Erzählungen, Literatur, Lyrik, Roman

Die Gunst der Stunde unterm Apfelbaum

Wortgarten Festival in der Uckermark | Foto: Thomas Hummitzsch

Beim »Wortgarten«-Festival für Literatur und Musik in der Uckermark lasen zahlreiche Literaturpreisträger aus noch unveröffentlichten Texten. In traumhafter Kulisse kamen sich Literaturszene und Publikum so nah wie selten. Ein Bericht.

Zigarettenautomat, Garage, Kieker, Töpferei und Dorfarchiv – alles ist da, und doch ist meist Nichts zu sehen. In Saša Stanišićs Kopf ist in Fürstenwerder noch alles genau so, wie er es in seinem Uckermark-Epos Vor dem Fest, mit dem er im letzten Frühjahr den Preis der Leipziger Buchmesse gewann, beschrieben hat. Beim »Wortgarten«-Festival am Wochenende führte er zum ersten Mal etwa einhundert Interessierte durch das Dorf, das seinem Fürstenfelde als Vorlage diente. In zwei amüsanten Stunden zeigte der Autor seinen Lesern das echte Fürstenwerder und ließ das fiktive Fürstenfelde vor ihren Augen entstehen. Immer wieder deutete er ins Leere und beschrieb eindringlich, dass dort Anna Kranz’ prächtiger Hof zu sehen und man hier nun an der Stelle angekommen sei, wo die alte Malerin in den See geht. Ullis legendäre Garage dürfte »irgendwo bei den Neubaublöcken dahinten« sein und den Zigarettenautomaten, den Herr Schramm erst erschießt und dann mit einem Traktor ausreißt, vermutet er neben der Pension »Alte Molkerei«. Literatur ist eben vor allem die Imagination der Wirklichkeit.

Was man in der Realität findet, ist die Keramikwerkstatt von Frau Reiff. Es ist die alte Schmiede, in der Annett Schröder ihre Töpferei eingerichtet hat. Als Stanišić mit seinem Gefolge unangekündigt bei ihr einfällt, ruft er ihr lachend entgegen: »Hallo Annett, ich habe mal so eben neunzig Leute mitgebracht.« Ein Satz, den man auf dieses gesamte Sommerwochenende mit Literatur und Musik unterm Obstbaum übertragen kann, zu dessen Höhepunkten zweifelsohne Stanišićs unterhaltsame Ortsführung gehörte. Denn irgendwie hatte jeder Besucher hier noch jemanden im Schlepptau, um das eine Angenehme mit dem anderen zu verbinden. Die Uckermark genießt nicht umsonst den Ruf der »Toskana des Nordens«; in den Tälern und Senken dieser idyllischen Hügellandschaft breiten sich zahlreiche Seen aus, die an einem warmen Wochenende wie dem vergangenen eine willkommene Erfrischung versprechen. Aber zumindest zeitweise zogen die knapp 600 Festivalbesucher die Literatur dem See vor und erlebten in Scheune, Schafstall oder auf der Wiese zahlreiche renommierte Künstler hautnah.

Allein das Line-Up des »Wortgartens« ließ jedes Literaturherz höher schlagen. Unter den 20 Autoren waren mit Jan Wagner, Saša Stanišić, Georg Klein und Ingo Schulze gleich vier Gewinner des Leipziger Buchpreises. Kathrin Schmidt, 2009 für ihren Roman Du stirbst nicht mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, führte die Riege der fünf Bachmann-Preisträger an, zu denen neben ihr Jan Peter Bremer, Georg Klein, Katja Lange-Müller und Tilman Rammstedt gehörten. Zu diesen Klagenfurt-Siegern gesellten sich Jan Böttcher, der 2007 den Ernst-Willner-Preis beim Wettlesen am Wörthersee gewann, Karsten Krampitz, 2009 an gleicher Stelle mit dem Publikumspreis ausgezeichnet, sowie Karen Köhler, die im vergangenen Jahr krankheitsbedingt nicht in Klagenfurt lesen konnte, nach einer Solidaritätslesung ihres Verlegers aber zur Siegerin der Herzen gekürt wurde. Ihr Erzählungsband Wir haben Raketen geangelt avancierte zu einem der meistgefeierten Bücher des Herbstes. Darüber hinaus konnten von den anwesenden Autoren Kirsten Fuchs und Tilmann Rammstedt bereits beim Open-Mike reüssieren, übrigens ebenso wie Mitorganisatorin Lucy Fricke. Mit Finn-Ole Heinrich war außerdem auch noch ein Träger des Deutschen Jugendliteraturpreises im Kinderprogramm am Start.

