Endlich kann man Mary Hunter-Austins Essays über den amerikanischen Westen in deutscher Übersetzung entdecken. Ihr phänomenales Prosadebüt »Wo wenig Regen fällt« besticht durch genaue Beobachtung und Poesie.
Im Südwesten der USA erstreckt sich ein Gebiet, dass die amerikanischen Ureinwohner mal als »Land der verlorenen Grenzen«, dann wieder als »Land der verlorenen Flüsse« und zuweilen auch als »Land der drei Jahreszeiten« beschreiben. Die US-amerikanische Schriftstellerin und Aktivistin Mary Hunter-Austin hat fast ihr ganzes Leben im Westen der USA verbracht. Als sie 1903 ein Buch über die Flora und Fauna in der Mojave-Wüste veröffentlichte, entschied sie sich für eine vierte, ebenfalls indianische Bezeichnung. Sie sprach vom »Land of Little Rain«, dem Land, »wo wenig Regen fällt«, wie nun die beglückende Erstübersetzung ihres gleichnamigen Nature-Writing-Klassikers von Alexander Pechmann heißt.
120 Jahre nach dem Erscheinen hat dieses Werk nichts von seiner Kraft und Poesie verloren. Die darin versammelten Essays lassen majestätische Landschaften vor dem inneren Auge entstehen, halten das existenzielle Kommen und Gehen des Lebens fest, beschreiben die faszinierenden Anpassungs- und Überlebensstrategien von Flora und Fauna und dokumentieren ethnografisch das Leben von Ute, Paiute, Mojave, Schoschonen sowie der neuen Siedler, die sich dieser Landschaft aussetzen. Ein Wagnis, wie Hunter-Austin gleich auf den ersten Seiten deutlich macht. »Egal, wie weit sie es wagen, ins Herz eines einsamen Landes vorzudringen, Leben und Tod werden stets vor Ihnen da sein.«
Mary Hunter-Austin wurde am 9. September 1868 in Illinois geboren. Noch als Kind verlor sie Vater und ältere Schwester und begann zu schreiben. Sie studierte Psychologie und Botanik, zog 1888 mit ihrer Familie nach Kalifornien und lernte dort ihren späteren Ehemann Wallace Austin kennen, der ihr versprechen musste, sie dabei zu unterstützen, Schriftstellerin zu werden. 1892 erschien ihre erste Kurzgeschichte, die vom Schicksal mexikanischer Wanderarbeiter nördlich von Los Angeles handelt. In den folgenden Jahren erschienen weitere Texte über den amerikanischen Westen, seine Bewohner und Natur. Sie bilden die Grundlage für ihr Debüt »Land of Little Rain«, das bis heute das vibrierende Zentrum ihres Werkes bildet.
Über zehn Jahre lang hat Hunter-Austin die Gebiete des amerikanischen Westens erkundet. Dabei hat sie sich nicht wie der Urvater des modernen Nature Writing Henry David Thoreau jahrelang in die Wildnis zurückgezogen, sondern ist den Wasserwegen des Ceriso gefolgt, hat den Tafellandpfad beschritten, hat Bergstraßen und Ufersäume erforscht und die vielen kleinen Städte der Siedler erkundet.
In ihren Texten schreibt sie über das »Plappern der Wasserläufe«, den »Geruch des Salzgraslandes« und das blaue »Licht, das durch die Schneewände dringt«. Sie berichtet von »Wurzeln, die sieben Jahre unter dem Sand liegen und auf Regen warten« und der »Reifezeit der Erdmandel, bevor die Lachse zu springen beginnen«. Auf faszinierende Weise fängt sie das Leben in diesen unwirtlichen Gebieten ein, porträtiert die Kojoten (»unser eigentlicher Wasserhexer«) und Kaninchen (»ein dummes Volk«), Wachteln (»die glücklichsten Nutzer der Wasserwege«) und Raben (»der am wenigsten abstoßende unter den heimischen Aasfressern«). Wir lesen aber auch vom tagelangen Martyrium eines sterbenden Rindes, werden Zeuge der Dramen, die Unwetter über die lokale Fauna bringen und begreifen mit jeder Zeile mehr die grausame Ökonomie der Natur. Etwa wenn eine Pumahöhle von einem Bergrutsch verschüttet wird und die Mutter tagelang um ihre Kinder weint. »Nach einer Zeit lernt man, diese Dinge aus der Perspektive der Götter zu betrachten, um kein übermäßiges Mitleid empfinden zu müssen«, kommentiert Hunter-Austin dies lakonisch.
