umkämpften Büchermarkt, wo kleine Kiezbuchhandlungen wie Uslar & Rai in Konkurrenz zu Deutschlands größtem Kulturkaufhaus stehen. Nicht immer einfach, wie die inzwischen wohl unabwendbare Pleite der sympathischen Buchhandlung Ocelot, not just another bookstore belegt.
Aber auch im Amazon-Zeitalter sind es die Buchläden, die neben den Verlagen den Rücken der Literaturbranche bilden. Das weiß der ehemalige Hanser-Chef nur zu gut. »Nichts ist schöner in dieser unzivilisierten Welt als eine Buchhandlung, in der viele Bücher stehen«, sagte er. Er habe immer davon geträumt, in einer solchen Buchhandlung einmal eingeschlossen zu werden, um nachts in allen Büchern blättern zu können (ob es nach der Veranstaltung zu einer entsprechenden Abmachung zwischen Uslar & Rai und Krüger gekommen ist, weiß der Autor nicht). Ein irrwitziger Traum, zumal es sicher nicht allzu viele Menschen gibt, die annähernd so viele Bücher gelesen haben wie Krüger. Sein Satz »Aber das brauch ich euch nicht zu sagen, das habt ihr ja alle gelesen« gedieh zum Running Gag des Abends.
Die Aufgabe, die fünf liebsten Bücher vorzustellen, ist eine irrsinnige, zumal bei einem gelernten Buchhändler und -drucker, der die Welt der Literatur nicht nur niemals verlassen, sondern ihr seinen Stempel aufgedrückt hat. 1968 fing Krüger als Lektor beim Hanser-Verlag an, 1986 übernahm der die literarische Leitung und 1995 dann auch die Geschäftsführung. Die Klärung seiner Nachfolge galt als eine der größten Herausforderungen in der deutschen Buchbranche der letzten Jahre. Entsprechend sensibel war das Thema. Krüger hatte sich nicht sonderlich viele Freunde gemacht, als er 2011 in einem Interview verkündete, dass Verlegen Männersache sei und die weithin anerkannte Elisabeth Ruge – damals gerade als Verlegerin von Hanser Berlin auserkoren – als seine Nachfolgerin nicht infrage käme. 2013 übernahm der vorher bei Dumont tätige Verleger und bei DVA verlegte Autor Jo Lendle das Amt.
Wie sehr Krüger selbst noch mit seinem Verlag verbunden ist, machen Sätze wie »Wenn ich ich sage, meine ich immer den Verlag« deutlich. »Hauptberuflich« ist Krüger inzwischen Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, nebenher reist er viel. Einen Einblick in seine Reisen gab er bei Uslar & Rai, wo er irgendwie am Rande auch einige seiner Lieblingsbücher vorstellte – statt derer fünf ließ er sich gleich mal neun reichen –, vor allem aber eine intime Vorlesung zur Erzähltradition des osteuropäischen Judentums hielt.
Ausgangspunkt seiner literarischen Reise in die Bukowina waren die Romane und Erzählungen des serbischen Schriftstellers Danilo Kiš, die er anlässlich seines 25. Todestages im vergangenen Oktober erneut las. Dieser erzählt in seinem Roman Garten, Asche vom Mord an seinem Vater in Ausschwitz, ohne ein einziges Mal den gewaltsamen Tod des Vaters zu erwähnen. Der Roman ist Teil der so genannten Familienzirkus-Trilogie, die im vergangenen Herbst im Hanser-Verlag erschienen ist. Darin setzte Kiš, Sohn eines ungarischen Juden und einer Montenegrinerin, der mitteleuropäischen Kultur ein Denkmal. Passend zur Neuauflage der Trilogie gibt der Verlag Mark Thompsons Biografie Geburtsstunde. Die Geschichte von Danilo Kiš heraus, die dazu einlädt, mit den Romanen den Autoren kennenzulernen.