Wortgarten

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In und um Fürstenwerder rührte Buchhändler Nils Graf ordentlich die Werbetrommel

Über ein solches Schaulaufen der deutschen Literaturbohême würde man sich nicht wundern, befände man sich bei der Lit.Cologne oder dem Internationalen Literaturfestival in Berlin, das im September stattfindet. Bei einem Lesefest unter Obstbäumen in der brandenburgischen Provinz reibt man sich bei einer solchen Liste doch etwas ungläubig die Augen. Den »Wortgarten« auf die Beine gestellt haben Lucy Fricke, Alexander Gumz und Jutta Büchter, die mit dem KOOK e.V. bereits Großveranstaltungen wie die seit 2011 jährlich stattfindende Hamburger Lese- und Musiknacht »HAM.LIT« oder die Berliner »Elektro.lit« organisiert haben. Ob ein Literatur- und Musikfest auf dem platten Land funktionieren würde, da waren auch sie sich nicht sicher. Sie ließen es auf einen Versuch ankommen, suchten sich mit dem Buchladen Fürstenwerder und dem Gut Bülowssiege lokale Kooperationspartner und fassten Pläne, um die Bevölkerung vor Ort für das Festival zu gewinnen.

Dies sollte auf verschiedenen Wegen gelingen. So veranstalteten Kirsten Fuchs und Jan-Peter Bremer Wochen vor dem Festival Schreibworkshops mit Jugendlichen einer Schule in der Region. Die dabei entstandenen Texte stellten die Jugendlichen auf dem Festival selbst vor. Auch die Einbindung von Künstlern vor Ort war ein Rezept, das bei der Ansprache der lokalen Bevölkerung helfen sollte. Mit Pauline de Bok und Ines Baumgartl lasen zwei Autorinnen, die in der Uckermark leben. Die in ihrem Genre weltweit erfolgreiche Akkordeonistin Cathrin Pfeifer, die ebenfalls in der Gegend lebt, schloss am Sonntag des Festival mit einem Konzert. Der wichtigste Anker aber waren die Eröffnung des Sommerfests der Literatur und Musik im Atelierhof der Holzbildhauerin Wiebke Steinmetz im Zentrum von Fürstenwerder sowie eine von Dirk Laucke inszenierte Performanz mit Menschen aus dem Dorf unter dem Titel Schatz, ich habe die verlorene Zeit gefunden! Vor allem diese öffentliche Nabelschau der echten Dorfhistorie lockte viele Ortsansässige zum Auftaktabend des Stelldicheins der Berliner und Hamburger Literaturszene.

Den eröffnete die Niederländerin Pauline de Bok, die seit vielen Jahren in der Region lebt. Sie las ihre bereits 1990 geschriebene Erzählung Wendezeiten in Fürstenwerder (hier nachzulesen), in der sie an die Geschichte der Bürgermeisterwahl im Nachwendejahr erinnerte. Der alte Bürgermeister Klaus-Dieter Durdi wird nicht noch einmal antreten, er war in der Partei, »hat aufs falsche Pferd gesetzt«, wie es bei de Bok heißt. Sie seziert in ihrer Erzählung die Scheinheiligkeiten und Bigotterien in diesem Dorf, in dem die nationalsozialistische und kommunistische Geschichte tiefe Wunden hinterlassen hat. Keiner in diesem Dorf, das hier als das »letzte Loch vor der Hölle« beschrieben wird, hat eine weiße Weste, jeder trägt eine Schuld mit sich herum, und die Frage steht im Raum, ob man so weitermachen kann oder alles ändern muss. De Bok lässt ein vollkommen anderes Bild dieses in sich selbst versunkenen Ortes entstehen, als wir es von Stanišić kennen, und dennoch schließt der Roman in einem lakonischen Ton, der direkt an Vor dem Fest anknüpfen lässt. »Sollen die Touristen aus dem Westen doch kommen, die Strohmatratzen liegen auf dem Dachboden bereit. […] Aber wenn es im gewohnten Trott vorangeht, ach, dann dösen sie hier in Fürstenwerder einfach weiter, wie in den vergangenen fünfundvierzig Jahren.«

