»Irgendwann einmal wird man wissen, warum in unserem Jahrhundert soviel große Künstler so viele unlesbare Werke geschrieben haben. Und warum diese unlesbaren und ungelesenen Bücher wunderbarerweise dennoch Einfluß auf das Jahrhundert ausübten und berühmt sind«, notierte Witold Gombrowicz in seinem Tagebuch nach der Lektüre von Franz Kafkas Roman »Der Prozess«.
Im Kafka-Jahr 2024 stehen nicht nur zahlreiche von Kafkas Werken vor einer Neuauflage, sondern es erscheinen auch diverse Sachbücher, die sich mit dem Schaffen und (Nach)Wirken des weltbekannten Autors auseinandersetzen. So geht der Philosoph Rüdiger Safranski in seiner Werkkunde »Kafka – Um sein Leben schreiben« davon aus, dass der berühmteste Sohn Prags um seine Existenz schrieb. Nicht anders sei dessen legendär gewordener Satz »Ich habe kein litterarisches Interesse, sondern bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein« zu verstehen, den Franz Kafka an seine Verlobte Felice Bauer schrieb.
Der mit dem Ludwig-Börne-Preis und dem Deutschen Nationalpreis ausgezeichnete Biograf von E.T.A. Hoffmann, Arthur Schopenhauer, Martin Heidegger, Friedrich Nietzsche, Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe beobachtet in seinem neuen Buch Franz Kafka beim Schreiben, um den Geheimnissen seiner Texte näher zu kommen. In dessen Briefen liest er von den Augenblicken des Glücks, die Kafka am Schreibtisch erlebt, und von Momenten, in denen ihm die Welt vollkommen fremd erscheint. Verstehe man Kafkas Bücher als Zeugnisse solcher Grenzerfahrungen, würden ihre Geheimnisse eine ganz unmittelbare Kraft entfalten, heißt es in der Ankündigung.
Rüdiger Safranski: Kafka. Um sein Leben schreiben. Hanser Verlag 2024. 256 Seiten. 26,- Euro. Hier bestellen. | Andreas Kilcher: Kafkas Werkstatt. Verlag C.H.Beck 2024. 256 Seiten. 26,- Euro. Hier bestellen.
Auch Andreas Kilcher sieht Kafka bei der Arbeit zu. In seinem Buch »Kafkas Werkstatt. Der Schriftsteller bei der Arbeit« fragt er sich, wie man sich den Autor dieser rätselhaften Texte am Schreibtisch vorstellen muss. »Keinesfalls als weltabgewandten Autor, der in einsamen Nächten chiffrierte Traumbotschaften niederschrieb«, lässt die Ankündigung verlauten. Stattdessen müsse man sich Kafka als schreibenden Leser vorstellen, der intensiv an den großen Gesprächen der Moderne teilnahm und so Wissen zu Psychoanalyse, Marxismus, Zionismus oder Okkultismus sammelte.
»Was er las, ist teils sichtbar, teils unsichtbar in seine Texte verwoben. Sie thematisieren das Unbewusste ebenso wie die marxistische Ware, die jüdische Diaspora und das Gespenst des Okkultismus«, so Kilcher. Kafkas Texte hätten nicht eine zentrale Botschaft, sondern müssten »in ihrer Vielgestaltigkeit wahrgenommen werden«, wie der Herausgeber von Franz Kafkas Zeichnungen anhand der zentralen Texte vorführt.
Kafkas Lektüren und Schreibprozesse, seine Grenzerfahrungen und Traumatisierungen hat der 1951 geborene Germanist, Philologe und Mathematiker Reiner Stach fast zwei Jahrzehnte lang erforscht. Stach ist der deutsche Kafka-Experte überhaupt. Ab Mitte der 1990er bis in die 2010er Jahre schrieb er seine dreibändige Biografie über Franz Kafka, die nicht nur mehrfach ausgezeichnet, sondern international als Standardwerk anerkannt ist.
Indem Stach darin »Die frühen Jahre«, »Die Jahre der Erkenntnis« und »Die Jahre der Entscheidungen« nachzeichnet, legt er ein erzählerisch dichtes und farbiges Zeit- und Sittenbild sowie eine einfühlsame Studie über den außergewöhnlichen Künstler vor. Zum Kafka-Jahr legte der S. Fischer Verlag die dreibändige Taschenbuchausgabe erstmals im Schuber auf.
Der französische Intellektuelle Geoffroy de Lagasnerie nähert sich aus soziologischer Perspektive Romanen wie »Der Process«, »Das Urteil« oder »In der Strafkolonie« und rät von einer leichtgläubigen Lektüre ab. »Kafka misstrauen« lautet sein Appell, um den mächtigen Bildern für die Willkür eines anonymen und rätselhaften Staatsapparats zu begegnen. Lagasnerie ist Professor für Philosophie und Soziologie an der École nationale supérieure d’arts in Paris, gemeinsam mit Didier Éribon und Édouard Louis folgt er der kultursoziologischen Denkschule von Pierre Bourdieu. Zuletzt erschien seine Hommage an diese besondere Freundschaft »3 – Ein Leben außerhalb«. Hier nun greift er Kafkas Bilder auf und fragt, ob uns dessen Erzählungen beim Verständnis von Macht, Justizapparat und Urteil helfen? Der Franzose beleuchtet Kafkas Texte innerhalb der philosophischen Diskussion der letzten Jahre und entwickelt eine eigene Position, die neben der literarischen Perspektive auch Parallelen zu heutiger Polizeigewalt und Willkür herstellt.