Man merkt diesen Essays und Reportagen an, dass sich Hunter-Austin voll und ganz auf diese Landschaft eingelassen und, wenn nötig, in ihr aufgelöst hat. Dabei ging es ihr nicht darum »dem eigentlichen, wirklich Leben näherzutreten«, wie es Thoreau in seinem Klassiker »Walden oder Leben in den Wäldern« formuliert, sondern von denen zu lernen, denen diese Landschaft und Natur am vertrautesten ist. »Lebe lang genug mit einem Indianer und er wird oder die Wildtiere werden dir zeigen, dass jedes Gewächs auf diesem Gebiet einen Zweck erfüllt.«
Die Schriftstellerin, deren durchdringender Blick in einem Porträt mit Cowboyhut festgehalten ist, gilt als eine der ersten Kämpferinnen für die Reche der amerikanischen Ureinwohner. Dies klingt auch hier an, wenn sie Hymnen auf die Künste von Medizinmann Winnenap’ oder der Korbflechterin Seyavi singt. »Seyavis Schalen sind Wunder an technischer Präzision, innen wie außen; die Handfläche kann an ihnen keinen Makel aufspüren, doch die raffinierteste Wirkung liegt in dem Gefühl, das uns auf die Menschlichkeit aufmerksam macht, in der das Muster sich in den nach außen gewölbten Rand der Schale ausbreitet.« Zugleich dokumentiert sie das traurige Schicksal der Clans, »die einst über die Erde herrschten und nun zu bedauernswerten Anhängseln verkommen sind«, seit die Goldsucher und ihr Gefolge in das Land eingedrungen sind. Dabei gäbe es von den alten Indianerfrauen so viel »über das Leben zu lernen, das in keinen Büchern steht, Märchen, Geschichten über die Hungersnot, über Liebe, langes Leid und Sehnsucht, aber ohne Wehklagen.«
Nach »Wo wenig Regen fällt« veröffentlichte Hunter-Austin noch viele weitere Bücher, die sich mit den Menschen und Landschaften des amerikanischen Westens auseinandersetzen. Diese bilden, wie Alexander Pechmann in seinem erhellenden Nachwort schreibt, nur einen Teil des Oeuvres der amerikanischen Schriftstellerin, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts Freundschaften zu den einflussreichsten Schriftstellern ihrer Zeit pflegte. Sie bewegte sich im Umfeld von Sinclair Lewis, Jack London, Henry James, William Butler Yeats, George Bernhard Shaw und Herbert George Wells, nahm an Demonstrationen von Suffragetten teil und engagierte sich neben Aktivistinnen wie Emma Goldman für Frauenrechte. Dieses Engagement, aber auch ihr Interesse für philosophische und spirituelle Fragen durchdringen ihr Werk vom ersten Moment an.
Die in der großartigen Übersetzung von Alexander Pechmann ebenso poetische wie mitreißende Prosa der Amerikanerin ist durchdrungen vom Willen, die Welt in all ihrer Brutalität und Schönheit zu erfassen. Stellt sie gerade noch nüchtern auf die Regeln der Natur ab, ist sie kurz darauf beseelt von der göttlichen Kraft des Lebens. Etwa wenn sie die Wolken beobachtet und diese »Zöglinge des Himmels« als »die sichtbare Manifestation der Weltenseele, die sich in der Leere bewegt«, beschreibt.
Nur der moderne Mensch scheint von all dem wenig zu verstehen, wie Hunter-Austin mit dem genauen Blick der Umweltaktivistin beobachtet. »Der Mensch, der durch die Wälder streift, ist ein großer Tölpel, und niemand außer dem Bär macht so viel Lärm. … Der listigste Jäger wird seinerseits gejagt, und was er an Beute übrig lässt, ist die Nahrung für andere. Das ist die Ökonomie der Natur, doch bei alledem wird den Werken des Menschen nicht ausreichend Beachtung geschenkt. Es gibt keinen Aasfresser, der Blechbüchsen frisst, und kein wildes Tier hinterlässt ähnlich viel Dreck auf dem Waldboden.«
Wohin diese Lebensart führt, auch das hat dieser »Mensch der Zukunft«, wie der Fotograf Ansel Adams sie einmal nannte, mit geradezu prophetischer Genauigkeit vorausgesagt. »In einer Umwelt aus asphaltierten Straßen züchten wir ein Volk heran, dessen Glaubensbekenntnis vor allem darin besteht, die Lebensweise anderer Menschen einzuschränken«. Hellsichtig und barmherzig – die betörenden Texte von Mary Hunter-Austin sind ein säkulares Gebet an das Mysterium der Welt.
Eine kürzere Fassung des Beitrags ist in der taz – die tageszeitung erschienen.