In dem gewohnten Trott ging es aber nur eine Zeit lang weiter, bis die Berliner das Umland für sich entdeckt haben und in den vergangenen Jahren eine veritable Berliner Expat-Community in der Uckermark entstanden ist. Die Suche nach dem eigenen Hof in der Region ist seit Jahren eines der liebsten Hobbys des saturierten Hauptstadtbürgertums.

Stanišićs Erfolgsroman hat nun noch zu einem wachsenden Literaturtourismus geführt, der Nils Graf, dem einzigen Buchhändler in Fürstenwerder, immer mehr Kunden in den Laden spült. Sein Buchladen und Antiquariat, einen Steinwurf von des lokalen Heimatmuseums entfernt, ist inzwischen bis nach Berlin in aller Munde. Die Berliner Zeitung und RBB waren bei ihm im Laden, Max Moor kam bei seinen Brandenburg-Erkundungen Bauer sucht Kultur vorbei. Den Umgang mit Journalisten beherrscht Graf längst wie ein Medienprofi. Er ist einer der beiden Kooperationspartner vor Ort, ohne den der »Wortgarten« nicht vorstellbar wäre. Die Frage, ob seit Vor dem Fest das Interesse an Literatur in Fürstenwerder gestiegen sei, verneint er. Zwar habe die Wahrnehmbarkeit des kleinen Ortes nahe Prenzlau zugenommen, das Wissen um die literarische Verarbeitung der eigenen Geschichte habe aber nicht zu mehr Leselust geführt. Deshalb habe man selbstverständlich auch auf die Berliner Auswanderer und die Wochenendtouristen gesetzt, ohne sie sei so ein Festival im Umland nicht zu machen.

Wie Tilman Rammstedt inzwischen weiß, braucht es diverse Utensilien, um in diesem das Inland umgebenden Umland zu überleben. Bei seiner Lesung sang er das Hohelied auf das Umland, in dem es neben einem Fahrrad, einer Fahrradtasche, einer Multifunktionsjacke – auf die Karen Köhler in ihrer Lesung wiederum zurückkommen wird – wasserfesten Schuhen und Mückenspray manchmal auch einen Hut braucht. Es ist die sprühende Ironie, die Rammstedts Texte zu einem Feuerwerk des Sprachwitzes machen. Seine vielgelobten Romane Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters oder Der Kaiser von China sind ebenso komische wie tiefgründige Erkundungen der Gegenwart, die man oft nicht anders als mit Ironie begreiflich machen kann. Spektakuläre Töne schlug auch der aktuelle Preisträger des Leipziger Buchpreises Jan Wagner an, der immer wieder zeigt, dass Poesie nicht auf leisen Katzenfüßen daherkommen muss, sondern von überwältigender sprachlicher Kraft sein kann. Als der Wahlberliner aus seinen mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichneten Regentonnenvariationen las, brauchte man nur die Blicke über den Atelierhof schweifen lassen und meinte plötzlich zu sehen, wie sein Giersch zwischen den Pflastersteinen emporschießt und wie die durch den lauen Sommerabend flatternden Fledermäuse synkopengleich in die Leere stoßen, um nach den dunklen und süßen Maulbeeren zu schnappen.

Tilman-Rammstedt

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Tilman Rammstedt

Poetisch geht es in der Uckermark allemal zu, mythenüberladene Orte wie Ullis Garage aus Stanišićs Roman gibt es in dem Landstrich zuhauf. Selbst Fürstenwerder scheint noch voll damit, glaubt man den Geschichten, die der Dramatiker Dirk Laucke von Menschen aus Fürstenwerder am Freitagabend im Rahmen einer theatralischen Inszenierung vortragen ließ. Mit der örtlichen Bläserkapelle im Hintergrund erzählten sie etwa von einem Jugendklub in einem alten Hühnerstall, der in den sechziger Jahren ins Leben gerufen und nach der legendären Musiksendung Beat-Club der ARD benannt wurde. Von lauter Musik, gehaltvollen Alkoholika und auf den Tischen tanzenden NVA-Soldaten war die Rede; wenn Frank Witzel das wüsste, er würde sicher Verwendung finden, dachte man sich.