Kiš, so Krüger, habe eine Literatur gefunden, die das auszudrücken vermag, wofür der Menschheit buchstäblich die Worte fehlen. Krüger erklärt diese Ausdrucksfähigkeit als »Literatur der Beiläufigkeit«, die das Elementare an den Rändern, in den Nichtigkeiten und im Atmosphärischen verortet. Aus dem Stegreif hielt Krüger eine kleine Vorlesung zur osteuropäischen, jüdischen Literatur, der man stundenlang hätte lauschen können. Er schwelgte in der Literatur von Autoren wie Bruno Schulz, Paul Celan, Isaak Babel, Isaac Singer, Aharon Appelfeld, Imre Kertesz oder Robert Musil. Die jüdische Renaissance in den Städten der k.u.k.-Monarchie und deren anschließende Blüte in der Bukowina habe die eindrucksvollste Literatur hervorgebracht, die man sich vorstellen könne, erklärte Krüger.
Das Beiläufige und Abschweifende, das Krüger an der Literatur so sehr schätzt, zeichnet ihn auch selbst aus. Immer wieder setzte er vom Gespräch über seine Lieblingsbücher und Lieblingsautoren zu intellektuellen Ausflügen in die europäische Geistes- und Kulturgeschichte an. Die Bögen, die er dabei schlug, waren groß und umfassend. Aber er gehört vielleicht zu den Letzten, die überhaupt noch in der Lage sind, solche Bögen zu schlagen. »Zwischen den Schwellen | Höre ich deine Stimme, | die noch nicht weiß, | daß wir uns an sie erinnern müssen«, hieß es in seinem Gedicht eingangs. Krüger hört diese Stimmen tatsächlich noch, die Generation nach ihm wird sich an sie maximal in geschriebener Form erinnern. Ihr fehlt die Basis der eigenen Erfahrungen und Bekanntschaften, um dieses Erbe in dieser gleichermaßen emphatischen wie empathischen Weise zu bewahren.
Musil gehörte neben Franz Kafka schon in den Zwanziger Jahren zu den wenigen Lesern eines unterschätzten Autors, den Krüger besonders gern liest. Die Rede ist von Robert Walser, dem »großen Beobachter seiner Zeit«, der statt des Naheliegenden und Offensichtlichen immer das Nicht-Repräsentative und Nebensächliche dargestellt hat. Exemplarisch las Krüger aus der Berlin-Geschichte »Aschinger« vor, in der Walser seine Beobachtungen in dem Altberliner Gasthaus festhielt. Das Gegenstück zu dieser Geschichte – und hier wurde nicht nur Krügers Belesenheit, sondern auch dessen tiefe Verankerung in der Kultur des Schriftguts offensichtlich – finde man bei Elias Canetti, der in seiner Autobiografie eine Szene mit Isaak Babel an den Stehtischen des Gasthauses beschreibt.
Ähnliche Gasthäuser gab es in Prag zur Zeit von Franz Kafka. Dieser »unerhörte Schriftsteller« ist eine Klasse für sich, „an dem man nicht vorbeikommt“, wenn man sich mit dem Schreiben beschäftigt. Krüger selbst liest ihn »ganz zur Befriedigung meiner Lust«, Kafkas Tagebücher liegen in verschiedenen Auflagen neben seinem Bett. Selbst in den kleinsten Stücken könne man erkennen, welch außerordentliche Beobachtungsgabe diese »eigentümliche Person« gehabt habe.
Entsprechend »beglückt« sei er vom abschließenden Band der dreibändigen Kafka-Biografie von Reiner Stach (bei S. Fischer) gewesen. »Ein ganz herrliches Buch« sei dessen Darstellung der frühen Jahre Franz Kafkas (hier unsere Besprechung), weil dieser nicht nur aufzeige, woher Kafkas Marotten kamen, sondern weil er »die letzte große Emanation der deutschen Kultur« in voller Pracht entfalte. Vor der gut zweimonatigen Aufgabe, Stachs dreibändige Kafka-Biografie zu lesen, solle man sich nicht abhalten lassen. »Wenn Sie Zeit haben, sollten Sie das unbedingt mal studieren« meinte Krüger, um gleich noch die Essays von W. G. (Winfried Georg) Sebald – dessen Künstlerporträts unter dem Titel Logis in einem Landhaus jetzt neu erscheinen – begleitend ans Herz zu legen.