Der Jurist und Arbeitsrechtler Ulrich Fischer wendet sich Kafka aus ungewöhnlicher Perspektive zu. In »Asbest – Franz Kafka als Unternehmer« blickt er auf dessen weithin unbekannte Tätigkeit als geschäftsführender Gesellschafter des Familienunternehmens »Prager Asbestwerke Hermann & Co.«. Finanziell vom Vater ausgestattet, gründete er 1911 zusammen mit seinem Schwager Karl Hermann eine Asbest- und Gummifabrik zur Herstellung von Dichtungen für die aufblühende Automobil- und Flugzeugindustrie. Doch statt mit dem Markt zu wachsen, scheiterte das Unterfangen. Kafka habe schnell erkannt, »dass ihn die Unternehmertätigkeit an die Grenze seiner Überlebensfähigkeit bringen würde«. Fischer erweitert das Kafka-Bild, indem er zeigt, wie den Schriftsteller die Verantwortung als Unternehmer zunehmend belastete.
Gleich 54 Studien, die der Literaturprofessor Hartmut Binder über Leben und Werk von Franz Kafka publiziert hat, versammelt der von Roland Reuß und Peter Staengle herausgegebene Band »Auf Kafkas Spuren – Gesammelte Studien zu Leben und Werk«. Seit mehr als 50 Jahren beschäftigt sich Hartmut Binder mit Kafka, von dem Bestreben geprägt, dem Prager Autor durch Untersuchungen seiner Lebensumstände, aber auch durch Textanalysen auf die Spur zu kommen. Zahlreiche Farbabbildungen geben zudem einen Einblick in Leben und Zeit Kafkas. Die in diesem Band erstmals versammelten, zwischen 1967 und 2020 verstreut publizierten Studien sind für den Neudruck kritisch durchgesehen, Zitate und Anmerkungen sowie das Korpus der Abbildungen aktualisiert worden.
Sebastian Guggolz (Hrsg.): Kafka gelesen. S. Fischer Verlag 2024. 272 Seiten. 24,- Euro. Hier bestellen. | Neue Rundschau 2024/1 – Kafka. S. Fischer Verlag 2024. 192 Seiten. 17,- Euro. Hier bestellen.
Kafka fasziniert und inspiriert Denkende und Schreibende weltweit. Unter dem Motto »Kafka gelesen« hat der Berliner Verleger Sebastian Guggolz daher 27 deutschsprachige und internationale Autor:innen, bildende Künstler:innen, Denker:innen und Lyriker:innen eingeladen, aufzuschreiben, was in ihren Augen das Überzeitliche, das dringend Aktuelle dieses jüdischen, deutschen Jahrhundertschriftstellers aus Prag ausmacht. Auch wenn die Welt, in der Franz Kafka vor 100 Jahren starb, eine andere war, haben seine Romane, Parabeln, Tagebücher und Briefe bis heute nichts von ihrer originellen oder verstörenden, berührenden und immer auch tröstlichen Wirkung eingebüßt. »Dass seine Werke, sein Leben und sein Blick auf die Welt gerade in dieser Gegenwart, in der wir leben, eine Menge über uns selbst erzählen und dass Franz Kafka für heute Schreibende ungebrochen ein Fixpunkt der Moderne ist«, machen Marcel Beyer, Jan Peter Bremer, Jan Faktor, Jon Fosse, Karl-Markus Gauß, Patricia Görg, Dana Grigorcea, A. L. Kennedy, Esther Kinsky, Marie Luise Knott, Michael Kumpfmüller, Isabelle Lehn, Thomas Lehr, Michael Lentz, Katerina Poladjan, Jaroslav Rudiš, Sasha Marianna Salzmann, Clemens J. Setz, Sjón, Thomas Stangl, Maria Stepanova, Ulf Stolterfoht, Christian Thanhäuser, Adam Thirlwell, Joseph Vogl, Gisela von Wysocki und Ulf Erdmann Ziegler in diesem Band deutlich. Vertieft werden diese Perspektiven durch die Frühjahrsausgabe der »Neuen Rundschau 1/24«, die ganz Franz Kafka gewidmet ist. Auch 100 Jahre nach seinem Tod sei noch lange nicht alles über ihn gesagt, die Neue Rundschau gibt auch Randgebieten und Nebensträngen seiner Rezeption Raum und bietet verblüffende Einsichten.