Schon am Freitagabend deutete sich im Herzen von Fürstenwerder an, dass dieses Festival weniger ein Schaulaufen als vielmehr ein wohlwollendes Treffen von Literaten und Lesern werden könnte. Über dem lauen Sommerabend hing nicht nur die Leichtigkeit des Wochenausklangs, sondern auch eine helle Vorfreude auf das, was da noch abseits des Großstadtlärms kommen mochte. Und während einige Autoren die letzten Sommerstrahlen nutzten, um noch einmal in einen der beiden angrenzenden Seen zu springen, ließen andere den Abend im Gespräch mit den Besuchern und einem Apfelwein aus der Region ausklingen.

Am Samstag ging es nach Stanišićs kurzweiliger Ortsbegehung (mehr dazu hier) auf Gut Bülowssiege weiter. Abwechslungsreich von der Kritikerin Verena Auffermann (die in der Gegend einen Zweitwohnsitz hat) sowie den beiden Verlegern Jörg Sundermeier vom Verbrecher-Verlag und Daniel Beskos vom gerade mit dem Zillmer-Verlegerpreis ausgezeichneten mairisch-Verlag anmoderiert, erwarteten die Besucher einige aufregende Lesungen. Auffallend viele Autoren nutzten die Gunst der Stunde unterm Apfelbaum und stellten noch unveröffentlichte Texte vor. Den Auftakt machte Bachmann- und Buchpreisträgerin Kathrin Schmidt, die zuletzt ihren Erzählungsband Finito. Schwamm drüber veröffentlichte. In ihrer neuen Erzählung steht eine tief unglückliche Gudrun Möller im Mittelpunkt, die lieber Krassula Klingbeil oder Sarah Rothblatt heißen würde, um ihre Durchschnittlichkeit wenigstens mit dem Namen abzuschütteln. Der aufgeräumte Ton, in dem Schmidt diese Geschichte entfaltete und immer tiefer in die seelischen Abgründe der Gudrun Möller hinabführte, erinnert an das nachpreußische Erzählen à la Christa Wolf.

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Saša Stanišić im Freundeskreis, mit Karen Köhler, Tilman Rammstedt, Finn-Ole Heinrich, Daniel Beskos.

Saša Stanišić trug nach seinem Spaziergang durch Fürstenfelde auf dem Gut neben einem Kapitel aus Vor dem Fest die Erzählung Die Unschuldssinfonie vor, die im kommenden Jahr in einem Storyband publiziert wird. Darin erzählt er aus der Ich-Perspektive von einer Begegnung mit einer »dreijährigen, miniatürlichen Elfride Jelinek«, die im Flieger neben dem Erzähler sitzt und ein perfides Spiel mit der Gutmütigkeit des Erzählers treibt. Auf die Mutter braucht dieser dabei nicht setzen, denn »bei einer Mutter, die die Brigitte liest, ist jegliche Belehrung umsonst.« Es sind Miniaturen wie diese, in denen Stanišić die ihn umgebende Wirklichkeit ironisch auf Papier bannt und direkt ins Herz seiner Leser zielt.

Karsten Krampitz wollte bei der Lesung aus seinem aktuellen Roman Wasserstand und Tauchtiefe – eine Anspielung auf die Tristesse der DDR, die sich in den Wasserstandsmeldungen und Tauchtiefenangeben nach den DDR-Nachrichten widerspiegelte – nicht gelingen, was ihm 2009 so wunderbar in Klagenfurt gelungen war; mit seinem schnoddrigen Ton seine lesenswerte Literatur glänzen lassen. Sein Auftritt blieb recht blass. Ihm folgte Jan Böttcher, der in der Uckermark nicht las, sondern sang. Der ehemalige Frontmann der Band Herr Nilsson gab mit der Zeile »Sie kommen auf uns zu, ganz leise die Klänge« dem beständigen Murmeln der Literatur an diesem Wochenende einen Soundtrack.