Der Verleger will niemanden zur Lektüre überreden. »Bücher, die contre cœur sind, sollte man nicht lesen. Das ist verschwendete Lebenszeit.« Stattdessen ermunterte der bestens aufgelegte Krüger, dem eigenen literarischen Instinkt zu folgen und seine persönliche »Bibliothek des Herzens« aufzubauen. »Literatur ist dazu da, dass sie jeder für sich entdeckt, und nicht, dass alle das Gleiche lesen.« Damit nicht alle das Gleiche lesen – die kritischen Blicke auf die für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Titel sowie die neuen Werke großer Autoren wie T. C. Boyle (Hart auf Hart), Ian McEwan (Kindeswohl), Fréderic Beigbeder (Oona & Salinger), Milan Kundera (Das Fest der Bedeutungslosigkeit), James Ellroy (Perfidia), Hunter S. Thompson (Gonzo-Briefe 1958-1976. Die Odyssee eines Outlaw-Journalisten), Irene Dische (Amerikanische Hochzeit), Alexander Osang (Comeback) oder Thomas Brussig (Das gibt’s in keinem Russenfilm) werden in den nächsten Wochen ohnehin den Anschein erwecken wollen, man müsste gerade bestimmte Bücher lesen –, gab Krüger noch zwei Romane mit auf den Weg, die nicht in der ersten Reihe der Büchertische liegen.
Zum einen schwärmte er von der 1983 verstorbenen katalanischen Autorin Mercè Rodoreda und ihrem im Mare-Verlag erschienenen Roman Der Garten über dem Meer, den er vom Stil her mit Giovanni Boccaccios Decamerone verglich. Noch vier Wochen nach der Lektüre erinnerte er sich freudig erregt an die Lektüre. Dieses »sorgfältig präsentierte« Buch habe ihn »direkt ins Herz getroffen«. Es gehöre zu den wenigen Büchern, die er, gerade beendet, gleich noch einmal zu lesen begonnen habe, gestand er. Zum anderen legte Krüger Botho Strauß’ Roman Herkunft ans Herz, weil der von ihm sehr geschätzte Berliner Autor darin einen wunderbaren Ton gefunden habe, um über die Vätergeneration – die ja auch Tätergeneration ist – zu sprechen. Auch ihm sei es gelungen, Worte für das Unsagbare zu finden – mehr kann Literatur nicht leisten.
Nachtrag: Ganz am Rande lieferte Michael Krüger mit dem Satz »Ich sehe jünger aus, bin aber älter!« noch die verbale Blaupause für all jene, die mit ihren Altersneurosen zu kämpfen haben. Ein Satz, der, ohne auszuteilen, in alle Richtungen entwaffnet. Man kann ihn sich auch auf seinem nächsten Buchtitel vorstellen. Vielleicht wenn die Umstellung der Zeit erfolgt ist.
[…] Bekannte und Unbekannte wie Jürgen Fuchs, Melvin Lasky, Jerzy Giedroyc, Zofia Hertz, Milan Kundera, Pavel Kohout, Hans Sahl, Raissa Orlowa-Kopelewa, Arthur Koestler, Horst Bienek, Edgar Hilsenrath, […]
[…] mit Literaturübersetzer Bernhard Robben, der zuletzt Werke von John Burnside, Ta-Nehisi Coates, Ian McEwan oder John Wray ins Deutsche übertragen hat. Man erinnere nicht das konkrete Ereignis, sondern die […]
[…] gespickt mit Anekdoten, die selbst kafkaesk anmuten. Etwa dass Ester Hoffe in den achtziger Jahren den damaligen Hanser-Verleger Michael Krüger mit einem Gespräch im Treppenhaus abspeiste, als er sie aufsuchte. Er wollte zu Kafkas 100. […]
[…] dieser Weltregionen greift die Erzählung spielerisch auf und webt sie ein, etwa wenn Bezüge zu Milan Kundera oder Boris Vian hergestellt und Verweise zu Roberto Bolaños »Die wilden Detektive« oder zu […]