Thomas Lehr, von dem zuletzt »Manfred – Bekenntnisse eines Außerirdischen« und der große Jahrhundertroman »Schlafende Sonne« erschienen sind, hat auch einen eigenen Kafka-Band verfasst, in dem er in Miniaturen Kafkas Spektrum superber Alpträume und humorvoll-grotesker Visionen ergänzt und erweitert. In dem titelgebenden Text schreibt er, dass man sich besser nicht wünschen solle, »Kafkas Schere« zu finden und zu öffnen. Denn »öffnest du sie, wirst du dir wünschen, es wäre dir nicht gelungen und du könntest sie dir wieder aus dem Herzen reißen wie einen Dolch. …Aber es ist zu spät. Du wirst sie nicht mehr loslassen und ihre schnappende, wie atmende Bewegung nicht mehr aufhalten können. Von nun an ist dies dein Leben: ein Schneiden der Sprache in der Welt.« Vom grimmigen Regime im Turm zu Babel bis zum Post-Orwell’schen Überwachungsstaat sei der Weg nicht weit in diesen auf äußerste Knappheit gebrachten sprachlichen Vexierbildern, die wie Rufe aus dem 21. Jahrhundert den Geist Kafkas in sich tragen.
Der Philosoph Marcus Steinweg und die Literaturwissenschaftlerin Sonja Dierks haben für die Reihe »Fröhliche Wissenschaft« bei Matthes & Seitz Berlin »Kafka« gegen den Strich gelesen. Dafür hätten sie sich in ein »Gewebe aus Löchern« begeben. So bezeichnen sie sein Werk, das nur in Bruchstücken vorliege, weil sein Autor die Manuskripte verschleuderte. So weist das berühmte Romanfragment »Der Process« keine gesicherte Anordnung der Kapitel auf, auch die Romane »Der Verschollene« und »Das Schloss« liegen nur fragmentarisch vor. Und dennoch erzeugen sie beim Lesen eine Atmosphäre, in der die Grenze zwischen realer Bedrohung und Paranoia verschwimmt. »Wenn für Kafka das eigene Schreiben die Matrix war, zu der die Realität in ein Verhältnis der Kongruenz gebracht werden sollte – und wenn nicht, wurde das Geschriebene sofort oder später auf seinen Wunsch hin zerstört –, hat er in sie so viele Löcher gebohrt, bis es keinen Durchschlupf mehr gab«, heißt es in der Ankündigung des Bandes.
Nicht Durch- aber Einsicht bieten die etwa einhundert, zum Teil erstmals veröffentlichten Fotografien der Familie Kafka, die der von Hans-Gerd Koch zusammengestellte Bildband »Kafkas Familie. Ein Fotoalbum« versammelt. Sie zeigen einen Autor der Weltliteratur und seine Verwandtschaft, erzählen von jüdischer Emanzipation zwischen Habsburger Monarchie und erster tschechoslowakischer Republik. Weil Kafka die meiste Zeit seines Lebens bei seiner Familie gewohnt hat, sind viele Aufnahmen in dem Kontext entstanden. »Die von den Nachkommen der Schwestern aufbewahrten Fotos dokumentieren nicht nur das Familienleben, sondern erzählen auch vom sozialen Aufstieg einer jüdischen Familie aus einfachen ländlichen Verhältnissen zum Prager Bürgertum«, kündigt der Wagenbach-Verlag an. Dort erschien bereits vor Jahren der ebenfalls von Koch verantwortete SALTO-Band »Kafka in Berlin«, der eine Art Traumreise Kafkas in das goldene Berlin der zwanziger Jahre darstellt und ebenfalls mit Bildern angereichert ist. Wer sehen will, wie sich Kafka in der Welt verortet hat und wie seine Texte im »großen Lärm« der Familie entstehen konnten, findet hier Antworten.
Last but not least sei der bereits vor Jahren überarbeitete Klassiker »Kafka geht ins Kino« von Hanns Zischler empfohlen. Franz Kafka war ein leidenschaftlicher Kinogänger – das scheint in seinen Tagebüchern immer wieder durch. Vieles in seinen Romanen und Erzählungen deutet darauf hin, dass Kafka sich durch das neue Medium inspiriert fühlte, eine ähnliche Erzählweise in der Literatur auszuprobieren. Hanns Zischler ging über Jahrzehnte in Kafkas Texten der Frage nach, welche Kinos dieser wohl besuchte, welche Filme, Szenen und Schauspieler ihn nachhaltig beschäftigten. Er sammelte Fotos, Programmzettel, Plakate, durchblätterte in Bibliotheken die damalige Tagespresse nach Filmkritiken und -titeln, er stöberte in Archiven nach den alten, längst vergessenen Filmrollen. Herausgekommen ist ein fundamentaler Baustein der Kafka-Forschung und ein magischer Streifzug durch das frühe Kino mit seinen Stummfilmen und fantasievoll-dramatischen Sprechern. Als das Buch vor 20 Jahren erschien, sorgte es für großes Aufsehen – niemand hatte je zuvor darüber nachgedacht, dass der Intellektuelle Kafka den zu seiner Zeit so gering geschätzten »Kintop« so sehr liebte.
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