Anschließend galt es, sich zu entscheiden. Georg Klein und Kooksbooks-Verlegerin Daniela Seel lasen parallel, gleich im Anschluss daran eine ähnliche Zwangslage mit Ingo Schulze und Kirsten Fuchs. Der Autor entschied sich für Klein und Fuchs und hat es, in Unkenntnis der parallel vorgetragenen Texte auch nicht bereut. Georg Klein, der mit seinem Roman unserer Kindheit 2010 den Leipziger Buchpreis gewann und den Verena Auffermann als einen Autor vorstellte, vor dessen Texten man Angst haben muss, weil er einem mit romantischen Motiven das Gruseln lehrt (nachzulesen etwa in seinem jüngsten Roman Die Zukunft des Mars), las die wunderbar abgründige Kurzgeschichte Gewürzpflaumen à la Eveline, die in der Sammlung Tafelrunde. Schriftsteller kochen für Freunde erschienen ist. Kirsten Fuchs wiederum las aus ihrem glänzenden Roman Mädchenmeute, der im Frühjahr herausgekommen ist. Zuvor aber brachte sie noch eine Kurzgeschichte zu Gehör, in der sie zugab, froh zu sein, dass es sie »nicht in den Körper einer Kassiererin hineingeschicksalt« habe, denn diese – »piep, piep« – hätten nicht viel Freude im Leben – »piep, piep« – wenn es nicht Autorinnen wie Fuchs gebe – »piep, piep« – die es sich zur Aufgabe machten – »piep, piep« – die Monotonie des Kassiererinnenlebens aufzubrechen – »piep, piep« –, indem sie ihre Einkäufe inszenierten und »Gehirnfütterung am Arbeitsplatz« betrieben. Aufzufinden ist diese lachmuskelherausfordernde Erzählung in ihrem Band Eine Frau spürt sowas nicht, der 2011 erschienen ist. Im Nachhinein hat der Autor erfahren, dass Ingo Schulze bei seiner Lesung ebenfalls einen neuen Text gelesen hat; nun, man kann nicht alles haben.

Am nächsten Morgen hängt über der Festivalwiese leichte Katerstimmung. Am Abend zuvor hatten Masha Qrella & Band für literarische Klänge der anderen Art gesorgt, die Liedzeile »rescue pills don’t really help a lot when the nights get long« schießt beim Anblick der müden Leiber unweigerlich in den Kopf. Die Berliner Sängerin Marsha Qrella, vom Rolling Stone Magazin liebevoll als »Frau Zögerlich« bezeichnet, weil man auf ihre Alben recht lange warten muss, ist eine Ausnahmeerscheinung am deutschen Pophimmel. Sie war mit Calexico auf Tour, ihre Songs liefen in der Serie Grey’s Anatomy und sie wird schon mal mit Fleetwood Mac verglichen. Man kann davon halten, was man will, aber klar ist, dass sie sich auf anmutige Weise jeder hiesigen Pop-Zugehörigkeit entzieht – und irgendwie auch der Wirklichkeit, so geistesabwesend in sich gekehrt wirkte sie bei ihrem Auftritt am Samstagabend.

Geistesabwesend waren die übernächtigten Festivalbesucher am Sonntagmorgen nicht lange, denn während mit Finn-Ole Heinrich einer der erfolgreichsten und sympathischsten Kinderbuchautoren (Frerk, Du Zwerg!, Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmidt) die junge Zielgruppe unterhielt, las mit Katja Lange-Müller ein Schwergewicht der deutschen Literatur, die, wie Auffermann schmunzelnd anmerkte, eine leichte Affinität für Tiere hat. Das ist schon in ihrer zweiteiligen Erzählung Verfrühte Tierliebe angeklungen, für die sie den Alfred-Döblin-Preis erhielt, und auch in ihrem letzten Roman Böse Schafe lauerten die Tiere schon im Titel. Wer deshalb glaubt, Menschen interessierten die Berlinerin nicht, der täuscht sich. Denn auch der Mensch werde ja immer mehr oder, je nach Perspektive, immer weniger zum Tier, kommentierte Lange-Müller.

In der Uckermark las sie die ersten Seiten aus ihrem im Herbst 2016 erscheinenden Roman Drehtür. In dessen Zentrum steht die Krankenschwester Asta, die nach 22 Jahren Kriseneinsatz in aller Welt in die DDR zurückkehrt und, konfrontiert mit ihrer fast vergessenen Muttersprache, eine phänomenale Sensibilität für die Vieldeutigkeit der Worte entwickelt, die ihr in die Kopf purzeln. Zugleich sucht sie eine neue Zukunft. Zurück in Ost-Berlin, nach jahrzehntelanger Abstinenz macht sie sich auf die Suche nach einem Mann. Asta ist eine Frau in der Drehtür des Lebens. Wie viel Biografie Lange-Müller, die in jungen Jahren als Hilfspflegerin auf psychiatrischen Stationen ausgeholfen und 1984 Ostberlin in den Westen verlassen hat, um nach der Wende wieder in ihre alte Heimat zurückzukehren, in diesem Roman verarbeitet hat, ließ sie sich bei ihrer Lesung nicht anmerken. Aber es ist davon auszugehen, dass Drehtür viel Resonanz finden wird, denn die Suche der Kritik nach dem Biografischen im Schreiben ist geradezu manisch.

Ob es diese Manie war, die Annett Gröschner dazu veranlasste, ihre bissige Erzählung über die Männer im Prenzlauer Berg aus der Sicht einer sexsüchtigen Frau mit den Worten anzukündigen, dass die Ich-Erzählerin nicht sie selbst sei, ist nicht überliefert, aber zumindest mutmaßen darf man es. Von Gröschner erschien zuletzt das Reisetagebuch Mit der Linie 4 um die Welt, in dem sie ihre Notizen und gesammelten Anekdoten bei ihren Fahrten mit den besagten Linien in verschiedenen Städten weltweit versammelt hat. Reisegeschichten hielt auch der Lyriker Tom Schulz zum Besten, von dem zuletzt der Gedichtband Lichtveränderungen erschienen ist. Die vorgetragenen Anekdoten aus Brandenburg hatte er gemeinsam mit Björn Kuhligk gesammelt, als er gemeinsam mit ihm auf Theodor Fontanes Spuren das Brandenburger Land erkundete. Die in Wir sind jetzt hier gedruckten Situationsbeschreibungen aus Rheinsberg und Paaretz, die Schulz vortrug, sind die Protokolle der haargenauen Beobachtungen von Land und Leuten, und selbst in den bösesten Momenten ein wohlwollendes Gegenprogramm zu Moritz von Uslars von oben herab geschriebenem Pamphlet Deutschboden.

Annett Gröschner brachte auf dem Gut noch etwas zur Sprache, das bislang maximal als Nebel über der Veranstaltung hing. Es ging um den Ort, wo man zu Gast war. Das inzwischen rundum sanierte Gut ist seit 1997 wieder im Eigentum der Grafen von Schwerin. Es ist vor allem Künstlern oder kirchennahen Oppositionellen zu verdanken, dass Landgüter und Bauernhöfe zu DDR-Zeiten nicht verfallen sind. Künstler wie der mit Gröschner befreundete Fotograf Ulrich Wüst zogen sich meist in deren Abgeschiedenheit zurück und richteten ihre Ateliers darin ein. Wüst tat eben dies auf Gut Bülowssiege, dass er nach seinen Möglichkeiten bis 1997 vor dem Verfall bewahrte. Doch dann musste er es für die jetzigen Inhaber räumen, denen das Gehöft nach der Enteignung durch die Nationalsozialisten und der anhaltenden Enteignung unter den Kommunisten rückerstattet wurde. Man kennt diese Geschichten, und bei aller historischen Gerechtigkeit, die mit derlei Prozessen wiederherzustellen versucht wird, weiß man, dass so etwas nie reibungslos abläuft. Wüst hat den Hof nicht gern verlassen, Annett Gröschner war hier mit gemischten Gefühlen zu Gast. Dass sie es zur Sprache brachte, war nicht von literarischer Relevanz, hat aber elementar etwas mit der Erfahrung von DDR-Künstlern im Nachwendedeutschland zu tun.

Literarisch wurde es noch einmal mit Karen Köhler, die zum Abschluss ihre neue Erzählung Deklination las. Seit ihre Raketen am literarischen Himmel ein Dauerleuchten hervorgebracht haben, war sie gefühlt ununterbrochen auf Lesereise. Irgendwie fand sie dennoch Zeit, neben zwei Theaterstücken und einem Drehbuch (zu ihrer Erzählung Cowboy und Indianer) diese neue Story zu schreiben. Sie handelt von einem Paar, das aus dem hektischen Alltag ausbricht und in Lappland nach sich selbst sucht. »Ab hier sind wir Könige«, heißt es hoffnungsvoll zu Beginn, doch schon bald stellt sich heraus, dass nichts so läuft, wie geplant. Und so finden sich die beiden Selbstverlorenen in einer Welt wieder, in der »zu viel Draußen da draußen und zu wenig Drinnen hier drinnen« ist; in der die Wirklichkeit »instagramatisch« mit Filtern zur Sehnsuchtsprojektionsfläche verbogen wird, ohne dass aus ihr etwas hervorgehen will. Dekliniert werden hier die Mechanismen des Paarseins, die die Liebe dem Abgrund entgegentreiben und so schrecklich einfach funktionieren. Was aus dieser Geschichte wird, ist noch unklar, vielleicht ist sie der Ausgangspunkt des großen Romans, den nun alle von der sympathischen Hamburgerin erwarten. Vielleicht aber auch nicht.

Das überaus gelungene »Wortgarten«-Festival könnte der Ausgangspunkt für eine Veranstaltungsreihe sein, in der die Literatur- und Kunstszene das Berliner Umland erobert oder aber für ein zweites Festival in dieser Region, das im Wechsel mit dem bereits etablierten UM-Festival für zeitgenössische Kunst, Musik und Literatur stattfinden könnte, das die Freunde der Uckermark e.V. alle zwei Jahre rund um Pinnow organisieren. Allem Anfang wohnt ein Zauber inne, heißt es bei Hermann Hesse, dieser Zauber lag auch über diesem Wochenende. Er hat für die geradezu intime Atmosphäre gesorgt, in der sich Literaturszene und Publikum begegneten. Künstler, Verleger und Besucher des »Wortgartens« feierten abseits des Großstadtlärms ein Familienfest im Grünen, das geprägt war von sonniger Leichtigkeit und stiller Landromantik. Gemeinsam lagen Lesende und Zuhörer barfuß auf der Wiese, verfolgten gemeinsam die Lesungen und kamen miteinander ins Gespräch. Mit der Literatur verhielt es sich an diesem warmen Wochenende wie mit dem von Jan Wagner besungenen Giersch. Sie schäumte, kroch und spross gierig solange in die Höhe und Breite, bis sie sich im Wortgarten über- und ineinanderschob und einen klingenden Dschungel der Literatur schuf. Und manchmal, wenn die Sonne zu lange ihre Kraft durch die Äste der schattenspendenden Obstbäume zwang, schoben sich die Kassiber dieses Wort-Giersch-Gartens verlockend in die Senken, hin zu den Seen, von denen es in der Feldberger Seenlandschaft unzählige gibt.

Sowohl Besucher als auch Veranstalter zeigten sich sichtlich zufrieden mit dem Verlauf des Wochenendes, an dem auch das Wetter in die Karten spielte. Fürstenwerders Buchhändler Nils Graf war ebenfalls zufrieden, die Veranstaltung habe »im Zusammenhang mit der gesamten regionalen Entwicklung den richtigen Nerv getroffen«, sagte er mit Blick auf die Mischung aus Ortsansässigen und Angereisten unter den Festivalgästen. Am Ende kann man sich nur wünschen, der »Wortgarten« möge eine zweite Auflage finden. Es wäre die Fortsetzung eines Sommernachtsraums.

8 Kommentare

  1. […] Wegschauer und Opportunisten, zu denen in seinen Augen Louis Aragon, Bert Brecht, Egon Bahr oder Christa Wolf gehören. »Dissidentisches Denken« heißt bei ihm machtkritisch zu sein und die großen […]

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